Als wir noch Kinder waren, stülpte die Stadt immer am Ende des Sommers, pünktlich einen Tag vor Schulbeginn, ihr nach außen verlagertes Leben wieder nach innen und fuhr den Motor rumpelnd hoch. Spätestens dann kehrten alle zurück, die im Juli lärmend ausgezogen waren – froh, den Schichtbussen und dem ewigen Gestank nach Gaswerk für ein paar Tage oder Wochen zu entfliehen. Der letzte Buskonvoi aus Oppach brachte die Kinder des dritten Durchgangs zurück nach Hause.
Wenn sich die gelben Ikarus-Busse, die sonst nach Pumpe fuhren, zurück in die Stadt schlängelten, blieben wir kurz stehen und erinnerten uns, wie wir mit unseren Koffern – bereit zur Abfahrt – vor dem Ferienlager angetreten waren. Die Busse hatten sich den Berg hochgeschoben und mit quietschenden Bremsen vor uns gehalten. Wenn sich ihre Türen öffneten, war es vorgekommen, dass aus dem Innenraum eines von ihnen der scharf stechende Geruch nach Gaswerk in die Oppacher Gebirgsluft strömte. Nichts kannten wir besser: Stinkt wieder nach Pumpe! Zuhause seufzten dann alle und schlossen die Fenster. Hier aber, nach zwei Wochen Frischluft und Pumpe-Abstinenz, war der Duft Anlass gewesen, die mühsam hergestellte Ordnung Sicherheit Disziplin augenblicklich über den Haufen zu werfen. Alle Kinder waren gleichzeitig in den Bus gestürmt: Hier riecht’s wie heeme!
Als wir später nicht mehr nach Oppach fuhren, sondern durch Osteuropa trampten, sammelte uns am Ende jedes Sommers der Laden wieder ein. Wenn die großen Ferien in unserem Land vorbei und in Hoy alle wieder heeme waren, trafen wir uns zum Hausfest. Manche kamen direkt von der Landstraße, mit der unvermeidlichen Kraxe auf dem Rücken. Zerlumpt, dreckig, braungebrannt, müde und glücklich. Alle standen auf der kleinen Freifläche vor dem Laden rum und schrien durcheinander. Wir waren wieder da.
Auch am letzten Samstag des August 89 lehnen Kraxen an der Wand im Laden, und wir versammeln uns davor. Aber etwas ist anders. In diesem Jahr gibt es nur ein einziges Thema. In den Zügen nach Ungarn und auf den Straßen von Budapest ist man ununterbrochen gefragt worden: »Und wann gehst du?« Denn tausende verlassen über Ungarn das Land oder warten in der westdeutschen Botschaft in Prag auf ihre Ausreise. Auf einmal scheint es abwegig zu sein, wegen des Ostens in den Osten zu fahren. Als wäre er nur etwas wert als Transitraum in den Westen.
In den Schichtbussen gibt es seit ein paar Wochen auf einmal Sitzplätze. In den morgendlichen Reihen der Aktentaschen klaffen Lücken. In den Unis werden nach der Semesterpause Kommilitonen fehlen. Und die Frage, wer mit uns jetzt vor dem Laden steht und wer noch fehlt, bekommt auf einmal eine andere Bedeutung.
SchudiDas ist ja eigentlich komisch: Wir haben im Laden unsern Frust zwar ausgedrückt, aber sind trotzdem nicht so durch die Gegend gerannt wie in Berlin und Dresden viele. Diese Meckerei, dieses ewige: »Haste ooch’n Antrag gestellt?« Antrag, Antrag, Antrag. Das war die letzten zwee Jahre überall Dauerthema. Und bei uns überhaupt nich.
RottlIch weeß, dass’se uns in Ungarn überall doof angeguckt ham. Und wir ham uns gefragt, warum die uns immer an die Grenze bringen wollten, nach Österreich. Aber wir wussten, wir wollten zurück. Wir hatten keen’ Plan – außer, dass’wa wieder heeme wollen.
Am Ende des Abends werden aus unserer Gruppe alle wieder da sein. Keine und keiner fehlt. Vielleicht, weil sich der Moment, da wir als Kinder unsere Nasen auf die rissigen, nach Gaswerk stinkenden Kunstledersitze eines Schichtbusses pressten, in uns eingebrannt hat. Vielleicht, weil wir wissen: Es muss welche geben, die für das Licht sorgen, das andere mit großer Geste löschen. Oder weil wir glauben, dass wir immer noch für die Revolution trainieren. Als sie kommt, wird sie nicht in Hoy beginnen.