Im WK VIII hatten sich die Stadtplaner angesichts der Kinderflut einen besonderen Coup einfallen lassen: Drei Schulen bilden ein Karree und teilen sich einen Schulhof. Ein Schulkomplex. Von der Kellertreppe bis zum Fenstergriff gleicht ein Gebäude dem anderen. Nur durch die Farben ihrer Fassaden kann man sie unterscheiden: die rote, blaue oder schwarze Schule, wie sie schon bald nur genannt werden. Hunderte von Kindern stürmen allmorgendlich aus den umliegenden Hochhäusern und Fünfgeschossern und schlängeln sich als riesiger Lindwurm um das Karree Richtung Eingang. Hier, in diesem Lernkombinat, geht etwas vor sich, das unsere Stadt verändern wird. Es beginnt in der blauen Schule mit einer energischen Frau, die unter den Mädchen auf dem Schulhof kaum aufragt, aber schon bald Legendenstatus haben wird.

SchudiDie berühmte Frau Söhnel. Die war eine bunte Gesamterscheinung, mit geblümtem Sommerkleid, wallender blonder Mähne, High Heels … Da habe ich das erste Mal in meinem Leben Pfennigabsätze gesehen. Und die hat’n Singeklub aus der Taufe gehoben und kam dann mit so’m Spulentonband an. Wo tonnenweise Aufnahmen drauf waren von irgendwelchen Liederwerkstätten. Ich hab ihr zur verdanken, dass ich angefangen habe, Gitarre zu spielen. Später kam sie auf’n Geschmack, das Ganze zu elektrifizieren, mit Bass. Die hatte das Ohr so bissl am Land und wusste, Pop und Rock, das wollte sie mit’m Singeklub ooch machen.

Einer ihrer Schüler ist ein schmächtiger Junge mit strähnig-dünnen blonden Haaren und einem Brillenmodell, das wegen der dicken Gläser Mitropa-Aschenbecher genannt wird. Seine Eltern sind aus Thüringen gekommen, aber wie alle hier spricht er schon bald den abgeschliffenen Hoywoy-Slang mit ooch und gorni. Er wird ihn nie wieder ablegen. Auch nicht am Ende, wenn er ein berühmter Sänger sein wird und arbeitsloser Baggerfahrer dazu. Dann werden ihn auch außerhalb von Hoy alle Gundi nennen und das mit dem Bagger sehr cool finden. Uns wird das komisch vorkommen – Baggerfahrer sind schließlich nichts Besonderes! So wenig, wie es bei uns etwas Besonderes ist, bei Frau Söhnel Gitarre zu lernen und mit dem Schulsingeklub aufzutreten.

Irgendwann reicht Frau Söhnel den ihrer Schule entwachsenen Gundi und seine Freunde weiter an die ebenfalls stadtberühmte Dora Gebauer. Die wacht an der Penne streng über den städtischen Singeklub und seinen glasklaren Satzgesang. Es wird erzählt, dass es beim ersten Vorsingen der Gruppe hieß: »Alle außer Gundermann.« Woraufhin die Freunde geantwortet hätten: »Alle oder keiner.« Viel später wird Gundi diese Zeile auf großen Bühnen singen, und nur wir werden wissen, dass es das Prinzip der Maschinistenfarm ist.

Zunächst wird er ans Schlagzeug verfrachtet. Doch schon bald rückt er nach vorn. Die Gruppe trägt nun den prosaischen Namen »Singeklub Hoyerswerda«, erlangt mit ihrem sauberen, Söhnel-und-Gebauer-geschulten Gesang nationale Bekanntheit und wird gern auch in den Westen geschickt. Neben Kohle Gas und Energie exportieren wir nun auch FDJ-Lieder.

