Schon bei der ersten Fahrt ins Ferienlager stellen wir staunend fest, dass die Welt außerhalb von Hoy offensichtlich nicht aus klaffenden Riesenlöchern und sandigen Abraumhalden besteht. Wir zweifeln nie daran, dass sie so sein muss, wie sie ist. Kohle Gas und Energie. Doch wir beginnen uns zu fragen, wie die Landschaft vor den Löchern aussah. Unweit der Stadtgrenze entdecken wir ein verwunschenes Moor, wo man abseits der Wege im grünen Modder versinkt. Mit abgestorbenen Bäumen und jungen Birken, einer verfallenen Mühle und Orchideenwiesen. An einer Stelle, behauptet ein Schild, habe ein Räuberschloss gestanden, bevor es für immer verschwand. Auch das Moor soll verschwinden, denn darunter liegt Kohle. Der Republik zum Wohle. Das haben wir immer richtig gefunden – bis wir im Moor das erste Mal einen Sonnentau über einer Fliege zuklappen sehen und die Kraniche schreien hören. Wenn unsere Eltern »Natur« sagen, meinen sie den Gorten. Und sie verstehen nicht, was wir im Moor zu suchen ham. Geht’s uns nicht allen gut mit der Kohle?
YvonneMit meinen Eltern war ich nie im Moor gewesen. Aber mit den Öko-Cracks vom King-Haus hab ich das ganz doll erlebt. Ganz wichtig. Wir ham Fahrradtouren gemacht, jedes Wochenende da raus. Die hatten so’ne Kampagne »Rettet das Dubringer Moor!« und ham Vorträge gehalten über die Pflanzen dort. Dann ham wir auf’m Markt in Spremberg selbstgemachten Löwenzahnhonig verkauft. 1984 rum war das. Das war ganz intensiv in der Zeit, das alles zu erfahren. Die Kraniche und die Seidenreiher – alles das, was es nur bei uns so gibt.
RöhliIch hab den ersten Hieb gekriegt so mit sechzehn, wo mir inner Scholz-Halle ’n Jugendpfarrer über’n Weg geloofen is. Und ich in meiner jugendlichen Arroganz ihm erklären wollte, wie naiv das is, an so’n weißbärtigen Gott im Himmel zu glooben. Der hat mich bloß angelächelt und gesagt: »Ich gloob nich an’n Weißbärtigen.« Da hab ich gemerkt, wie klein und doof ich bin, und hab angefangen zu zweifeln. Das war mein intellektuelles Coming-Out. Dann hab ich angefangen, den Koran zu lesen und die Bibel. Das gab’s ja komischerweise alles zu DDR-Zeiten. Wo ich gemerkt hab, die Welt is nich nur das kleene WK acht oder Hoyerswerda, sondern irgendwas passiert noch dahinter.
Das King-Haus ist das, was vom alten Kirchhof, der dem Stadtzentrum weichen musste, übrig geblieben ist. Kirche gehört in die Altstadt und hat mit uns, dem Neuen, nichts zu tun. Das kleine Gemeindehaus steht jahrelang fast unbeachtet zwischen den Hochhäusern. Ein paar Versprengte gehen hier zur Christenlehre. Solange man seine Hausordnung macht und im Schichtbus nicht falsch rum steht, kann hier jeder glooben, was er will.
Jetzt aber gehen auf einmal Leute wie wir ins King-Haus, wo es mittlerweile einen Arbeitskreis für Umwelt und Frieden gibt. Es kursiert eine auf Ormig schlecht kopierte, zusammengeheftete Blättersammlung, die »Grubenkante«. Sie berichtet über den geplanten Abriss von Dörfern und Naturschutzgebieten – von denen wir vorher nie gehört haben. Wir lesen sie heimlich in unseren Kinderzimmern und wissen nicht mehr, was wir glauben sollen.
YvonneDas war spannend im King-Haus, das war so’ne Art Oppositionsbewegung. Der Pfarrrer war’n cooler Typ. Wenn du angezählt wurdest von einem Lehrer oder vom Direktor, weil du irgendwas politisch nich korrekt gesagt hattest, dann ist der dorthin gegangen und hat denen was erzählt. Der war super belesen, kannte sämtliche Marx-Texte. Theologie im Osten – da haste das alles gelernt! Da war ich sechzehn, und ich fand das so toll, dass ich jeden Tag dort beschäftigt war. Montag war Mitarbeiterkreis, Dienstag Junge Gemeinde, Mittwoch – ich wollte mich dann sofort taufen und konfirmieren lassen – Vorbereitungskreis, Donnerstag Theaterkreis. Freitag bin ich ins Wochenende nach Rothenburg gefahren, da war der Martinshof von der Diakonie. Als ich getauft wurde, war ich schon in der Kirchenband und hab bei meiner eigenen Taufe gespielt. Und hinterher, am gleichen Tag, konfirmiert.
RottlMan hat es garni so in die politische Richtung gedacht. Das war’s aber, die wollten was verändern. Durch den Freundeskreis warste plötzlich in dieser Oppositionsgeschichte drinne, alternative Szene in Berlin und so was. Ich war ja früher Agitator inner Schule. Und hab da schon gemerkt, es läuft eben doch ni alles so richtig. Und dann denkste: Man muss was tun. »Grubenkante«, dann hab ich ooch mit Gundi was organisiert für die Tschernobyl-Tage. Da hat der gespielt, im King-Haus. Wir ham die »Verheizte Lausitz« rausgebracht, ’ne Broschüre. Und dann nochmal die »Atomkante«. Es war politisch, ja, aber nie wirklich bewusst. Ooch Lust am Abenteuer. Waren alle een Alter. Das is’ja ’n großes Lebensglück.