In den späten Achtzigern wächst unsere Stadt unaufhörlich. Sie streckt ihre Betonfinger nun in den Wald, Richtung Pumpe, aus. Keiner denkt mehr an die Fischlein- und Reiher-Mosaike, die Fassaden und Portale der ersten Häuser – jedes ein Unikat. Auch die grünen Höfe der ersten WKs, in denen wir an Wäschestangen kletterten, sind vergessen. In den späten Achtzigern gilt nur noch eines: Mehr! Mehr Tonnen Kohle. Mehr Kubikmeter Gas. Mehr Kilowattstunden Energie. Wir wollen, nein wir müssen den Kapitalismus überholen.
In einem Theaterstück der Feuersteine fahren der große und der kleine Klaus auf einem Schiff: einer am Steuer oben auf dem Ausguck, einer unten am Ruder. Der große Klaus feuert den kleinen an, härter zu schuften, weil man die »Imperial« überholen müsse. Immer näher kommt das Traumschiff, schon sieht man das herrliche Sonnendeck. Da hält der kleine Klaus – kurz vorm Zusammenbrechen – die Ruder an und fragt: »Wollten wir nicht ganz woanders hin?«
Wo wir vor allem hinwollen, sind eigene Wohnungen. Schon 1973, als wir noch rote und blaue Punkte in die Brigadeschachtel sammelten, war ein Programm dafür beschlossen worden. Es versprach bis 1990 »jedem seine Wohnung«. Seinerzeit malten wir fliegende Autos und freuten uns auf die Zukunft. Jetzt sitzen wir im Kinderzimmer und haben wieder keine Wohnung abbekommen.
Unsere Stadt aber befindet sich ganz sicher auf dem steilen Weg nach oben, bald werden wir Großstadt sein. Die Kräne klotzen und klotzen. Auf ihrem Weg zur Metropole überquert die Neustadt die Fernverkehrsstraße, auf der Stunde um Stunde LKWs und Schichtbusse gen Pumpe und zurück rollen. Wer das Glück hat, im WK X eine Wohnung zu ergattern, muss sich für immer vom Rest der Stadt verabschieden oder todesmutig die F97 überqueren. Ein Tunnel wird gebaut, der die neue Stadt mit der noch neueren verbindet. Doch kurz währen Freude und Zuversicht: Beim ersten Regen stellt sich heraus, dass er so billig und lieblos hingeklotzt wurde wie alles um ihn herum. In kürzester Zeit läuft er voll Wasser, das schon bald vor sich hin modert und stinkt. Alle wissen, dass bis zum Sanktnimmerleinstag kein Bautrupp auftauchen wird, um den Schaden zu beheben. Es ist, als würde das letzte kleine Versprechen, an das zu glauben wir geneigt waren, in einem dunklen Loch unter der F97 verrotten.
»Der Tunnel« heißt unsere erste eigene Theaterperformance. Die Bühne ist das kleine Podest im Laden, geprobt haben wir ein einziges Mal, Texte hastig auf Zettel geschrieben und Hausis kleine Tochter immer wieder der Tunnel ins Mikro sprechen lassen. Jetzt hallt die Kinderstimme verzerrt durch den Raum. Dazu spricht Hausi mit Grabesstimme: »Die Stadt lebte zwei Leben.« In einem davon sind wir Künstler.
HausiIch weeß noch, wie wir auf die Idee gekommen sind. Spät nachts fing Hugo an, irgendwelche Stegreifspiele mit uns zu veranstalten, also Theater, Schauspiel. Und dann hatter gesagt: »Hier macht keener was. Macht selber was!«
UweSo sind die Leute aktiv geworden. Das waren ganz schön viele, und die haben schräges Zeug gemacht. Selbst Leute wie Pö und Krehe, also keine Intellektuellen. Sahnebällchen ooch. Der hat plötzlich was improvisiert. Ging einfach auf die Bühne und hat was über Dinosaurier erzählt, bei irgend’ner Veranstaltung. Und hat gemerkt, dass er das kann. Auf einmal haben alle Kunst gemacht.
HausiWir haben irgendwelche Texte, die eener geschrieben hatte, rezitiert, Henry anner Gitarre. Dann ham’wa angefangen, Theater zu spielen, und dann ham’wa Kunst gemacht. Also Wände beschmiert und so. In meiner Bude – weil dorte Platz war und sowieso dreckig – ham’wa mit Gips irgend’ne Scheiße zusammengepappt. Und dann hat Timon irgendwelchen Dresdnern erzählt, er ist Künstler, und hat das verkooft: hundert Mark.
RöhliDas war ’ne richtige Sucht, kreativ zu sein. Mit diesen Bildern, Skulpturen, die ganzen Gedichte. »Im Spreewald sank des Guppys Caravan …« Da ham wir so Experimente gemacht, jeder musste zwei Zeilen schreiben und so was. Wir haben wirklich unzählige von diesen Gedichten gemacht, die wir als dadaistisch klassifiziert haben. Ooch die Kunstwerke waren dadaistisch, klar. Da ham’wa uns ja gegenseitig immer heiß gemacht, dass auf keenen Fall ’ne Aussage drinne sein darf!