Die Singeklub-Mitglieder werden älter, arbeiten im Tagebau, in Pumpe oder sind Lehrer. Die Lieder, die sie singen, passen nicht mehr zum Leben in der Stadt, die immer noch auf die Zukunft wartet. Dort wird sie angekündigt, als würde es sie wirklich geben. Und so fangen die Freunde um Gundi an, neue Lieder zu schreiben. Als echte Hoyerswerdsche haben sie eins gelernt: Auf die Zukunft wartet man hier besser nicht. So wie auch Theater zu den Dingen gehört, die sie besser selber machen. Sie ziehen das FDJ-Hemd aus und fangen an, auf der Bühne zu spielen. Statt Singeklub nennen sie sich nun »Brigade Feuerstein«.

Unsere Eltern arbeiten in Pumpe in Brigaden. So nennt man bei uns die Arbeitskollektive. Sie heißen »Brigade Völkerfreundschaft« oder »Brigade 7. Oktober« oder aber einfach nur nach dem Brigadier: »Brigade Kossack«. Bei uns in der Schule gibt es Brigade A und Brigade B – denn auch wir haben uns seit dem ersten Schultag in Brigadeformation bewegt: Alle hintereinander sitzenden Kinder bilden eine solche und sammeln rote oder blaue Punkte im Brigadewettbewerb.

Ein Vertreter der Patenbrigade – jede Klasse hat eine – taucht von der ersten bis zur zehnten Klasse zu allen Klassenfeiern auf. Wir besuchen die Paten mehrfach bei ihrer Arbeit. Glück hat die Klasse, deren Patenbrigade bei der Städtischen Bäckerei Hoback arbeitet und die bei der Gelegenheit in den Genuss frischer Backwaren kommt. Es soll sogar Glückspilze mit einer Patenbrigade im Tierpark geben. Die meisten aber landen beim Besuch der Paten in Pumpe oder im Tagebau. In diesem Fall wird man am letzten Schultag sein Zeugnisheft stets aus der schwieligen Hand des Gleisarbeiters Skorna überreicht bekommen. Und ehe man es sich versieht, findet man sich selbst wieder in der Welt von Brigadier, Brigadefeier und Brigadetagebuch.

Staunend registrieren wir, was für eine Art Brigade es auf einmal mit Gundi und den Feuersteinen bei uns gibt: ein schriller Haufen von Leuten, die wenig älter sind als wir. Sie haben viele Kinder und einen bunt bemalten Robur-Bus. Der steht lieber, als dass er fährt, und schon bald werden sich um ihn so viele Legenden ranken wie um die Feuersteine selbst. Viel später wird jemand sagen, sie seien »die ersten Hippies der DDR« gewesen. Aber sie wohnen im WK wie wir. Früh rennen sie erst zum Kindergarten und dann zum Schichtbus, kommen nachmittags müde zurück und rennen wieder zum Kindergarten. Dann auf Probe ins Klubhaus, nach Hause, Stullen schmieren für die Kinder, ausziehen waschen Bette. Sie lernen nachts Texte für das nächste Stück, fallen ins Bett und treten wenige Stunden später an zur nächsten Runde, die bei uns erste Welle heißt.

Die Feuersteine spielen im Jugendklubhaus und manchmal auf dem großen, leeren Platz davor – der dann auf einmal voller Menschen ist. Das Klubhaus ist so alt wie die Scholz-Halle. Offiziell trägt es den Namen »Nikolai Ostrowski« – ein sowjetischer Schriftsteller, der den Roman »Wie der Stahl gehärtet wurde« geschrieben hatte. Sehr zu unserem Leidwesen, denn auch wir sollen gehärtet werden und in der Schule erklären, warum der Hauptheld Pawel Kortschagin unser Vorbild sei: Einer, der im Kampf für den Sozialismus jung stirbt und, wie zum Hohn, zuvor behauptet hatte, das Leben sei das Wertvollste, was der Mensch besitzt. Wir haben nichts dagegen, dem Sozialismus zu dienen. Noch viel lieber aber möchten wir im Leben bleiben – das hätte sicher auch Frau Kraatz mit ihren fünfunddreißig Blättern nicht anders gewollt.

