Der 7. Oktober ist Republikgeburtstag. Für uns ist er vor allem der Name des Platzes, der nach Jahrzehnten des Wartens Ende der Achtziger unser neues Stadtzentrum markiert: Die Fläche zwischen CENTRUM-Warenhaus und Haus der Berg- und Energiearbeiter heißt jetzt »Platz des 7. Oktober«.
Am Rand, direkt neben dem Kulturhaus, erstreckt sich neuerdings im Erdgeschoss eines langgezogenen Hochhauses die ersehnte Ladenzeile: Geschäfte für Radio- und Fernsehtechnik und für Kurzwaren, mit Häkeldeckchen im Schaufenster. Daneben das Café Drei Eichen, das nach unserem Stadtwappen benannt ist, aber von allen nur Drei Leichen genannt wird. Männer, die hier ein Bier zischen wollen, müssen ein Herrengedeck bestellen. Zu diesem Zweck müssen sie eine Frau finden, die bereit ist, das dazu gehörende Piccolöchen zu trinken. Man hat gehofft, so die Stadtalkis fernzuhalten und das Niveau des Hauses zu heben. In der Realität macht das Herrengedeck das Café zu einem Mekka ungehemmter Kontaktanbahnung. Übertroffen nur von der Nachtbar Taverne ein paar Schritte weiter, in die der Herr nur in Stoffhose und mit Krawatte Einlass findet. Ein Ort, den die Ehepaare der Stadt aufsuchen, wenn sie sich der Illusion verruchten Nachtlebens zwischen plüschigen Sesseln, rotem Licht und Grüner Wiese – gemixt aus Orangensaft und blauem Curacao – hingeben wollen. Auch die regelmäßig in der Stadt gestrandeten DKP-Delegationen kann man dort treffen. Verzweifelt versuchen sie, ihr Ostgeld auszugeben, und schwärmen dabei vom Sozialismus.
Der zeigt auf der anderen Seite des Platzes, was er kann: In der dortigen Hochhauszeile gibt es eine Mokka-Milch-Eisbar, das Restaurant Zum Wassermann, ein Reisebüro der DDR und vor allem Exquisit und Delikat. Dort setzen die Pumpschen ihre üppigen Schichtzuschläge in westliche Samtpullover und Ananasbüchsen um. Um aber dorthin zu gelangen, muss man immer noch eine Sand- oder Schlammwüste durchqueren beziehungsweise bei Regen einen See umrunden. Nur die Hälfte des Platzes ist gepflastert und nach dem Gründungstag der Republik benannt – als hätte für den ganzen ihre Kraft nicht gereicht.
Am 7. Oktober 1989 feiert sie nun ihren 40. Geburtstag. Keiner weiß zu diesem Zeitpunkt, dass es ihr letzter sein wird – aber im Land brodelt es. In Leipzig und Berlin gehen seit Wochen Menschen auf die Straßen und werden sich auch an diesem Tag versammeln. Seit Tagen verlesen Künstler des Landes bei ihren Auftritten überall auf den Bühnen eine Resolution. Darin sprechen sie von »Sorge um das Land«, vom »Exodus«, der es erschüttert, und vom »Starrsinn der Partei- und Staatsführung«. Sie fordern »Veränderung« und »Demokratie«. Durchschläge des Textes auf dünnem Pergamentpapier kursieren im Land, während sich in den großen Städten Einsatzkräfte der Polizei sammeln und die Krankenhäuser Betten für Schusswunden-Opfer bereithalten.
