Irgendwann steht Gundi im FMP auf der winzigen Bühne und erzählt, er hätte ein Lied von einem gewissen Herbert Grönemeyer gehört. Ein Liebeslied an seine Heimatstadt Bochum. Gundi hat sich erkundigt, was das für ein Ort ist, dieses Bochum. Eine stinkende Industriestadt, »nüscht andres als Hoywoy!«, verkündet er.
Die Mitteilung, eine Stadt im Westen könne sein wie unsere, erfüllt uns mit Skepsis. Aber Gundi meint, man könne ja wohl mit gleichem Recht ein Lied auf Hoywoy schreiben. Und so hören wir zum ersten Mal von unserer Stadt als der blassen Blume auf Sand. Nun ist sie also Gedicht geworden – jenseits der Flamme des Sozialismus, die in den Anfangsjahren Schreibende Arbeiter besungen hatten. Auch jenseits der sehnsuchtsvollen Anklagen von Brigitte Reimann. Zwar hatten wir genau gespürt, was sie meinte, wenn sie von einer seelenlosen Retortenstadt schrieb. Aber sie war nicht wie wir durch deren Tunnel gekrochen und über die Baustellen gestromert.
Hier nun, eines Nachts in einem Keller unterm WK I, sind zum ersten Mal wirklich wir gemeint:
Nachts macht diese Stadt über uns die Luken dicht / und wer den Kopp zu weit oben hat, / der find’ seine Ruhe nicht.
Staunend lauschen wir dem schmalen Typen, der am nächsten Morgen wieder auf den Bagger klettern wird:
Eine steigt aus ihrem Kleid / Bis uns morgens der Wecker schreit / Dann schwebt sie ab in ihren Bau / Und vorher macht sie noch den Himmel blau über / Hoywoy …
Irgendwann, eingehängt in die Lederschlaufen an der FMP-Bar, hatte Kasi einen Satz gesprochen, der legendär wurde, noch bevor er mit schwerer Zunge zu Ende formuliert war: »Wer sich vor früh um neune off der Straße blicken lässt, hat’s im Leben zu nüscht gebracht.«
Wir dachten daran, wenn wir früh zum Bus trotteten. Und daran, dass wir ja immer noch weggehen könnten, irgendwann. Dann würden wir wie die Intellektuellen – wir nennen sie verächtlich Intis – im Prenzlauer Berg in Altbauwohnungen mit Stuckdecken wohnen. Darin würden Biedermeier-Anrichten stehen statt Schrankwänden mit Fernseher und Eierlikör-Fach. Wir würden den ganzen Abend Gedichte lesen und morgens ausschlafen.
Aber wir sind immer noch hier. Und jetzt wissen wir, warum.
Deine grauen Kinder werden groß / Werden grün oder blau oder gar rot / Eins mußte ins gelbe Elend einziehn / Eins sitzt oben im goldenen Berlin / Ham se uns überall rausgeschmissen / Ham wirs mit der ganzen Welt verschissen / Finden wir Schutz in deinem Beton / Und trainieren für die Revolution in / Hoywoy …
Kurz nachdem Gundi uns das Lied im FMP erstmals vorgesungen hat, fährt er zum Nationalen Chanson-Wettbewerb des Landes. Wer dort den Publikumspreis gewinnt, darf ein Album aufnehmen. Utopisch für einen aus Hoy. Wir trampen nach Frankfurt/Oder, belagern den Saal, bejubeln das Konzert und schmuggeln uns abends ins Hotel. Gundi und seine Band gewinnen und mit dem Album beginnt seine Solo-Karriere. Er wird Hoywoy treu bleiben, aber nicht den Feuersteinen. Für uns wird es sein, als ob Eltern sich scheiden lassen und man nicht weiß, bei wem man bleiben soll. Wenig später wird es die »Brigade Feuerstein« nicht mehr geben.
Das Lied von der blassen Blume auf Sand aber ist auf einmal nicht mehr nur unsere Hymne. 1987 begeht die Partei- und Staatsführung mit einem pompösen Umzug wieder einmal einen großen Jahrestag. Von der Ehrentribüne vor dem Palast der Republik winkt sie Transparenten zu, deren Losung die Wände im ganzen Land bepflastert: »750 Jahre Berlin – Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik.« Im gleichen Jahr singt Gundi bei einem Konzert auf der Freilichtbühne Weißensee das Lied, in dem es heißt: … finden wir Schutz in deinem Beton / und trainieren für die Revolution. Und auf einmal singen tausende: Hoywoy, dir sind wir treu.