YvonneDann hab ich mit Steven »Hexe und Exorzist« gespielt. Der hatte die siebenschwänzige Katze und ich: »Nein, neeeein …!« und musste auf der Bühne rumrutschen, mich auf dem Boden wälzen und schreien. Und der hat mich mit Genuss ausgepeitscht.
RöhliDass wir im Prinzip das Chaos zelebriert ham, das hat sich dann ooch in so Namen niedergeschlagen wie »Exzess-Klub«. So ham wir uns ja ’ne Weile genannt. Wirklich jedes Stück, alles, was wir inszeniert ham, hat nur Sinn gemacht, wenn’s im Chaos geendet hat. Da ham’wa uns schon immer gefürchtet, weil wir wussten – selbst wenn wir’n andern Schluss festlegen – eener muss zum Schluss das Chaos fabrizieren, sonst is das nich gut.
Wir werden Eugène Ionesco und Konstanty Ildefons Gałczyński entdecken, uns nach Letzterem »Kleintheater Grüne Gans« nennen, später »Die Zeugen Mitropa«. Wir werden im Laden spielen und in Abrisshäusern, auf Partys und manchmal sogar seriös mit Textbuch und Regie im Großen Saal des HBE. Selbst der Klub der technischen Intelligenz lädt uns eines Tages ein. In der Wohngebietsgaststätte Olympia bieten wir mit ernsten Mienen – und unter Einbeziehung eines zentnerschweren russischen Synthesizers, den Hausi extra in Prag gekauft hat – unseren grotesken Nonsens dar. Die Kolleginnen und Kollegen Ärzte, Lehrer und Ingenieure – gewohnt, Brigitte Reimann oder Thomas Mann zu rezitieren und zu diskutieren – folgen unserem Treiben zunehmend fassungslos.
Nie werden wir am Anfang wissen, welches Ende wir spielen. Alle Figuren sind überzeichnet, die Szenerien surreal. Mit unseren Körpern werfen wir uns in das Geschehen. Es kommt vor, dass nach einem Auftritt jemand im Krankenhaus landet. Alles ist Spiel, alles ist Tod und Ernst. Bei Tränchen Traurig, Gundi und den Feuersteinen war es immer darum gegangen, am Ende Sinn herzustellen. Bei uns ist nur das Ende übrig geblieben.
Die Bands, die wir jetzt hören und auf deren Konzerte wir gehen, heißen »Die Anderen«, »Schleim-Keim«, »Expander des Fortschritts«, »AG Geige«, »Die Skeptiker«, »Die Art«, »Herbst in Peking« oder »Die Vision«. Dissonant, schrill, mit Klangcollagen oder zerhackten Textzeilen, die zueinander in Bezug zu setzen man gar nicht erst versucht. Dafür waten wir gern durch den knöchelhohen Matsch auf die andere Seite des Tunnels ins WK X, wo die ehemaligen FMP-Kneiper Harry und Petra in einem neuen Klub den Underground ans abgehängte Ende der Stadt holen.
Uwe lädt immer noch regelmäßig Liedermacher mit ihren Wollpullovern und traurigen Gesängen in den Laden ein. Aber ihre gereimten Zeilen und perlenden Akkorde erreichen die meisten von uns nicht mehr. Wenn es jetzt auf der Laden-Bühne klampft, verziehen wir uns in die Küche. Von der Klubleitung gerügt, hatten wir uns in einem letzten Versuch beim Konzert eines Berliner Lied-Duos in die erste Reihe gesetzt. Mitten im Konzert hatte Maik sich erhoben, vor den Augen der verdutzten Sänger seinen Stuhl umgedreht und den Rest der Vorführung mit dem Rücken zur Bühne gesessen. Zukünftig dürfen wir bei Konzerten wieder in die Küche.
Unsere Hymne ist »Szerelem«. Zu später Stunde, wenn wir wissen, dass wir gleich wieder rausmüssen, in die Welt der erstarrten Direktiven, legt einer die Kassette ein. Dazu verharrt man mehr oder weniger starr auf der Tanzfläche und bewegt den Kopf heftig, wenn das »Albert Einstein Komitee« in den Raum rotzt: Szerelem, szerelem, szerelem, szerelem, szerelem, szerelem. Köpni kell! Köpni kell! Köpni kell! Köpni kell! PÜ-PÜ!!! »Liebe, ich spuck auf dich. Ich spuck auf dich. Ich spuck auf dich.«
SchudiDas war alles nur noch düster, Blut tropft, trallala hopsassa. Da waren wir absolut Kinder der Zeit, das haben wir ja nich erfunden. Alles war schwarz und rot, überall. Die Studentenwohnungen wurden so angemalt, der Laden, alles, das waren die beherrschenden Farben. Und Bands wie »Ornament und Verbrechen«, die haben ja ooch nur ein destruktives Zeug gemacht. Es war immer sehr nihilistisch. Irgendwas zersägen, der Puppe den Kopf abschrauben und so was. Es musste immer alles geschreddert werden. War nicht schlecht – man lernt dabei, mit Material umzugehen.