In Hoy kursiert nichts. Auf dem Platz des 7. Oktober haben sich die Volksfest-üblichen Stände in Stellung gebracht: Bier, Zuckerwatte und HO Grillschnitte. Am Rand des Stadtzentrums sind ein paar dicke Wolgas vorgefahren: Die Bezirksleitung ist zu Besuch. Die Provinz-Bonzen stehen neben Generaldirektor Richter vor einem roten Band, das über die Straße gespannt ist. Als der Alte es mit einer Schere durchtrennt, sind wir der Zukunft wieder ein Stück näher gekommen: Genau von hier werden uns ab jetzt moderne Oberleitungsbusse in die WKs bringen. Wie schwarze Linien zeichnen die Leitungen Schraffuren in den Himmel über Hoy. Bei uns fährt man jetzt mit Strom! In Wahrheit geht es weniger um technische Avantgarde als darum, dass in unserem Land Geld und Erdöl für Sprit zusehends knapp sind. Aber das interessiert schon keinen mehr in diesem Oktober 89, da wir an nichts weniger glauben als an die Zukunft. Der Ort, den der Alte jetzt einweiht und an dem die Drähte des Fortschritts enden, heißt: Wendeschleife.
RöhliEs gibt so Sachen, die bei mir wie Karteikarten sind. Das waren die Tage um den siebenten Oktober … Gorbatschow in Berlin, Demos. Die Resolution war ja nich der einzige Aufruf, der kursierte. Wir waren in diesem Adrenalin drinne, im Fieber – ohne dass wir wussten, was kommt. Und an dem siebenten Oktober hat man am Nachmittag schon gesehen, was sich in Berlin alles zusammenbraut. Das war eine Suppe, die kochte.
KarstenAm siebenten Oktober sollten Wenzel/Mensching auftreten, mit »Neues aus der DaDaEr«. Sie waren Mitunterzeichner dieser Resolution und haben sie vor jedem Auftritt verlesen. Früh am Siebenten klingelte bei uns zuhause das Telefon. Da rief der Kultur-Verantwortliche von der Stadt mich an – wahrscheinlich, weil ich als Einziger ’n Telefon bei meinen Eltern hatte. Wo denn Wenzel und Mensching übernachten. Da hab ich gesagt: »Weeß ich nich.« Jedenfalls sind die in das Hotel von denen gekommen und haben die Forderung aufgemacht: Auftrittsverbot bei Verlesen der Protestresolution. Und da haben die sich geweigert.
UweEs kam eine Anweisung vom Rat des Kreises. Dass zu unterbinden ist, dass Wenzel/Mensching in Hoyerswerda auftreten dürfen.
KarstenDie beiden sind dann in den Laden gekommen, und wir haben mit ihnen besprochen, was wir jetzt machen. Da kam einer von draußen und hat gefragt, ob’s noch Karten gibt für abends. »Nee, Veranstaltung fällt aus.« Der fragte, ob er wenigstens das Plakat aus dem Fenster haben kann. Wir ham das abgemacht, zusammengerollt und ihm rausgegeben. Und wenige Minuten später kommt’n Anruf, die Stadt. Was hier passiert, wir würden Transparente verteilen. Und da haben wir gesehen: In der Einfahrt gegenüber stand’n Wartburg. Da saßen paar Herren drinne und haben uns beobachtet. Kurz darauf fuhren plötzlich Polizeiwagen vor, direkt über die Wiese – wahrscheinlich, um den Vordereingang zu blockieren. Die kamen rein und fragten, wer hier die Herren Wenzel und Mensching sind. Haben nach den Ausweispapieren gefragt, die einbehalten und die beiden dann mitgenommen.
SchudiAlle waren peinlich berührt. Standen da, auf’n Boden geguckt. Eine ganz ruhige, gesetzte, blöde Stimmung. Wie die dann so abgeführt wurden. Nicht in Handschellen, das ist ja Quatsch. Beide wurden fünfzehn Uhr verhaftet.
UweIch hab dann beim FDJ-Zentralrat angerufen. Die kannten sich ja alle, das war da oben in Berlin ’ne ganz andere Liga. Und die haben rumtelefoniert und über verschiedene Kreise versucht, was rauszukriegen. Dann war klar, Wenzel/Mensching sind Richtung Pumpe zur Bezirksgrenze gebracht worden. Gruselig.
