Es gibt eine zweite Stadt, die Stadt der Kinder von Hoy. Sie lebt im Untergrund. Die WKs, die Baustellen mit den Turmdrehkränen, die Magistrale und sogar die Kulturhaus-Ruine sind nur Oberfläche. Unsere Stadt befindet sich darunter.
ClaudiaAls wir Kinder waren, ist ja das Stadtzentrum gebaut worden. Und als das unterkellert wurde, sind wir in den Tunneln immer spielen gegangen. Das war natürlich streng verboten, aber wir sind trotzdem immer da rein. Das waren unsere Mutproben.
Oben ist die Stadt der sinnvollen Freizeitbeschäftigung und des frohen Jugendlebens, wie es sich in den Jugendveranstaltungen im Jugendklubhaus entfaltet. Im monatlichen Info-Blatt lesen wir deren Ankündigungen:
Die NVA – eine moderne Armee
Die militärische Hochrüstung der USA im Weltraum
Schlager und Politik
Sexualwissen – Anliegen unserer Zeit
Österreich – ein Touristenland mit Problemen
Rauschgift – Geißel der Menschheit
Der Untergang der Stadt Pompeji
Alkohol – ja oder nein?
Wir interessieren uns sehr für Sexualwissen, Alkohol und Untergang. Dafür aber – das wissen wir – muss man nach unten. In einen Keller, hinter einer Tür am Anbau rechts vom Klubhaus. Manchmal stehen wir die ganze Nacht davor, denn das Tor öffnet sich nur Auserwählten.
PfeffiDann gab es die Idee mit dem FMP-Klub. Das war mal’n Bockwurst-Kiosk, den haben sich die Feuersteine als Probenraum ausgebaut. Und dann kamen wir irgendwann drauf, da’ne Kleinkunstbühne draus zu machen. Das war die Zeit, als Liedermacher und Folkbands aufgekommen sind, aus der Singeszene raus. Das mit dem Namen »FMP« is entstanden, nachdem wir uns dort Schallplatten von der Firma »Free Music Production« angehört hatten – FMP. Aber dann: »Das geht nich – wenn die uns fragen, was das bedeuten soll!« Na ja, da haben’wa halt ’ne andre Erklärung dafür gefunden. »F« is Feuerstein, »M« Musik und »P« Palast. Und so is FMP entstanden, 1980. Das war eine große Umwälzung in Hoyerswerda, also eine ganz neue Qualität.
RöhliBei mir war’s wirklich bis zur zehnten Klasse, dass ich in Watte gepackt durch die Gegend geloofen bin. Die ersten Kontakte zu dieser andern Welt hatte ich über’n Singeklub, dann hat man im FMP Leute getroffen. Und dadurch, dass es so’n kleener Kreis war, is man schnell hängengeblieben und hat wieder neue Leute kennengelernt. Man hat die ja bewundert, man hat zu denen aufgeblickt, oh …
PfeffiEs war immer gerammelt voll. Das is klar, der Klub war ja sehr klein, sechzig Plätze. Und irgendwann ham Plötze und Kossi am Eingang dann Gesichtskontrolle gemacht. Wen’se kannten, der kam rein, und wen’se nich kannten, halt nich.
Dicht an dicht stehen wir um die winzige Bar im FMP. Hier gibt es kein Gelb-Weiß-Grün. Hier wird Cola-Wodka getrunken oder gar Rotwein – ein Geschmack von Dekadenz. Aus der Welt der Schichtbusse stammen nur die ledernen Halteschlaufen, die um die Bar herum oben an einer Leiste angebracht sind. Instinktiv finden unsere Hände den Halt. Endlos kann man so stehen, trinken und dabei sanft schwanken wie auf der Fahrt nach Pumpe. Derart effektiv in der Senkrechten getaktet, finden über hundert Platz, wo sechzig erlaubt sind.
