Jeden Abend öffnet sich Fenster für Fenster im Karree, und es schallt über den Platz: Tooorsten! Wir heißen alle Torsten. Oder Thomas. Wir heißen Steffen, Maik, Jens, Uwe oder Andreas. Conny, Ute, Claudia, Petra, Sabine, Andrea, Katrin oder Grit. Niemand hat seinen Namen nur für sich. Hier wird alles geteilt. Wenn jemand anders heeßt, ist er höchstwahrscheinlich keener von uns. So wie Tatjana im Nachbarhaus, deren Eltern aus dem Westen nach Hoy gekommen sind. Jeder hier kennt Westkinder mit komischen Namen. Dass es in Hoy so viele davon gibt, finden wir logisch: Im Westen ist schließlich Kapitalismus. Und warum sollte man nicht nach Hoy kommen? Unsere Eltern hatten es ja auch nicht anders gemacht. Wenn jemand schon unbedingt in die DDR wollte: Mehr davon als bei uns gibt es woanders nicht …
Später wird es uns merkwürdig erscheinen, wenn Berliner behaupten, sie hätten in der DDR gelebt. Das wissen wir nun wirklich besser. In Berlin konnten die Menschen Maria, Charlotte, Leander oder Jacob heißen. Wer Alexander hieß oder Jan Josef, Bernadette, Saskia oder Carolin, würde Kunst oder Schauspiel oder Film studieren. Wenn man Torsten hieß wie wir, war klar, dass man eines Tages den Bus nach Pumpe besteigen würde.
RöhliDa willst du nie hin, nach Pumpe! Das hat gestunken. Die Schichtbusse, du hast das ganze Elend ja gesehen. War keen Traumberuf für mich, Brikettierer. Am ersten Tag in Pumpe war das so’n schlimmer Moment. Doch dort gelandet zu sein. Aber wie wolltest’n du aus dieser Welt ausbrechen? Du kanntest keene andre Stadt. Du kanntest keene andren Möglichkeiten. Kultur, Theater – das waren andre Schichten, die das gemacht ham. Die ham andre Gene!
SchudiIch wollte immer Lokführer werden, aber das ging nich. Dann war Berufsberatung inner Schule: Beruf mit Abi, es gab ’ne Zuweisung – da wurde nich groß gefragt.
RottlFernfahrer wollte ich werden, ich wollte immer wegfahren. Durfte ich ni, wegen der Brille. Na ja – Schwarze Pumpe. Maschinist für Wärmekraftanlagen, schöner Klassiker.
UweIch wollte immer was mit Kultur arbeiten, aber man musste ja eine Lehre machen. Ich dachte, Elektriker wäre gut, kann man im Klubhaus gebrauchen. Aber beim BKK Glückauf haben die sich wahrscheinlich gesagt: »Wir nehmen den mal in die Maschinistenklasse, damit wir da wenigstens eenen mit ’nem Durchschnitt unter vier haben.« Und das war natürlich ’ne Kiki-Lehre. Im Unterricht hab ich nich zugehört, sondern immer irgendwelche Bücher gelesen. War aber ooch’ne interessante Zeit: in den Tagebau runter, auf’n Bagger.
YvonneElektriker. Wenn es möglich gewesen wäre, hätte ich die Lehre abgebrochen. Ging ja nich. Aber ich hatte ganz viel Narrenfreiheit, konnte machen, was ich wollte. Meistens hab ich gelesen. 5.40 Uhr ging der Bus. Und weil ich den nie gekriegt hab, standen immer schon alle auf dem Schulhof und haben gewartet, ob ich’s noch schaffe. Irgendwie hab ich’s immer hingekriegt: mit’m Zug, mit der Polizei, einmal mit so’ner Draisine und einmal sogar mit’m Leichenwagen.
HausiIch wollte eigentlich zur See fahren. Da hatte ich ’ne Ablehnung gekriegt. Und mein Vater kam ja ausm Tagebau, da bin ich also ooch dahin, als Schlosser. 3.30 Uhr offgestanden, 4.30 Uhr fuhr der Zug. In Ruhland raus, da war’s kurz nach fünf. Dann mussten’wa off’n Marktplatz loofen, und dort ham’wa ’ne Stunde gewartet, bis die Schichtbusse kamen, in’ Tagebau. Totaler Mist. Im Winter, weeßte. Aber was willste machen?
