Keiner hier hat noch an die Zukunft geglaubt, und doch rückt sie in der ersten Hälfte der Achtziger überraschend ein Stück näher. Es beginnt damit, dass wir freigesprochen werden. Wir sind jetzt Facharbeiter. Der Titel des nüchternen Akts, bei dem wir eine rote Mappe mit DDR-Emblem darauf und dem Zeugnis darin in die Hände gedrückt bekommen, ist ein Hohn. Freisprechung. Denn nun wird vollends klar, was man bis jetzt mehr oder weniger erfolgreich verdrängt hatte: Vor uns liegen hundert Jahre Pumpe.

HausiIrgendwann hab ich gedacht, jetzt sollst du bis sechzig hier in der Grube arbeiten … Nö, bloß nich! Ich bewerb mich off der Schauspielschule. Da ham’se mich natürlich durchfallen lassen, und ich hab’s ooch keen zweetes Mal probiert.

RöhliDu kamst ja an ein Studium nich über Bewerbung, sondern über Delegierung. Zumindest in Hoyerswerda war das so üblich. Bin ich zum Rat des Kreises und hab gesagt, ich möchte gern Kulturwissenschaft studieren. Da sagt die Mitarbeiterin dort, die ham schon zweie davon. Die machen in der Stadt nur Ärger, weil die nur Flausen im Kopp ham. Sie könnte sich vorstellen, dass sie sich für mich einsetzt, aber unter zwei Bedingungen. Die erste is, dass ich Mitglied der SED werde. Und die zweite, dass ich mich verpflichte, zwei Jahre lang das Jugendklubhaus zu leiten. Und wenn ich mich dort bewähre und die Linie durchsetze, die vom Rat des Kreises und von der Partei vorgegeben wird, dann wäre sie bereit, mich zu unterstützen. Dass’se nich noch’n Dritten kriegen von den Typen! Da hab ich gesagt, nee, beide Bedingungen sind für mich nich akzeptabel. Und hab dann eben Verfahrenstechnik studiert. Weil mir nüscht andres einfiel, ich aber ooch nich in Pumpe arbeiten gehen wollte.

ClaudiaEigentlich wollte ich Archäologie studieren, das hat mich am meisten interessiert. Aber da hätte man wohl vorher was arbeiten müssen mit Partei und so, das wollte ich nicht. Ich hab dann Arbeitsökonomie studiert, das hat mich nicht die Bohne interessiert.

Wie durch ein Wunder ist zur selben Zeit, Mitte der Achtziger, aus der Brache des Stadtzentrums ein Kulturpalast gewachsen. Magische sieben Jahre nachdem der Bühnenturm errichtet wurde, öffnet das dazugehörige Haus. »Siebenjähriger Krieg« wird es der Alte später nennen und wiederum Anteil an dessen glücklichem Ausgang haben. Es wird erzählt, er habe eine Horde Arbeitskräfte aus Pumpe direkt in das Werk geschickt, das Sessel für unseren Saal erst produziert und dann für Devisen nach England verkauft hatte. So sind auch die Stühle, aus deren Lehnen frische Luft in den Raum gepustet wird, im Grunde echte Pumpsche. Fast drei Jahrzehnte nach dem ersten Spatenstich für die neue Stadt wird ihr Kulturhaus eröffnet.

Als Miniaturausgabe von Erichs Lampenladen, wie der Berliner Palast der Republik nur genannt wird, thront es in der Pampa. Hinter der Glasfassade ein Meer von Kugellampen, die die Zeilen der nächtlichen Hochhauslichter neu beschriften. Im Foyer kann man mit einem Sektglas in der Hand – das hiermit Einzug in die Hoyerswerdsche Gastronomie hält – über breite Treppen auf zwei Ebenen rumloofen. Wie in einem echten Theater in einer richtigen Stadt führen verschiedene Aufgänge in den Saal, der sich in edlem Holz getäfelt auftut. Auf der riesigen Bühne – eine der größten des kleinen Landes – gibt es Theatergastspiele und Sinfoniekonzerte, Schlagerstars treten auf, Revues werden produziert und Fernsehsendungen aufgezeichnet. »Freude schöner Götterfunken« ertönt nun nicht mehr aus einer Handvoll Schülerkehlen im Stimmbruch, sondern zur Eröffnung des Hauses im professionellen Chorgesang.

Das Haus der Berg- und Energiearbeiter, das alle sofort nur HBE nennen, ist Teil des Kombinats. In jedem Büro gibt es einen Schrank, in dem die Bergmannsuniformen der Mitarbeiter hängen. Zu Feiertagen werden sie angelegt. Kultur ist ein Produktionsbereich wie andere auch, nur dass statt Kohle Gas und Energie eben Veranstaltungen produziert werden. Kunst gehört zum Bereich Arbeiterversorgung/​Sozialökonomie. Wenn bei Kombinatskonferenzen die Betriebsteile verkünden, wie viele Tonnen Brikett oder Kubikmeter Gas sie produziert haben, reihen sich die Kulturarbeiter ein mit Besucherzahlen.

MichaHundertfünfundzwanzig Leute waren wir im HBE, ohne Gastronomie. Die waren nochmal knapp fünfzig. Das war ja keine öffentliche Gaststätte. Aber wenn der Erste Sekretär der Kreisleitung von Pumpe am Nachmittag die bulgarische Delegation zum Kaffee führte, dann war die Mannschaft anwesend. Eine ganze Schicht hat dann nur die zwanzig Leute dort bewirtet. Dann vierzehn Pförtner, mit Springer und allem. Also, wirtschaftlich gesehen kannst du das gar nicht machen. Aber so hat’s halt funktioniert. Wir waren ja eine produzierende Einrichtung, auch Mitglied der AG »Große Häuser« in der DDR. Und wir hatten alle Gewerke im Haus. Dekorateure, Theatermaler, Schlosser, Tischler, es wurden eigene Bühnenbilder gebaut. Wir hatten einen Klimaingenieur mit vier Klimawarten. Die sind vielleicht nicht alle an Überarbeitung gestorben, aber es hatte schon einen Sinn. Zwanzig ausverkaufte Frauentagsveranstaltungen mit je achthundert Plätzen – das war schon eine Hausnummer!

Die seitliche Fassade des HBE ziert ein Mosaik. Arbeiter mit Helmen auf den Köpfen stehen vor bunten Rohren. Diese führen aus einer Fabrik durch eine Tagebaulandschaft zu einem jungen Paar am oberen Bildrand. Hinter ihnen geht eine riesige Sonne auf, vor der sich die Schornsteine von Pumpe abzeichnen.