HausiWir haben uns abends alle im Laden getroffen und uns besoffen. Wir waren total angepisst. An der Straße stand die ganze Zeit ein Beobachtungsposten, im Auto. Und Maik is irgendwann rausgegangen zu dem und hat gesagt: »Hier haste’n Kaffee, du kannst ooch reinkommen. Wir ham nüscht zu verheimlichen.«
PfeffiAm Abend hat jemand eine Kassette mit Liedern von Wenzel/Mensching eingelegt und alle haben mitgesungen.
ClaudiaDas Lustige war nur: Diese Resolution haben wir dann abgeschrieben. An Kopierer und so was war ja nich zu denken. Jeder, der bisschen tippen konnte, hat mitgemacht, im Büro auf der Erika-Schreibmaschine mit Durchschlägen. Da haben wir die das erste Mal zu Gesicht gekriegt. Die war ja harmlos, da fragt man sich heute wirklich … Wäre das alles nich passiert, hätten wir das wahrscheinlich nich gemacht. Aber so haben die dann alle weiterverbreitet.
SchudiWir sind nachts im Wartburg zurück nach Berlin. Bürgerkrieg auf der Schönhauser. Nebelschwaden, alles rennt rum, die ganze Straße vollgestellt mit Einsatzfahrzeugen, eins am andern. Mit laufendem Motor – kannst dir den Gestank vorstellen. Und in den Fenstern überall Kerzen und so was. Die nächsten Tage sind wir alle nur noch rumgerannt wie die Wahnis, völlig konfus. Jeder dikutierte mit jedem: Wie soll’n das hier weitergehen? Später habe ich wegen der Verhaftung von Wenzel/Mensching eine Eingabe an den Genossen Kulturminister Höpcke geschrieben. Da staune ich selber über mich. Antwort von ihm: »Auch ich bedaure diesen Vorfall sehr.« Das war dann aber schon irrelevant.
RöhliIch war bei der Verhaftung im Laden dabei und hab’s als Skandal empfunden – aber nich als persönliche Bedrohung. Irgendwie war eh alles am Auseinanderfallen, in dem großen Strudel drinne. Ich dachte, das is jetzt so’n Aufbäumen, und die in Hoyerswerda ham den Schuss noch ni gehört. Die kamen mir vor wie kleene Spitze, die vor etwas Großem stehen und kläffen. Außerdem hielt ich Wenzel/Mensching für unangreifbar. Die kamen aus Berlin!
ClaudiaEin paar Tage später war dann im Laden ein Gespräch wegen der Verhaftung mit der SED- oder FDJ-Kreisleitung. Und da kam Gundi rein und hat eine Demo der DDR-Künstler in Berlin angekündigt. Die wollten ihn rausschmeißen, aber das haben sie nicht geschafft. Er hat sich vorher schon nicht den Mund verbieten lassen, und da gleich gar nicht mehr. Und das fand ich auch von Uwe toll, der hat Gundi nicht rausschmeißen lassen. Von Uwe hab ich viel gelernt. Was Haltung ist.
Als der Alte am Vorabend des 7. Oktober 1989 feierlich die Wendeschleife in Betrieb nimmt, kann er nicht ahnen, dass dieser Tag für uns tatsächlich eine Wende darstellen wird. Ist es eine Legende, dass wir am Abend des letzten Republikgeburtstags sämtlichen Alkohol ausgetrunken haben, der sich im Lager des Laden befand? Ganz sicher ist wie bei jeder Party in Hoy irgendwoher am Ende eine Flasche Grubenfusel aufgetaucht – jener Trinkbranntwein für Bergarbeiter, den die Kumpel als Deputat bekommen und den es bei uns in jedem Haushalt gibt. Nicht umsonst nennen wir ihn Kumpeltod – es wird behauptet, dass er blind mache. An diesem Abend – da wir endgültig begreifen, dass das Land und unser Leben darin am Ende sind – entwickelt der dazugehörige Spruch neuen Sinn: Trink schnell, bevor’s dunkel wird.