RöhliDie Woche war gegliedert in Wochenende mit Klubhaus, FMP und so was und dann die Wochentage. Die waren abends dem Lesen vorbehalten, bis um zwei in der Nacht. Jeder hat jede Woche bestimmt drei bis vier Bücher gelesen. Und alle die gleichen! Das war das Schöne, jeder konnte sich mit jedem darüber unterhalten.

Immerzu Lesen ist nichts Neues für uns. In jeder Schule befindet sich die Schulbibliothek unten im Keller, gleich neben dem Werkraum. Dort sitzt eine Schulbibliothekarin und muss Tag für Tag die Frage über sich ergehen lassen, wann »Bei der Feuerwehr wird der Kaffee kalt« denn nun auszuleihen wäre.

Als wir klein waren, trugen wir es stolz nach Hause und lasen darin, bis wir es auswendig konnten – denn wer wusste schon, wann einem das Glück wieder dermaßen hold sein und man einen solchen Schatz heben könnte! Schier aussichtslos war es damals gewesen, an »Das doppelte Lottchen« zu gelangen. Angeblich, so munkelte man, sollte es in der Kreisbibliothek ein Exemplar geben. Doch kein Sterblicher hatte es je in der Hand gehalten. Als Familie Skoddow es schließlich ergattert hatte, griff ein ausgeklügelter Plan: Alle fünf Kinder der Familie, einschließlich der des gesamten Freundeskreises, waren beteiligt: Jeder eene Seite. So wurde das Buch, Zeile für Zeile, von Kinderhand feinsäuberlich abgeschrieben. Fortan machte ein Exemplar die Runde, bei dem jede Seite anders gekrakelt und von Tintenklecksen verziert war.

RöhliDas war ja’n ganz komisches Ding in Hoyerswerda: Es gehörte zum guten Ton, eine tragbare kulturelle Bildung zu haben. Es gab diese Theaterabonnements, wo die busseweise nach Cottbus und Berlin gekarrt sind. Und es gab in jeder Wohnung bei uns im Haus, egal ob die Leute Schichtarbeiter waren oder Doktoren, das Bücherregal. Also ich kenn keene Wohnung ohne. Das musste man haben. Und man hat sich alles reingezogen, was da so rumstand. Ich hab angefangen mit »Der Streit um den Sergeanten Grischa«, danach Tolstoi. Dann stand dort Rainer Maria Rilke drinne und Hermann Hesse, ooch Leonardo da Vinci. Und Schnabel, das Aufklärungsbuch! Ich hab selbst den Opernführer gelesen. Ich meene, das Regal war drei Meter breit und zwei Meter hoch!

ClaudiaMeine Mutter hat in der Freizeit – die sie eigentlich nie hatte – wirklich nur gelesen. So viele Bücher … Da war selbst Heiner Müller, als der bei uns übernachtet hat, überrascht. Und die war auch im Kulturbund, ist mit der ganzen Blase immer ins Deutsche Theater nach Berlin gefahren. Sie hat sehr viel Wert auf Kultur gelegt. Also wir sind nach Dresden gefahren, waren in Ausstellungen, in Museen und solche Sachen. Das war eben normal bei uns.

BeateIch hab ja in der Gewerkschaftsbibliothek in Pumpe gearbeitet und später als Bibliotheksleiter beim Wohnungsbaukombinat. Wir hatten Außenstellen in allen Betriebsteilen. Und es wurde viel gelesen. Die Leute konnten während der Arbeitszeit mal schnell in die Betriebsbibliothek huschen. Die Stadtbibliothek hat die Leute aufgefangen, die in Hoyerswerda gearbeitet haben. Da sind, hier bei uns, ganz viele avantgardistische Dinge passiert, in Deutschland einmalig. Weil wir eben einen guten Leiter hatten, den Horst Müller. Sämtliche Bibliotheken hatten eine zentrale Einarbeitung. Also, im Grunde genommen wurde uns die Arbeit erleichtert, so dass wir in die Arbeitsgruppen, also Brigaden, gehen konnten, um dort Lesungen zu veranstalten.

