Unsere Cliquen haben sich neu sortiert. Es ist nun egal, ob man aus WK III oder VII, Neu- oder Altstadt kommt. Wichtig ist, langhaarig zu sein, Fleescherhemde, Jesuslatschen und Klettis zu tragen. Einen Großteil unserer Zeit verbringen wir damit, uns diese zu besorgen. Nur Blachi hat nichts davon, noch nicht mal lange Haare. Sein Kopf ist kahl, das Gesicht eingefallen und die Augen hinter der eckigen Brille stehen hervor wie Achtzjer Kesselnieten. Wenn er sich jemandem vorstellt, sagt er: »Ich bin Blachi und sterbe bald.« Wie sich herausstellt, stimmt das. Blachi hat Schilddrüsenkrebs. Es ist das erste Mal, dass einer von uns schon gehen muss – wo doch die Zukunft noch gar nicht angefangen hat.
Immer wieder werden wir in den nächsten Jahren an Gräbern stehen, auf denen unsere Geburtsjahre stehen. Unsere Eltern hatten den Tod aus der neuen Stadt verbannt. Es ist nun, als würde er sich rächen, indem er sich von Zeit zu Zeit eines ihrer Kinder holt.
Blachi ist ein Altstadtkind und bewohnt als solches allein ein ganzes Haus. Sein Handwerker-Vater hat es ihm überlassen. Schon die Bezeichnung »Einfamilienhaus« ist uns Neustadtkindern suspekt: Ein Haus für eine Familie – echt jetze? Bei Blachi ist immer geöffnet, denn Blachi ist Rentner – abgefahren, in unserem Alter! Wenn wir darüber reden, dass die Jungs bald zur Fahne müssen und Angst haben, dass es sie an die Grenze verschlägt, wenn wir uns wieder und wieder ausmalen, wie es wäre, eine eigene Wohnung zu haben, wenn wir am Ende wissen, dass wir nichts davon beeinflussen können, sitzt Blachi nur daneben und lacht. Seine großen Augen sehen in eine Zukunft, die im Gegensatz zu der unseren schon bald da sein wird und real ist. Manchmal nimmt Blachi dann die Gitarre und wir singen lauthals sein Lieblingslied in die Totenstille einer Nacht, durch die gleich die ersten Schichtbusse rollen werden:
Country roads / Take me home / To the place I belong