Eben sind wir noch Junge Kosmonauten, Junge Biologen, Junge Naturforscher oder Junge Forscher von morgen gewesen, Junge Angler, Junge Soldaten, Junge Kakteen- und Sukkulentenzüchter, Junge Ornithologen und Junge Sportschützen, Junge Sanitäter, Junge Fotografen und Junge Förster. Wir haben in der AG Nadelarbeit, AG Instandhaltung oder AG Kochen, Backen und Servieren für den Ernst des Lebens geübt. Der war schon zum Schulanfang angekündigt worden, wider Erwarten aber bislang nicht eingetreten. In der achten Klasse, so heißt es, beginnt er wirklich: Wer jetzt in Ordnung Fleiß Betragen Gesamtverhalten gute Noten vorzuweisen hat, darf an die Penne. Dort kann er weiter davon träumen, Kosmonaut oder Naturforscher zu werden. Für uns andere – so wird langsam klar – führt der Weg wohl nach Pumpe statt Baikonur.

Erst einmal aber führt er in die Jugendmode. Denn nun werden wir in die Reihen der Erwachsenen, wie es heißt, aufgenommen. Wir brauchen Kleider und Anzüge. Samt eines Termins bei der »PGH Figaro« – die erste Kaltwelle. Sie macht uns Mädchen zumindest äußerlich zu echten Hoyerswerdschen Frauen und wird unsere Köpfe über Jahre hinaus beim kleinsten Regen in aufgeplatzte Sofakissen verwandeln. In der Schule dürfen wir jetzt Ordnungsschüler sein und mit strengem Blick auf dem Schulhof wachen. Aber wer will schon für Ordnung Sicherheit Disziplin sorgen, wenn er hinter der Mehrzweckbaracke, die mangels Unterrichtsräumen auf dem Schulhof errichtet worden war, roochen oder knutschen kann?

Mit unseren neuen Hackenschuhen und frischer Kaltwelle stolpern wir auf die Bühne einer Aula im WK IX. Wir bringen das Jugendweihe-Gelöbnis hinter uns, bekommen Weltall Erde Mensch in Form eines Buches in die Hand gedrückt und sind – schwuppdiwupp – in die Reihen der Erwachsenen aufgenommen. Wie beim Schulanfang sind sämtliche Familien – sonntäglich angescheuselt – zusammengekommen. Weil sich eh alle kennen, hat die Klasse einen Saal für die Feier gemietet. Der erste Ringelpiez mit Anfassen, bei dem wir nicht rausgeschickt, sondern zum Mitmachen aufgefordert werden. »Bis früh um fünfe kleine Maus«, Polonaise, »Reise nach Jerusalem« und Luftballontanz, den Nakonzens gewinnen werden.

Wir Kinder, die wir ab heute keine mehr sind, haben uns in einem kleinen Raum hinter der Bar versammelt. Es ist uns unheimlich, auf einmal mit den Erwachsenen an einem Tisch zu feiern. Bis jetzt haben wir immer am Katzentisch gesessen. Nun sind wir in den getrennten Welten, die wie WKs unser Leben ordnen, eins aufgerückt – und wollen doch lieber noch im Zwischenraum bleiben. Hier, zwischen Getränkekisten und Biergläsern, die uns heute großzügig gefüllt werden, zieht jemand ein bac-Deo aus der Tasche. Geschenk vom Westbesuch. Alle wollen ooch ma, bis die Luft komplett zugedieselt ist. Die Reihen der Erwachsenen duften verheißungsvoll, fremd und ein bisschen muffig.

Jeden Abend treffen wir uns nun in den kleinen Parks vor den Kaufhallen, die aus wenig mehr als ein paar Büschen bestehen. Nur an den steinernen Skulpturen, die zu jedem von ihnen gehören, kann man sie auseinanderhalten. Jede Clique eine Bank. Die Reviere fein säuberlich aufgeteilt. Weil man nun erwachsen ist, begrüßt man sich mit Handschlag. Am nächsten Morgen wird man sich auf dem Schulhof erneut mit stummem Ernst die Hände schütteln, reihum fünfunddreißig Mal. Das gehört zum Erwachsen-Sein wie die Zig’retten, an denen wir hustend saugen, und die Tatsache, dass der Platz auf der Lehne der Bank den Coolen mit den Westjeans vorbehalten ist. Nur einmal in der Woche bleiben die Bänke für einen Abend leer. Dann ist Teenie-Disco im »Kosmos«. Und irgendwann denken wir bei dem Wort nicht mehr daran, dass wir eigentlich zum Mond fliegen wollten, sondern an eine Gaststätte mit Clubsesseln vor weiß gedeckten Sprelacart-Tischen und an Eugen, den Schallplattenunterhalter.

Die Reihen der Erwachsenen sind die Schlangen vor dem »Kosmos«, in denen wir Dienstag für Dienstag geduldig warten. Es sind die Mädchenreihe und die Jungsreihe, die sich in der Tanzschule Schulze vor dem nächsten Tango – Schritt, Schritt, Wiegeschritt! – gegenübersitzen. Es sind die Marschreihen des 1. Mai, die Wäschereihen zwischen unseren Häusern und die Reihen der Planquadrate auf dem Zeltplatz am Knappensee. Es sind die Schlangen, in denen sich unsere Mütter einreihen, wenn es Bananen in der Koofi gibt. Es sind die Reihen der Aktentaschen frühmorgens an den Haltestellen der Schichtbusse. Und es sind die Reihen derer, die klatschen werden, als David und die anderen Jungs aus Mosambik die Stadt verlassen müssen.

Jetzt aber haben wir es gerade geschafft, in den »Kosmos« zu gelangen. Eugen spielt »Yes Sir, I Can Boogie«, und wir tanzen. Den ersten eins zwei tipp unseres Lebens.