Unsere Stadt funktioniert nach dem Prinzip der Fahrstuhletage. Schon als wir Kinder waren, hatte sie uns gelehrt, wie man mit Verboten umgeht. Sie war das Beste an den Hochhäusern. Der Keller war auch nicht schlecht, dort bogen sich die Regale unter der Last von Gläsern mit Eingewecktem, das unsere Mütter im Sommer quasi nebenbei im Akkord produzierten. In riesigen Rohren summte und rauschte es geheimnisvoll. Aber irgendwo war dort immer eine Wand, wo es nicht mehr weiterging.

Auf der Fahrstuhletage hingegen zog sich der Flur scheinbar kilometerweit über alle Eingänge des Hauses und verband sie im Inneren miteinander. Die Fahrstühle – falls sie fuhren, das weeß man nie! – hielten nur in der dritten, sechsten und neunten Etage. Aber einzig die sechste war Marktplatz, Freiheit und Zeichen in die Außenwelt: Nachts kündete sie als helle Zeile in der Landschaft von unserer Existenz. Wie alle Flure war sie schnöde tapeziert mit Rhombentapete in Beige. Die bedeckte auch unsere Kinderzimmerwände. Beige Rhomben, wohin das Auge blickte. Auch in Etage sechs – nur führten sie dort ins Weite, Endlose! Es hallte bis zu uns in Nummer 11, wenn ganz hinten, in der 13, etwas los war: Aufruhr im Treppenhaus, Verfolgungsjagden, Familienstreitigkeiten. Für uns Kinder hieß es dann: flinke Füße, um noch etwas mitzubekommen, bevor Ordnung Sicherheit Disziplin wiederhergestellt waren.

Die Fahrstuhletage war ein Zwischenraum – nicht mehr privat, noch nicht öffentlich. Jeden Dienstagnachmittag schleppten unsere Mütter Wäschepakete über den Flur. Punkt 15 Uhr öffnete neben dem Fahrstuhlschacht der VEB Schwanenweiß seine winzige Filiale. Die Wäsche-Annahmestellen in den Hochhäusern waren Teil einer kühnen Utopie: Der Haushalt sollte nicht mehr auf den Schultern der Frauen und Mütter lasten, sondern industriell und kollektiv ausgeführt werden. Und so brauchten sie zwar keine Bettwäsche waschen und bügeln, doch sah man selten einen Mann eines der zentnerschweren Pakete über den Flur schleppen. Für uns war Bettwäsche, die sich anfühlte wie ein Stück Pappe und deren zusammengepresste Lagen man beim Auseinanderfalten aufreißen musste, der Inbegriff von Sauberkeit. Obgleich es wahrscheinlich schneller gegangen wäre, sie von Hand zu waschen, denn so ein Gang über die Fahrstuhletage konnte sich hinziehen. Sie war ein Informationskanal in einer Welt ohne Telefon. Hier erfuhr man alles. Als Kind konnte man Haschen und Verstecken spielen, bis man erwischt wurde. Wer in der 11 an die Luft gesetzt wurde, kam in der 13 einfach wieder rein. Und alles ging von vorn los. Man musste nur die Wege kennen. Später würde das Spiel sogar einen Namen bekommen: Plattenhasche.

UweEinmal hatte ich so’n Erlebnis, dass jemand im Laden bei mir im Büro saß, wo sich dann rausstellte, das is eener vonner Stasi. Der erwartete irgendwie eine Zusammenarbeit. Richtig so’n Gespräch, wie ich das denn sehe, unsern Staat, und was halten Sie von Herrn Gundermann … Ich wie immer ganz normal gequatscht, ohne dran zu denken, dass mir das vielleicht gegen den Kopp knallen könnte. Ich bin wirklich unbefangen da rangegangen.

PfeffiDer Bernd von den Feuersteinen hat sich später mal mit so’m Stasi-Typen unterhalten, der mit seinem Kumpel im FMP immer in der letzten Reihe gesessen hat. Und hat den gefragt, warum dem FMP nie was passiert ist. Da sind ja alle aufgetreten, Krawczyk, Bettina Wegener und alle möglichen Leute – aber der Klub ist nie geschlossen worden. Und da meente der: »Na ja, auf’m Heimweg ham wa uns immer unterhalten über das Programm. Sollen’wa das melden oder nich? Und dann ham wa gesagt, ach weeßte, wir melden’s nich. Die ham doch Recht!«

RottlEigentlich konnte man in Hoyerswerda machen, was man wollte.

PfeffiMit dem Kultursekretär von der FDJ-Kreisleitung ham wir uns sehr gut verstanden beede. Der is bei fast allen Veranstaltungen im FMP gewesen und hat das sehr unterstützt. Das war’ne Type – und selten nüchtern!