GabiIch wäre gerne Porzellanmalerin geworden, hab immer viel gemalt. Ich war ooch im Zeichenzirkel, da war der Zirkelleiter so’ne verkappte Künstlerexistenz aus Dresden. Der hat uns immer Storys erzählt, wie’s an der Kunsthochschule drunter und drüber ging. Übelste Partys, alles sehr freizügig – oh! Künstlerleben! Aber es wurden nur alle zwei Jahre Lehrlinge dafür angenommen und in meinem Jahr halt nich. Forstwirtschaft hat sich dann ergeben, weil ich tatsächlich so’ne Naturverbundenheit hatte. Aber ich hatte sehr romantische Vorstellungen: Also, ich laufe mit Gewehr und Dackel durch’n Wald. So wurde es nicht. Aber ich hab’s nicht bereut, dass ich ’ne Lehre gemacht habe. Das ist mir immer noch wichtig: dass man sein Werkzeug pflegt und es so wegräumt, dass man es am nächsten Tag gleich benutzen kann. Dass man den Arbeitsplatz so verlässt, dass der Nächste ihn übernehmen kann. Eben eine bestimmte Arbeitshaltung und die handwerkliche Basis.
MauraGroßartig Auswahl hatt’ich nich mit meinem Zeugnis. Die ham mich da im Betonwerk genommen, und im Nachhinein isses ooch okay so. Obwohl ich damals nie gedacht oder gesagt hätte, ich möchte Maurer werden. Ich hatte irgendwie garnüscht gedacht.
4.50 Uhr rollt die erste Welle nach Pumpe aus der Stadt. Der Rhythmus der Schichtbusse ist ihr Puls. Wir kennen ihn noch aus der Zeit, als wir im Bummi-Bus zum Kindergarten gefahren sind. Bummi hieß der Teddy, nach dem unsere Kinderzeitschrift benannt war. In jeder Ausgabe unternahm er neue, spannende Reisen: nach Afrika, an den Nordpol oder ins ferne Berlin, wo es einen Fernsehturm geben sollte. Der Bummi-Bus aber fuhr ins WK I oder VIII. In ihm saßen jene Glücklichen unter uns Kindern, deren Kindergärten weiter als ein Steinwurf von der eigenen Haustür entfernt waren. Stolz liefen wir im Morgengrauen an den Händen unserer Mütter zur Haltestelle der Arbeiterbusse. In der Kolonne der Schichtbusse, die weiterrollten nach Pumpe, fühlten wir uns als wichtiger Teil des Ganzen: ein Schichtarbeiter mit Brottasche um den Hals.
Erst als wir selbst nach Pumpe fahren, stellen wir fest, dass der Bummi-Bus kein echter Schichtbus war, denn in ihm hatte jeder einen Sitzplatz. Im Schichtbus hingegen bekommen Sitzplätze nur jene, die im Morgengrauen an der Haltstelle ihre Aktentasche abgestellt oder einen Schlüsselbund hingelegt haben und dann nochmal heeme gemacht sind. Jeden Morgen die gleichen Aktentaschen an der gleichen Stelle, auch der Busfahrer wird der gleiche sein. Er wird fünf Minuten warten, wenn ein Stamm-Fahrgast fehlt. Wer nicht zu den Glücklichen mit Sitzplatz gehört, muss die zwanzig Minuten bis Pumpe im Mittelgang stehen. Wichtig: den Blick in Fahrtrichtung! Indem alle, ohne Ausnahme, strikt hintereinander, Brust an Rücken stehen, lässt sich die Kapazität eines Busses beträchtlich erhöhen. Der echte Pumpsche verfügt über die Fähigkeit, ein angeregtes Gespräch mit einem Hinterkopf zu führen.
Im Schichtbus lernt er auch, im Stehen und überhaupt in jeder Lebenslage zu schlafen. Dies geschieht, indem sich der Kopf wie bei einem Knickmechanismus nach vorn auf die Brust senkt. Kein Sich-an-den-Nachbarn-Lehnen, kein Hals-Verrenken, kein gefährliches Sich-Fallenlassen. Diese kontrollierte Art von Schlaf kann in Sekundenschnelle begonnen und beendet werden und ist an jedem Arbeitsplatz und Ort dieser Welt anwendbar.
Wir aber fahren nicht in die Welt, sondern nach Pumpe, in einen Tagebau, eine Werkstatt oder auf eine Baustelle. Die, die ihr Leben damit verbringen, heißen bei uns: Schichtbrote. Ehe wir es uns versehen haben, sind wir selber welche.