Ich hab alleine so hundertzwanzig Veranstaltungen im Jahr gemacht. Am besten gingen Reisebeschreibungen, Krimis. Was mich sehr zum Nachdenken gebracht hat: Tiefste DDR, da kam eine Frau zu mir und sagte: »Ich hätte gern ein schönes Buch. Mit Liebe, es soll gut ausgehen, nichts von der Arbeit und kein Krieg.« Und da hab ich gedacht: »Mist, wieso haben wir nicht die Groschenromane?«

Ich hab dann bei Bestellungen immer geguckt, was es da so gibt, bei den Skandinaviern und so. Und was ganz wichtig ist – deshalb war der Zuspruch zu den Bibliotheken in der DDR auch so groß: Wir sind bevorzugt mit Literatur und Schallplatten beliefert worden. Wo der Bürger sich die Hacken wund gelaufen hat, das kriegten die Bibliotheken. Und gerade was die Betriebsbibliotheken betrifft: Wir hatten dort Narrenfreiheit. Wir konnten bestellen, was wir wollten. Es gab natürlich immer die »Kunstpreisdiskussion des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes« – da sollte man unbedingt ein bestimmtes Buch vorstellen, das sollten die Werktätigen dann diskutieren. Das haben wir nie gemacht. Weil mir das widerstrebte, ich fand das doof. Wir wussten nämlich, was die Leute gerne lesen. Wir hatten täglich mit ihnen zu tun.

Nach der Kunstpreisdiskussion hat nie einer gefragt, es ist keinem aufgefallen. Ich glaube, wir von der Kultur waren im Betrieb sowieso die bunten Vögel, die viereckige Eier legen. Man musste nur früh pünktlich im Betrieb sein. Das war ganz wichtig, alles andere war egal.

MichaWir haben natürlich auch in Pumpe Schriftsteller eingeladen, ich bin noch mit Erich Loest durchs Kombinat. Über die Kultur- und Bildungspläne gab es gewisse Verpflichtungen, wenn die »Kollektiv der sozialistischen Arbeit« werden wollten – weil da’n bisschen was dranhing an Prämie. »Okay, da rufen wir mal in der Bibliothek an: Was habt ihr’n Schönes, Mädels?« Da kam der junge Bibliothekar mit seinen langen Haaren und hat ihnen die Kunst nähergebracht: Plattenspieler, Bücher, die Platten, dann mit’m Rad irgendwo ins Gaswerk. Und dann saßen die Kollegen schon da, Tasche neben dem Stuhl, Jacke hinten, die Busabfahrtszeit fest im Blick.

HausiIch hab das irgendwann von den andern mitgekriegt. Alleene wär ich doch nie off die Idee gekommen, mir so was durchzulesen! Aber dann dachte ich, wenn da so interessante Sachen drinnestehen, wie die immer sagen …

YvonneIn der Buchhandlung lag so’n Heft aus mit den Neuerscheinungen. Da konnte man sich eintragen, und die ersten fünf oder zehn haben das Buch dann gekriegt. Ansonsten gab’s den Antiquariats-Büchertisch. Und dadurch dass immer die gleichen Bücher rausgekommen sind – du konntest in jedes Bücherregal gucken, alle hatten die gleichen Bücher. Und ham’se ooch gelesen!

GabiIch hatte eine ausgeprägte Hesse-Phase, die hatte ja jeder. Ich würde mal behaupten, dass ich damals nicht allzu viel verstanden habe von dem, was ich da gelesen habe.

Nachts liegen wir wach in unseren Kinderzimmern, auf deren Rhombentapeten noch die hellen Vierecke der alten, mühsam besorgten »Bravo«-Poster zu sehen sind. Durch das offene Fenster weht fein der Kohlestaub aus Pumpe. Die Stadt ist still, aber für uns donnert gerade die Hochbahn von New York vorbei. Ein schwarzer Kater streift durch Moskaus Hinterhöfe, in verruchten Pariser Kaschemmen werden wilde Partys gefeiert, und expressionistische Messen lassen uns erschauern. Dann löschen wir das Licht.

