Der 4. November 1989 ist ein besonderer Tag. Maura hat sturmfrei. Die Geschichtsbücher freilich werden später berichten, dass sich an diesem Tag auf dem Alexanderplatz in Berlin auf Initiative einiger Theater hin eine Million Menschen versammelten: die erste offiziell genehmigte Demonstration des Landes, das es nur noch wenige Wochen geben wird. Gundi, der sich zwischen seinen Schichten auf dem Bagger nun öfter in Berliner Künstlerkreisen bewegt, hatte im Laden dafür mobilisiert. Ein paar sind seinem Aufruf gefolgt und haben früh die Sorbenschleuder in die Hauptstadt bestiegen. Wir anderen halten in Hoy die Stellung und sehen uns das erst mal aus der Ferne an. Und außerdem hat Maura sturmfrei.

Dass aber auf dem Alexanderplatz Großes geschieht, ist uns bewusst. Deshalb haben wir uns schon am Vormittag in Mauras elterlicher Wohnung getroffen. Wir belagern alle verfügbaren Sitzgelegenheiten im Wohnzimmer und starren auf die Schrankwand. Dort steht, gleich neben der Batterie Eierlikör, den in Hoy jeder Haushalt aus Grubenfusel selbst herstellt, der Fernseher. Aus der Schrankwand tönt es von Freiheit und Demokratie und immer wieder: »Wir sind das Volk.« An den Gedanken, zum gleichen Volk wie die Berliner zu gehören, müssen wir uns erst gewöhnen.

Der Schriftsteller Stefan Heym sagt, es sei, als habe man das Fenster aufgestoßen. Bei uns ist die Balkontür sperrangelweit geöffnet. Anders lässt sich die ewig glühend heiße Zentralheizung – direkt gespeist von der in Pumpe anfallenden Abwärme – nicht regulieren. Auf dem Balkon stehen die Roocher und diskutieren, während sie von oben auf’s Stadtzentrum blicken. Dort balancieren die letzten Käufer aus dem CENTRUM-Warenhaus zwischen Pfützen nach Hause und freuen sich, dass es nicht regnet. Vor der Schrankwand sind wir uns einig: Wenn es mit der Revolution so sein würde wie mit der Zukunft, würde es sehr lange dauern, bis etwas davon bei uns ankäme.

KarstenIn Hoyerswerda passierte erstmal gar nüscht. Das hat ewig gedauert, bis irgendwann mal so’ne kleene Demo auf der damaligen Pieckstraße war, so’n kleener Haufen. Dann gab’s ’n Gespräch auf’m jetzigen Lausitzer Platz, wo es hieß: »Das Schüleressen is scheiße.« Wo es wirklich um so banale Dinge ging. Das hatte sicher damit zu tun, dass hier relative Zufriedenheit herrschte. Anders als in’ner Stadt wie Leipzig, wo alles verfällt. Wo du im Altbau wohnst und es durchregnet, und du musst Briketts schleppen. In Hoyerswerda ham die Leute inner Kohle gearbeitet und alle recht gut verdient. Es war Geld da und fließend Warmwasser. Das sind Dinge, um die es ooch geht. Und wie lange es auch immer gedauert hat, kulturelles Leben gab’s ja bei uns.

RöhliDie satten Leute vorm gedeckten Tisch, eh die offgestanden sind – das hat gedauert. Deswegen ging der Herbst 89 hier bisschen später los.

UweDann hieß es bei den Demos off eenmal: »Wir sind ein Volk.« Das wollten’wa jetzt ooch nich, das fanden wir genauso bekloppt wie vorher das alles. Und Kapitalismus plötzlich. Was soll’n das jetze? Dann ham’wa unsre eigene Demo gemacht. »Dicke Luft« war das Motto. Blasorchester eingekooft, die hießen »Die letzte verzweifelte Hoffnung«.

Auf Fotos sieht man ein Häufchen Langhaariger im Parka und ein paar junge Familien, die Väter mit Kindern auf den Schultern, die Straße vom Laden zum HBE runterlaufen. Sie tragen selbstgemalte Transparente: »Wollt ihr den totalen Wohlstand? Freßt Kohl!« steht darauf, »Don’t worry, take Gysi« oder »Deutschland einig, stark und groß, die Scheiße geht von vorne los.« Aber auch »Laden bleibt!« und »Scholz-Halle jetzt« sowie: »Heino kommt. Hilfe – auch das noch!«

Tatsächlich hat sich Heino für das Frühjahr 90 im HBE angekündigt. Binnen Minuten ist es ausverkauft. Vielleicht werden ihm die gleichen Leute zuklatschen, die im Herbst 89 noch im Theateranrecht Schatrows »Diktatur des Gewissens« gesehen haben. Nach der Aufführung hat das Publikum erzwungen, dass es ein Gespräch im Foyer des Hauses gab. Dort hat eine Buchhalterin erzählt, wie sie aus der Partei geflogen war, weil sie sich geweigert hatte, falsche Zahlen in die Bilanz zu schreiben. Ein Arbeiter ist aufgestanden und hat berichtet, wie im Gaswerk die Anlagen auf volle Leistung gefahren wurden – auch wenn dadurch mehr Teerschlamm anfiel, als die Betonbecken im Kombinat fassen konnten. Und wie das giftige Gemisch in der Umgebung verklappt wurde. Alle bei uns wussten, dass es so war. Aber noch nie ist es so offen ausgesprochen worden. Noch nie war so greifbar, dass es anders werden könnte – selbst bei uns in Hoy.

