Hinter dem Marktplatz in der Altstadt residiert in einem alten Bürgerhaus Foto Kahrig. Einmal im Jahr, wenn man neue Passbilder braucht, muss man sich in die Schlange einreihen. Sie windet sich durch das enge Treppenhaus bis nach unten in den Durchgang. Dort sind hinter Glasscheiben die Hochzeitsfotos der letzten Wochen zu besichtigen. Der Schaukasten von Foto Kahrig ist eine der Stationen im ewigen Kreislauf unserer Stadt. Je älter man wird, desto besser kennt man die Gesichter hinter den Scheiben. Erst die ganz Großen, die man von ganz fern auf den Schulhof sah und für uralt hielt. Dann die Großen, deren Namen man schon kannte und von denen beachtet zu werden man hoffte. Irgendwann blickt man in die Gesichter seiner Klassenkameraden: die Haare ordentlich frisiert, die Mädchen in Weiß, die Jungs in Anzügen aus dem CENTRUM-Warenhaus, die sie sicher am liebsten gleich wieder ausgezogen hätten. Reingeborgt.

Als Kinder hatten wir alle auf den bronzenen Ziegen im Tierpark posiert. Die Fotoalben unserer Stadt sind voll davon, jährlich ein Ziegenfoto. Darauf hatten wir gelacht. Auf den Hochzeitsfotos lacht keiner mehr. Hier, in dem schmalen Durchgang von Foto Kahrig, ist für jeden von uns der Platz auf einem vorgesehen. Und jedes Mal aufs Neue werden sich Kinder, von denen es Ziegenfotos gibt, an der Scheibe die Nasen platt drücken. Und sie werden wissen, dass auch sie bald dort zu sehen sein werden.

Erwachsensein heißt, verheiratet zu sein. Nur Verheiratete bekommen eine Wohnung. In gleicher Geschwindigkeit wie WK um WK entsteht, wird um uns herum geheiratet. Ausschweifende Polterabende und Hochzeiten werden gefeiert, bevor Paar um Paar von der Bildfläche verschwindet. Wir wissen, dass man von da ab nicht mehr auf die Dörfer fahren oder zur Disco gehen, sondern sich gesittet zum Tanz für junge Eheleute begeben wird. Man wird mit den anderen Paaren an weiß gedeckten Tischen sitzen. Darauf wird nicht, wie beim Dorfbums, nach fünf Minuten das erste Bier verschüttet sein und nach einer Stunde jemand schlafen. Mit Glück wird der vor Jahren bestellte Trabbi bald geliefert, die Garage hat man schon. Vielleicht wird man im Exquisit einen Lurex-Pullover und bei der »PGH Figaro« einen Friseurtermin ergattern. Auch das wäre als Glück zu betrachten.

RottlSo spaßlos kann’s doch ni zugehn auf der Welt, das geht doch ni! Wenn alles so komisch gleichgeschaltet is … Man hat das als einengend empfunden. Und dann nimmt man alles wahr, wo’s anders zugeht. Das findet sich dann, so Andersdenkende. 87 hab ich zum ersten Mal »Freygang« gesehen, und vorher schon paar andere Bluesbands. Abenteuer. »Kunden-Schule« ham’se dazu gesagt, weil’se dir da das Trinken beibringen und so. Lange Haare, Nickelbrille, Hirschbeutel. Inner Lehre dann Shell-Parka gekooft für vierhundert Ostmark. Ich hab ja gut verdient als Maschi, Schichtarbeit. Schöne Uniform besorgt, Hirschbeutel umgeschnallt, und dann war man unterwegs. Man war gespritzt vom Blues. Das Anders-Sein, das war’s. Das hat sich ja alles überschnitten, Punk, Blues-Szene ... Da war ich mittendrin. Das fetzt!

SchudiAuf den Blues-Sälen war üblich, dass jeder seinen Kalender dabeihatte. Dann standen alle in der Ecke rum, um Termine abzugleichen. Ohne Handy! Es gab welche, die haben sich die Mühe gemacht, kleene Werbezettel zu schreiben, da standen alle Termine drauf. »Drei Monate später, Sangerhausen« stand da, und welche Band – das waren wirklich die einzigen Informationen, die man hatte. Weswegen man an dem Wochenende nach Sangerhausen getrampt ist. Diese beinharten Blueser, die jedes Wochenende auf’n Saal gefahren sind, die waren für die Menschheit eigentlich verloren.