Nun finden wir ein Vorbild, das uns besser gefällt: Tränchen Traurig. Eine Figur, die Gundi spielt. Schmächtig und verletzlich, im schwarzen Sportpulli und weißen Handschuhen. Ins blassgeschminkte Gesicht eine Träne gemalt, denn immer ist er der Unterlegene im Kampf gegen die Großen. Die spucken ihm auf den Kopf. Die Dicken essen den Pudding, während der Dünne keinen Löffel hat. Zum ersten Mal wird in unserer Stadt einer verhauen und ist trotzdem der Held. Einer, der schwach ist und sich trotzdem traut zu widersprechen. Für den es keine roten Punkte in die Brigadeschachtel gibt. Einer wie Gundi. Der Offizier werden wollte, um endlich und möglichst schnell Nicaragua zu befreien, der aus der Armee geschmissen wurde und im Tagebau anfing. Der in die Partei ging und rausgeschmissen wurde. Schon bald kennen alle seine Geschichte. Dass er auch in die Stasi ging, um die Welt zu retten, und auch dort rausgeschmissen wurde, werden wir viel später erfahren und nicht erschüttert sein. Jetzt aber steht er auf der Bühne vor dem Jugendklubhaus, das den Namen eines Vorzeige-Komsomolzen trägt. Er singt Dann muss ich weinen, weinen, weinen. Und Hoy steht davor und klatscht. Etwas hat sich verändert.

ClaudiaEs wurde viel erzählt über ihn in der Stadt. Natürlich diese Geschichten, dass er da’n Geigenkasten als Brotbüchse mitgenommen hatte in’ Tagebau. Der soll da wirklich seine Butterbrote dringehabt haben! Und ich weeß noch, dass es bei uns zuhause ständig Diskussionen gab. Der Gundi war so’n bisschen als Klassenfeind verschrien.

SchudiIch bin als Schüler da schon hingerannt, zu den Feuersteinen. Und schon 79 haben die da diesen Irrsinn gemacht, dem Publikum einen kompletten Revue-Abend zu präsentieren. Unter dem Motto: Mit der ganzen politischen Bildung, das ist ja alles gut und schön, aber wir müssen das unterhaltend rüberbringen. Und zum Schluss immer Tanz, Beatles-Runde. Echt sensationell!

Wir müssen jetzt nicht mehr jedes Wochenende auf die Landstraße, um auf weit entfernten Sälen den Blues zu finden. Wir müssen auch nicht mehr an den Rand des 1000-Mann-Lagers. Wir gehen jetzt ins Klubhaus zum »Spectaculum« oder in die »Powerfabrik«. So nennen die Feuersteine ihre Endlos-Programme. Die Plakate dafür sind selbstgeklebte Collagen. Wir entdecken, was man mit den Schlagzeilen der ewigen Erfolge unserer Werktätigen und deren heldenhaften Porträts aus dem Lügen-Rudi – wie die »Lausitzer Rundschau« nur genannt wird – auch machen kann. Jetzt tauchen sie neben dem Kopf von Brecht auf. Darunter eine technische Zeichnung und ein Lehrplan der Arbeiter-Bildungs-Schule von 1906, das Titelblatt der Internationale, die Namen Rosa Luxemburg und Franz Mehring und Fetzen von Losungen aus dem Zentralorgan. »Mach mit – Taten der Bürger zu ihrem eigenen Wohl« steht da und macht zum ersten Mal Sinn. In der Mitte des Blatts reißt das Bild auf und gibt den Blick frei auf eine Mauer mit Löchern darin.

In den Programmen geht es immer um Gut und Böse. Kleiner Klaus und großer Klaus. Krabat und Wolf Reißenberg. Familie Ostphal und Familie Westphal. Tränchen Traurig und Alfazalfa. Wir kennen das: rote Punkte gegen blaue. Hier aber steht am Ende immer die Frage, ob es überhaupt ums Siegen geht. Am Ende dieser Abende schütteln wir alle Gedanken und die letzte Schicht aus uns raus.

Es war ein harter Tag, / ​ich hab geschuftet wie ein Hund. / ​Es war ein harter Tag, / ​und jetzt am Abend bin ich rund. / ​Doch nimmst du mich an der Hand / ​ins Feierabendland, / ​dann bin ich wieder fast gesund.