Nach dem kam ’n anderer. Der is nich zu unseren Veranstaltungen gekommen, aber hat uns in Ruhe gelassen. Aber dann kam eener, der hat uns nüscht als Ärger gemacht. Hat uns dazwischengefunkt und gesagt, dass er das total scheiße findet hier – dieses ganze komische Zeug, Jazz und Liedermacher. Und die Arbeiterjugend will was anderes. Die Arbeiterjugend will Disco, und die würde sich für Mode interessieren und Fußball natürlich und Skatspielen – und nich so’n Zeug.

SchudiDieses Horch und Guck, das war schon n’ Thema. Der und der könnte da sein … Und über die Hoyerswerdaer Kirchen- und Umweltkreise, da hat man bisschen mitgekriegt, welche Repressalien es geben könnte. Aber jetzt liest man ja manchmal, dass diese ganze Künstlerszene dermaßen durchsetzt gewesen sein soll, dass angeblich jeder Zweete bei der Firma war. In allen Medienberichten ist das omnipräsent: Stasi, Stasi, Stasi. Aber ich wüsste nich, wer im Laden … Und gerade dort müssen die doch gewesen sein, das war doch mega subversiv! Es hat aber für uns gar keine Rolle gespielt. Überhaupt kein bisschen. Weder als Misstrauen noch als Angst.

MauraIch war noch keene achtzehn, da war ich inner Zionskirche in Berlin auf’m Konzert, ’ne Band aus Ungarn. Da war paar Straßen weiter ’n Nazi-Aufmarsch und zwischendrin natürlich die Volkspolizei. Da ham’se mich angehalten. Meinen Ausweis wollten’se natürlich haben, und das ging dann ganz schnell. Alles andre hat ewig gedauert, wenn’de ’ne Brille brauchtest oder’n Passbild oder so. Aber das hat keene zwee Tage gedauert, da stand die Stasi bei uns anner Tür. Meine Mutter hat aufgemacht und wusste sofort, wer das is. Also wenn das mein Kind gewesen wäre und die hätten vor der Tür gestanden, hätte ich gesagt: »Lassen’se meinen Jungen in Ruhe!«

Die kamen dann öfter. Aber meine Mutter immer nur: »Da sind wieder diese Männer.« Ich musste dann mit runter. Da standen die mit so’m ollen grauen Wartburg, da musste ich mich mit reinsetzen. Und dann wollten’se was wissen über irgendwelche Leute. Ich sollte quasi IM werden. Und da gab’s dann – die hab ich mir geholt später – schon’ne Vorverdichtungsakte mit’m Foto von meinem Ausweis drin. Ja, ich war erfasst.

ClaudiaIch hab das im Laden als sehr offen empfunden. Wir ham uns nie eingeschränkt gefühlt. Selbst wenn wir dachten, da ist jemand von der Stasi. Da wurde trotzdem nicht hinter vorgehaltener Hand geredet.

RottlWir ham mit dem Arbeitskreis im März 89 ’n Film gedreht, »Die unbewohnbare Republik«. Der is dann geloofen bei »Kennzeichen . Das ging alles über Westjournalisten. Das erste Mal, dass man was wirklich Illegales gemacht hat. Bei mir ging das alles gut. Aber das kannst du ni verallgemeinern. Den Rolf ham’se in’ Wald gefahren und ausgesetzt, so bisschen Angst gemacht. Aber wir ham uns schon gewundert, dass’se uns sonst in Frieden gelassen ham. Ich hatte ja die ganzen Umweltblätter, diese Underground-Magazine, zuhause. Und hab die immer zur Nachtschicht mitgenommen. Ich wollt’se halt lesen und hab mir keene Platte gemacht, ob das illegal is. Da hat der Meister mich mal zusammengefaltet. Aber ich hab keene Angst gehabt. Nein, niemals.

MichaDass auch im HBE die Kollegen von Horch und Guck allgegenwärtig waren, war klar. Das war schon in der Scholz-Halle so, da kamen immer zwei junge Herren zu unserer Leiterin und haben sich ihre vier Karten für unsere Jugendkonzerte abgeholt, weil sie natürlich gucken mussten, wer da so … Aber wir wurden nicht reglementiert.

PfeffiDas Einzige, wo ich immer Ärger gekriegt habe, war das Gedruckte. Die Info-Blätter der Jugendklubs wurden ja herausgegeben von der FDJ-Kreisleitung, und die ham dann einfach Sachen von mir, zum Beispiel übers Folkfest, überklebt. Da stand dann auf einmal: »Woche der Waffenbrüderschaft« oder »Aus dem Leben der FDJ«. Oder sie haben die Dinger eingezogen und eingestampft, die ganze Auflage. Aber ich hatte mir natürlich immer ’n ganzen Packen beiseitegelegt und verteilt. Ich hab die geholt aus der Druckerei, und das war das Erste: Eh’s verboten wird – weg!