Musik ist in Hoy so unentrinnbar wie der Schichtbus. Gitarre bei Frau Söhnel, Satzgesang bei Frau Gebauer, jede Schule und fast jeder Bereich in Pumpe hat einen eigenen Chor. Man spielt Geige im Sinfonischen Orchester, Trompete im Betriebsblasorchester oder Schalmei im Fanfarenzug. Im FMP, eng gedrängt auf grob zusammengezimmerten Podesten, entdecken wir staunend eine andere Musik. Die nicht scheen sein will, kann und darf. Musiker malträtieren ihre Instrumente, Saxofone krächzen, Gitarren quietschen, Pianisten bearbeiten die Saiten statt der Tasten, Sängerinnen kreischen. Wir entdecken eine Spezies namens Liedermacher. Sie kommen aus Berlin und tragen Schlabberpullover. Ihre Gitarre nennen sie Klampfe, und ihre Musik ist im Gegensatz zum anarchistischen Jazz-Krach immer irgendwie zu leise. Und immer geht es darum, dass jemand anders sein will. Das wollen wir auch und starren gebannt auf die traurigen Gestalten. Sie singen vom Aussteigen. Ja, genau das müsste man, einfach nur aussteigen! Es stellt sich aber heraus, dass die Liedermacher lieber einsteigen: am nächsten Morgen in die Sorbenschleuder, den Zug nach Berlin. Wir steigen in den Bus nach Pumpe.
Unsere Zeit teilt sich nun in die Tage vor und nach FMP, das alle zwei Wochen freitags die Pforte in die Unterwelt öffnet. In der Zwischenzeit raunt man sich zu, was Pfeffi, der das Programm organisiert, wieder irgendwo ausgegraben hat: Verboten! Verschärft!
RöhliDann war Folk das Ding. In Leipzig machen Musiker ’ne Folk-Oper! »Die Boten des Todes«, ursprünglich ein Grimms-Märchen: Der Lehrer und der Kulturfunktionär waren die Boten des Todes, und in der Kneipe wurde Musik ooch verboten … Total verschärft! Das wurde nur einmal aufgeführt in Leipzig, intern. Pfeffi durfte hinter’ner Säule zugucken. Dann saß die Bewertungskommission im Saal und meinte: »Das geht nicht mehr über die Bühne.« Das war gestorben, verboten. Aber Pfeffi hat sich den ganzen Scheiß geschnappt und nach Hoyerswerda geholt. Und dann haben wir das hier gemacht. Wir haben aus dem Singeklub heraus extra eine Folkgruppe geründet, »Nieswurz«. Mit rudimentären Instrumentalkenntnissen haben wir die Musik da eingespielt. »Wenn die Bettelleute tanzen …« Da war ich achtzehn. Ich hab die Dimension damals gar nich begriffen. Aber ich hab gemerkt, dass mich diese ganzen schrägen Sachen fasziniert haben. Irgendwo is noch was hinter dieser Wand, da gibt’s noch’ne andere Welt!
Der Tod tanzt also in einem kleinen Keller unter dem Asphalt. Er erscheint in hohlwangigen Gestalten, zahnlos, mit riesigen Augenhöhlen in bleich geschminkten Gesichtern. Wir tanzen mit dem Hässlichen. Das Schöne war uns versprochen worden, aber es schläft in einem Betonblock auf einer Brache. Alles hier ist Fratze. Wir erschrecken nicht vor ihr. Wir erschrecken, weil wir spüren, dass sie mehr mit uns zu tun hat als Pawel Kortschagin und sogar als Tränchen Traurig.
PfeffiDas waren natürlich extreme Veranstaltungen, die wir da gemacht haben. Wir haben das manchmal einfach Fasching genannt, damit’s nich so auffällt. Horrorfasching, zum Beispiel »Im Krug zum blutigen Ranzen«. Die Wessis werden das gar nich glauben: So was in der DDR! Dass das durchgegangen is, dass da keener was gesagt hat, wundert mich nach wie vor. »Die Boten des Todes« haben wir im FMP dreimal aufgeführt, es gab sogar einen Flyer dazu. Offensichtlich wusste niemand in Hoyerswerda, dass das Ding eigentlich verboten war. Genauso eine Band aus Leipzig, die nie eine Spielerlaubnis bekommen hat. Die sind jedes Jahr im FMP aufgetreten – und hatten jedes Mal’n andern Namen! Wenn die verboten wurden, haben die sich einfach ’n neuen Namen gegeben. Das hat in Hoyerswerda keener mitgekriegt. Bei den Künstlern hieß es irgendwann: »In Hoyerswerda musste gewesen sein.« Da sind ooch immer welche aus Berlin gekommen zu unseren Veranstaltungen. Es gab ja diesen Spruch: »Zwischen Oder und Spree – Einigkeit durch FMP«.