Und es war ja auch so, wenn man bei Lesungen war, wie bei Karma oder Anderson: Nur so düsteres Zeug. Ohne Zukunft. Immer Chaos. Und warum war »Die kahle Sängerin« so erfolgreich? Was sind wir da hingerannt! Tonnenweise die Leute ins DT. Ich hab das zehnmal gesehen. Warum haben wir das so gemocht? Weil, das war einfach wirklich: Stop making sense. Das war einfach mal völlig absurdes Theater. Wo der Sinn komplett weg ist, nur Wahnsinnige durch die Gegend rennen und zum Schluss – das hat die Katja Paryla so inszeniert – rennen die nur noch stammelnd und schreiend auf das Publikum zu. Wie Zombies. Aber das war ja keen Wunder. Wenn so’n Mehltau über einem Land liegt.
In den großen Städten, in den Seminarräumen und Studentenkellern der Unis, an Theatern und in Cafés wird über Glasnost und Perestroika diskutiert. In Hoy treffen die Nachrichten davon an jedem Freitag mit den Uni-Heimkehrern ein. In den Kirchen, so hört man, sammele sich die Opposition – ein neues Wort! In Hoy aber rollt unbeirrt von den Gängen der Weltgeschichte der ewige Kreislauf der Schichtbusse. Wie ferngesteuert reihen sich täglich die Aktentaschen an der Magistrale auf, nehmen die Pumpschen Kopf-Hinterkopf-Aufstellung in den Bussen, fahren morgens aus der Stadt und nachmittags zurück. Danach verschwinden sie in ihren Häusern. Ein Perpetuum mobile des Stillstands. Zu Hause hab ichs schön / zu Hause hab ichs schön / Ich hab überhaupt kein’ Bock mehr / ich hab überhaupt kein’ Bock mehr / auf die Straße zu gehn, leiern wir auf der Bühne einen Song von Hugos Band »Wund- und Spritzköpfe«. Darauf antwortet der Chor: »Er verblödet.« Und der Hauptheld: »Ich verblöde.«
Der Tanz auf der Titanic kann nicht lustiger gewesen sein als das letzte Jahr der DDR im Laden. Wir inszenieren eine Modenschau: »Metamorphische Müll-Metastasen«, bei der wir aus stinkenden Mülltonnen kriechen, ihren Inhalt auf der Bühne verteilen und uns darin wälzen. Später sitzen zwei von uns sich reglos gegenüber und wiederholen in minutenlangen Abständen ewig zwei gleiche Worte. Der Saal tobt. Die fünf dissidentischen Zwerge, die das Programm am Rand subversiv kommentieren sollen, sorgen fast für dessen vorzeitigen Abbruch und unser aller frühes Ende. Als sich einer über eine Kerze beugt, geht sein Bart in Flammen auf, dem zu Hilfe eilenden Zwerg-Kollegen wiederfährt Gleiches … Wir sind fröhliche Nihilisten.
RöhliWir waren rebellisch, ja. Aber es war kein zielgerichteter politischer Widerstand mit Programm. Ich hatte manchmal Situationen, wo ich dachte: »Wie lange hältst du das hier noch durch?« Eigentlich wussten wir, dass es so nich weitergeht: Es wird irgendwann zusammenbrechen! Aber Shit happens, und wir versuchen, das Beste noch draus zu machen.
Uwe88/89 ging das los, mit diesem »Sputnik«-Verbot zum Beispiel. Wir hatten ja ’ne Wandzeitung im Flur, und da hab ich natürlich ooch was rangemacht, als dieses Magazin nich mehr erscheinen durfte. Das is bei der FDJ-Kreisleitung gelandet. Irgendeener von den Besuchern hat das gemeldet. Musste ich da wieder antanzen. Diesen Artikel hätte ich zu entfernen und ob ich denn bescheuert sei. Das waren so Anzeichen, wo man gemerkt hat: Es passiert was.
PfeffiIm Frühjahr 1989 bin ich im Bezirkskabinett für Kulturarbeit gewesen, da meente mein Chef zu mir: »Ich war in der Bezirksleitung, und der Werner Walde hat gesagt, es gibt hier zwei schwarze Szenen im Bezirk Cottbus. Die möchte er unbedingt ausgerottet haben. Das ist zum Ersten die ganze Jazz-Szene um Cottbus und was damit zusammenhängt, einschließlich Scheuerecker und Punk, die Band Sandow und so. Und das andere ist die sogenannte Szene um diesen Gundermann in Hoyerswerda. Diese ›Brigade Feuerstein‹ und diese Klubs da. Ich wollte dir das bloß sagen, dass ihr euch ’n bissl vorseht. Dass die mit euch was vorhaben.«