GabiMan konnte hervorragende Sex-Affären haben. Zum Schluss hat man immer bei irgendwelchen Leuten gepennt. Inner Einraumwohnung zu zehnt, da haben sich alle irgendwo verteilt und sind am nächsten Tag auseinandergerannt, das hat irgendwie funktioniert.

YvonneSeit ich sechzehn war, bin ich jedes Jahr im Sommer mit irgend’ner Freundin getrampt. Quer durch Osteuropa. Bis Bulgarien, weiter ging’s nich. Ein Muss war Budapest. Ins Kino, da haste entweder »Hair« oder »Jesus Christ Superstar« angeguckt. Und dieser Zeltplatz: Da sind die durch die Stadt gefahren mit LKWs und haben Leute auf der Margareteninsel oder auf’m Bahnhof eingesammelt. Dann wurdest du dort hingekarrt, das war stacheldrahtumsäumt. Das Zelten war umsonst, aber du musstest deinen Ausweis abgeben und durftest nich rein vor 17 Uhr. Und früh halb acht haben die mit Polizeisirene alle geweckt, dann musstest’de wieder verschwinden. Oder wir ham im Getreidefeld geschlafen. Normalen Campingplatz konnten wir uns nich leisten. Da sind’wa über’n Zaun geklettert und ham mal geduscht. Wenn’de dir überlegst – wir waren sechzehn, als wir losgetrampt sind. Und unsere Eltern wussten nich, wo wir sind, niemals. Keen Telefon und ooch sinnlos, ’ne Karte zu schreiben, die wäre später angekommen als wir.

SchudiNach Polen durfte man ja ab 1980/​81 nur mit Einladung fahren. Auf dem Antrag musste man eine Adresse angeben, wen man besucht. Da ham’wa einfach von so’nem Hortex-Glas – Rote Bete von der polnischen Firma Hortex – die Adresse abgeschrieben und auf den Antrag. Paar Tage später haben wir das unterschrieben wiedergekriegt! Und sind nach Kraków gefahren, mit’n Fahrrad. Legendenumwoben: Die Kette sprang schon nach fünfzig Metern ab – und alle Nachbarn am Fenster! Da hab ich zu Röhli gesagt: »Wir dürfen uns jetzt keene Blöße geben! Wir müssen um die Ecke noch rollen, bis’se uns nicht mehr sehen.« Die haben sich natürlich schon’n halben Tag beömmelt, wie wir die zwanzig Kilo Brot und Büchsen – man musste ja alles mitnehmen –, Rucksäcke, Schlafsäcke und Zelt auf das Tandem hinten raufgeschnallt haben. Schwitzend, mit Ledergürteln – diese Gummiseile gab’s noch nicht. Jedenfalls, mit diesem unfassbaren Gepäck sind wir dann gerade mal so Kreuzung Widerastraße um die Ecke gekommen. Aber dann: leichte Reparatur und ab. Wir kamen in Kraków an, und dort war’n Straßentheater-Festival. Krass – wo doch die Straße im Osten eigentlich ein kulturloser Raum war, außer Mai-Demonstrationen fand da nüscht statt. Und dort Straßenmusik, Bühnen, Theater und Leute aus Frankreich, von sonst wo her, international. Ej, kneif mich mal!

DavidFür Mosambikaner war es verboten, die DDR zu verlassen. Unsere Pässe hat der Betrieb genommen. Alle weg. Wir haben diesen Vorläufigen Personalausweis gekriegt. Der Betrieb hat immer so Versammlungen gemacht: Warum dürfen wir nicht in die Bundesrepublik fahren, oder nach Frankreich? Aber unser Staat hat uns gar nicht getraut, wir sind auch nicht in die Sowjetunion gegangen oder Rumänien oder so was. Ob sozialistisch oder kapitalistisch war egal, es war strengstens verboten! Du musst sogar melden, wenn du nach Dresden möchtest. Der Pförtner muss schreiben: Herr Macau ist nach Dresden gefahren. Und er sagt dir: »Du kommst morgen zurück.« Oder heute Abend. Eine Woche vorher musste man das melden. Und die Namen und Adressen von den Freunden musste ich sagen. Das hat der Pförtner aufgeschrieben. Und dann rufen sie dort an: »Ist er angekommen?« So war das. Wie mit einem Gefangenen.