Wir hüllen uns in wallende Gewänder, wenn wir zum FMP oder ins Klubhaus gehen. Wir bilden jetzt ein Folk im Volk. Der Folkstanz fegt die Volksmusik, die »Im Krug zum Grünen Kranze« über die Bildschirme der Neustadt flimmert, beiseite. »Folkskammer«, »Lumich«, »Schottenschulle«, »Horch«, »Notentritt«, »Wacholder«, »Hofgesindt«, »Spilwut«, »Folkländers Bierfiedler«, »Atemnot« und »Arbeiterfolk« heißen die Gruppen, die jetzt im Klubhaus aufspielen. Immer hatten wir uns angewidert abgewendet, wenn auf der Freilichtbühne beim »Tag der Berg- und Energiearbeiter« aufgeputzte Trachtengruppen zur Annemarie-Polka antraten. Jetzt rufen uns Plakate zu »Folkt«!
Wir singen Herr Wirth, so lösch er unsre Brände, und Kneiper Udo schiebt mürrisch die halben Liter über den Sprelacart-Tresen. Unsere Jesuslatschen oder Klettis stampfen auf das abgewetzte Parkett, über das eben noch die silbernen Absatzschuhe der Paradetänzer von Tanzschule Schulze grazil schwebten.
In Hoy gibt es niemanden, der nicht bei Schulze tanzen gelernt hätte: den Kopf stets aufrecht halten, den Rücken durchgedrückt, die Ellenbogen exakt abgewinkelt. Hübsch paarweise, der Herr fordert die Dame auf. Jetzt drehen wir uns im Reigen, greifen die Hände des nächsten Partners und des nächsten, hopsen wild durcheinander, juchzen und kreischen dabei. Irgendwann bilden wir zwei lange Reihen, die sich gegenüberstehen und mit den Händen eine Gasse bilden. Durch sie muss das letzte Paar und vorn wieder Aufstellung nehmen. Immer schneller spielen die Musikanten – ein Wort, das wir bisher nur von den streng gemiedenen »Tagen der Blasmusik« kannten. Die Fidel krächzt, die Drehleier glüht, die Paare rutschen nur noch über den Boden, getrieben von den nächsten, bis wir ein Haufen schwitzender Leiber jenseits jeder geordneten Formation sind. Die Röcke fliegen. Die Wolle unserer dicken Pullover dampft. Das Jugendklubhaus Nikolai Ostrowski bebt, und für einen Moment spüren wir hier, im WK I, wie sich die Erde dreht.
Wenn wir aus dem Klubhaus schwanken oder den schummrigen FMP-Katakomben entsteigen, hat die helle Welt der Betonquader uns wieder. Eine wirkliche Nacht gibt es hier nicht. Irgendwer kommt immer gerade von Schicht oder bereitet sich darauf vor.
Eben noch haben wir im FMP mit Zigarette in der einen und Rotweinglas in der anderen Hand über Expressionismus debattiert. So muss es sich angefühlt haben: Paris, Dreißigerjahre, très bien. Wenn wir aus dem Keller wieder auftauchen, geht es zurück ins Kinderzimmer. Und nach Pumpe. In den Gesellen-Liedern wird am Montag blau gemacht. Wir aber werden wieder antreten, erste zweete dritte Welle.
PfeffiHoyerswerda war’ne Arbeiterstadt. Fast alle, die ich kannte, waren sogenannte Arbeiterkinder. Und ooch viele im FMP-Publikum sind ganz schlichte, einfache Arbeiter gewesen. Die nich studiert hatten. Das ist das Komische gewesen.
RöhliEs hatte was Verruchtes mit diesem Keller und Cola-Wodka. Und es war ja nich typisch für die DDR, dass’de die ganze Nacht durch die Gegend gestolpert bist. Wie oft wir früh um vier an den Schichtbussen vorbeigeloofen sind! Wenn die Arbeiter an der Haltestelle standen, und man kam dort vorbei … Das war immer ’ne ganz komische Stunde, wenn’s so langsam hell wurde. Man fröstelte, wurde langsam wieder nüchtern. Und dann an dieser stummen Menge vorbeizulaufen und zu wissen, dass die Leute aggressiv wer’n, wenn man’se jetzt belatschert. Bizarr.