Über uns wachen ominöse Kreisleitungen, in Pumpe gar Industrie-Kreisleitungen. Deren Gebäude im Eingangsbereich des Kombinats wird von den Pumpschen nur Faultierhaus genannt. Regelmäßig dringen Verbotsbeschlüsse aus diesen Häusern nach außen. Irgendwas darf man wieder nicht – ähnlich den tausend Augen, die von der Hochhausfront das Geschehen an den Wäschestangen umfassend überwachten. Aber wir haben gelernt, uns im Ernstfall hinterm Trafo-Häuschen zu verstecken.

Als irgendwann, es ist Mitte der Achtziger, mal wieder eine Weisung von oben einen Auftritt von Gundi und den Feuersteinen unterbindet, erfinden wir die Hoy-Schrecke. Ein Preis, der einmalig verliehen werden soll. Ein Bonzen-Schreck. Um Material für die Skulptur zu kaufen, sammeln wir Geld, dessen Beträge Hausi sorgfältig mit Bleistift auf einem alten Einkaufszettel notiert. Gemeinschaftlich bauen wir ein kubistisches Werk, das wir den Feuersteinen bei einem Auftritt überfallmäßig, mit Spruchbändern und Megafon, überreichen werden. Auf einem goldenen Sockel sitzt eine Art Insekt aus Metall, bereit zum Sprung. Aus Gips formen wir viele kleine Exemplare der Urzelle des Schreckens: der kugelige Feuerstein-Bus. Verwaschene Schwarz-Weiß-Fotos zeigen uns dicht an dicht auf Hausis Balkonboden sitzend, Gipsklumpen und Pinsel in den Händen, farbverschmiert und mit ernsten Gesichtern. Das hier ist kein Spaß, nicht mehr. Von der gegenüberliegenden Straßenseite lacht die ewige Sonne des HBE-Wandbilds der glücklichen Arbeiter, über uns der gaswerksgeschwängerte Himmel von Hoy.

Im Winter verschwinden regelmäßig die hellen Zeilen der Fahrstuhletagen in der Dunkelheit. Stromausfall. Sobald die ersten Flocken fallen, ist unsere Stadt im Winterkampf. Dauernde Alarmbereitschaft. Wenn die Kohle und die Gleise in den Gruben einfrieren, kommen die Kumpel manchmal tagelang nicht nach Hause. Irgendwann müssen alle verfügbaren Kräfte in die Gruben, um Eis und Kohle von Förderbändern, Waggons und Gleisen abzuhacken. Das Klacken der Bänder, das man nachts von fern leise hört, darf nicht verstummen!

Erste zweete dritte Welle zählen nun nicht mehr, der Rhythmus stockt, läuft wieder an. Jederzeit kann es jetzt rausgehen in die Gruben. Jederzeit können die müden Männer wieder in der Stadt auftauchen, mit Ringen unter den Augen und unrasiert. Die Armee wird geschickt. Betrunkene Soldaten, für die der Einsatz eine willkommene Abwechslung darstellt, bevölkern die Kneipen. Genau so, ahnen wir, muss es zur Zeit der Zwischenbelegung gewesen sein.

In der Schule wird jetzt der Energieschüler zur wichtigen Person. Im Klassenzimmer sitzt er direkt neben dem Lichtschalter und ist dafür zuständig, dass wir nur keine Energie verschwenden. Denkt immer dranne, dass eure Eltern schwer dafür orbeeten müssen! Der Energieschüler darf – ja muss! – im Unterricht aufspringen und auf den Schulflur laufen, um zu kontrollieren, ob dort kein Lichtlein sinnlos brennt und die Republik in Gefahr bringt. Alles andere wird jetzt entschuldigt. Keine Hausaufgaben, Zuspätkommen, Hausordnung nicht gemacht – Winterkampf! Energie Gas Kohle, der Republik zum Wohle. Berlin braucht Strom. Deshalb gehen im Winter bei uns die Lichter aus. Sobald es in den Wohnungen schlagartig dunkel wird, greifen alle seufzend zu den bereit liegenden Kerzen und Taschenlampen. Ansonsten geht alles weiter wie gehabt, nützt ja nüscht.

Als Kind aber musste man sich nun umgehend zur Fahrstuhletage begeben. Überall war es stockfinster, kein Fahrstuhllicht, keine Straßenbeleuchtung. Sämtliche Nachbarhäuser waren nur als dunkle Umrisse mit unstetig aufflackernden schwachen Lichtreflexen zu sehen. Eben war unsere Stadt noch da gewesen mit ihren geometrisch angeordneten Lichtreihen, die wir nach WKs genau zuordnen konnten. Jetzt war sie verschluckt worden von einem großen, schwarzen Loch. Wir befanden uns in einer Art riesiger Raumstation. Wie Gagarin, mitten im Nichts. Die Rohre rauschten bedrohlich. Jetzt hatten wir nur noch uns. Gespenstische Rufe erklangen von ganz fern, aus Nummer 13, wo es noch menschliche Lebensformen zu geben schien. Mit unseren Kerzen schickten wir Zeichen in die Unendlichkeit.