Noch aufregender aber ist ein Buch, das die Häuserschluchten vor unseren Kinderzimmerfernstern beschreibt. Die Frau, die es geschrieben hat, ist in der Schule nie erwähnt worden. Dabei hat sie doch hier, im WK I, gelebt. Jeder bei uns kennt Brigitte Reimann. Sie besitzt ähnlichen Legendenstatus wie die wilden Erbauer unserer Stadt. Jeder kennt auch ihren Roman »Franziska Linkerhand«, der von einer jungen Architektin handelt. Als die Verfilmung in unserem kleinen Altstadt-Kino läuft, bricht in der ersten Szene gemeinschaftliches Gelächter aus: Die Heldin kommt auf einem Bahnhof an, den wir in seiner unrenovierten Grauheit sofort als unseren identifizieren – und ein Taxi fährt vor. Das wiederum würde bei uns nie und nimmer passieren. Im wirklichen Leben – das können die DEFA-Leute aus Berlin nicht wissen – muss man Stadtlinie fahren oder loofen. Im Film wird Franziskas Entwurf für die Rekonstruktion der Altstadt zwar mit einem Preis gekürt, aber nicht verwirklicht. Stattdessen werden am Fließband weiter Wohnungen geklotzt. Spätestens da ist das Lachen im Kinosaal verstummt. Und ebenso still laufen wir hinterher durch die zunehmend verfallende Altstadt zurück in unsere WKs.

Die Reimann ist irgendwann weggezogen, in eine richtige Stadt. Sie hat es nicht mehr erlebt, dass es bei uns nun tatsächlich Klubs gibt. Das Kulturhaus, von dem sie so wie ihre Heldin geträumt hat, existiert immerhin schon als Betonruine. Im Klub der technischen Intelligenz hat sich ein Freundeskreis für Kunst und Literatur gegründet. Regelmäßig trifft man sich, um sich gegenseitig aus den Reimann-Werken vorzulesen. An Samstagen fährt ein Bus nach Berlin, wo man im Deutschen Theater hinter den Kulissen freudig empfangen wird. Hoyerswerdsche sind eine proletarische Attraktion.

SchudiIch bin ja dann ooch in diese DT-Busreisegruppe reingeraten. Das war schon komisch, dass das Deutsche Theater seinen Kontakt zur Arbeiterklasse abhakt, indem die Schwarze-Pumpe-Intellektuellen, die Ingenieure und Ärzte, nach Berlin kommen. Was ja eigentlich ooch’n großes Missverständnis ist. Aber besser als gar nüscht, und beschweren würde ich mich auf keenen Fall. Weil wir dadurch natürlich die Crème de la Crème des Theaterwesens einfach so serviert bekommen haben. Was ich im DT alles gesehen habe!

MichaZu DDR-Zeiten war das noch ein Argument, dass wir hier ein Zentrum der Arbeiterklasse sind. Damit konnte man Punkte machen. Natürlich musste man selbst aktiv werden, aber dann … Also, die Staatsoper, die kamen hier mit Sack und Pack an mit »Coppelia«. Dann hatten wir die Musikfesttage der Stadt, da gab es die Reihe: »Musik und Malerei« im Museum. Da wurde ein Kunsthistoriker eingeladen, der hat die Bilder besprochen, dann passende Musik dazu. Heute undenkbar, dass der Direktor der Galerie Neue Meister in Dresden einfach zwei Bilder aus der Galerie nimmt, hinten in sein Auto legt und damit nach Hoyerswerda fährt! Da wurde nicht nach Versicherung gefragt. Man hat einander vertraut.

ClaudiaHeiner Müller hat auch mal auf meiner Kinderzimmercouch geschlafen. Mein Bruder ist immer nach Berlin gefahren, seit er vierzehn war. Und Heiner Müller hatte für durchgeknallte Köppe aus der Provinz was übrig und hat sich tatsächlich um den gekümmert. Dann hatte er mal in Hoyerswerda beim Kulturbund eine Veranstaltung und hat eben bei uns übernachtet. Meine Eltern haben abends noch gesessen mit ihm, der durfte sogar bei uns rauchen. Ich hatte das einzige Zimmer, in dem nur ein einzelnes Bett drin war, in dem hat Heiner Müller dann geschlafen. Und früh ist der mit uns aufgestanden, wahrscheinlich war es einfach laut in der Wohnung. Ist aufgestanden, hat seinen Whiskey getrunken, seine Zigarre geraucht und tingelte so vor dem Bücherregal meiner Mutter, anerkennend. Und hat mich gefragt, was ich jetzt mache. »Ich muss zur Schule.« Und er: »Das tut mir leid.«