Ein paar Wochen später aber, im März 1990, stehen wir auf dem zugigen Platz des 7. Oktober. Wir wissen nicht, dass er schon bald nicht mehr so heißen wird. Aber wir ahnen, wie die erste freie Wahl unseres Landes in einer Woche ausgeht. Es reicht ein Blick auf das verlorene Häufchen Menschen, die gerade einen Bruchteil des Platzes füllen.

Die Blaskapelle spielt, und auf der leeren Treppe des HBE schwenkt jemand ein Schild: »Gundi in die Volkskammer!« Tatsächlich kandidiert er für die Vereinigte Linke. Niemand außer uns beachtet es, und es steht zu befürchten, dass kaum jemand sein Kreuz hinter den Namen »Gundermann« setzen wird.

Genau eine Woche später, am Abend des Wahltags, haben wir die Gewissheit: Unser Land will lieber Kohl fressen.

RöhliEs war so ein Fatalismus, es war wieder Tanz auf dem Vulkan. Weshalb ich ooch neulich … Da hat ’ne Band so Lieder von Gundermann gespielt, und beim zweiten oder dritten Lied hab ich wie’n Nervenzusammenbruch gekriegt und geheult wie’n Schlosshund. Weil mir die ganze Zeit von damals wieder durch’n Kopf gegangen is. Dass dein Leben so auf den Kopf gestellt wurde. Dass du nur über schwankenden Boden gegangen bist. Jemand hat mal gesagt, das neue Gesellschaftssystem war so, wie wenn jemand Auto fahren lernt. Am Anfang muss er noch nachdenken, wann er die Bremse treten muss, wann kuppeln und wann der Gang eingelegt wird. So waren für uns eigentlich die ganzen Neunziger. Wo sich keiner getraut hat, Kinder zu kriegen. Und nich wusste, was er im nächsten Jahr macht, nich mal im nächsten Monat. Nur im Fieber, alles neu aufnehmen. Und wo so vieles den Bach runtergegangen is.

Täglich wälzt sich im Frühjahr 90 eine Karawane von Kleintransportern mit West-Kennzeichen in einem langen Stau am HBE vorbei auf den Platz. Aus den Autos heraus werden den staunenden Hoyerswerdschen die Schätze der neuen Welt angeboten. Bunte Illustrierte, von denen sich den Bergarbeitern dicke Brüste entgegenstrecken. Wagenradgroße Käseleiber. Quietschbunte Pullover. Dabei müssen sich die Fahrzeuge exakt an der Kante ausrichten, an der der gepflasterte Teil des Platzes endet. Dort bilden sie eine schnurgerade Front des Konsumismus. Dahinter geht es hinab in den Modder der unbefestigten Brache, davor drängt sich das kaufwütige Volk. Aber schnell wird klar, dass schon bald nicht mehr alle sich mehr oder weniger alles kaufen können werden.

Auf einmal wird etwas zur Währung, was bis jetzt nichts anderes war als Frühling, Sommer, Herbst und Winter, wie Ausziehn Waschen Bette: Orbeet. Sie war etwas, was unweigerlich eintrat – ob man wollte oder nicht. Nun lernen wir, dass die Welt sich teilt in solche, die Arbeit nehmen, und andere, die sie geben. Und die ohne. Gundi hatte unser Leben als Bermudadreieck aus Männern, Frauen und Maschinen beschrieben. Die Maschinen, so munkelt man in Pumpe, würden demnächst abgestellt. Die Republik, zu deren Wohle wir Energie Gas Kohle produziert hatten, wird es schon bald nicht mehr geben. Wie zum Hohn thronen die drei Worte lange noch als Leuchtreklame – die nicht mehr leuchtet – auf dem Hochhaus im Stadtzentrum. Irgendwann wird es fast folgerichtig abgerissen. Abreißen heißt jetzt Rückbau.

GabiZur Wende bin ich sofort rausgeflogen. Ich hatte noch Kurzarbeit null bis Ende 1989, aber dann war ich arbeitslos. Das hatte damit zu tun, dass sofort die Strukturen verändert wurden. Und mein Betrieb wurde aufgelöst.

MichaWir hatten im HBE hundertfünfundzwanzig Mitarbeiter. Als das dann in eine Gesellschaft gemündet ist, waren wir noch siebzehn. Und was dazwischenlag, war Blut, Schweiß und Tränen. Aber es war überall nicht anders. Das war ein gigantisches Rutschen mit offenem Ausgang.

PfeffiWir wurden dann abgewickelt, das Bezirkskabinett für Kulturarbeit. Da stand ich auf der Straße. Konnte zum Arbeitsamt gehen. Und so hat sich das von da an fortgesetzt, eene ABM nach der andern.

Die Kokerei – von der es heißt, sie habe die jüngste Belegschaft, im Schnitt dreißig Jahre alt – wird der erste Betriebsteil von Pumpe sein, der vollständig rückgebaut wird. Das wird die junge Belegschaft noch selbst erledigen dürfen, bevor sie mehr oder weniger geschlossen die Stadt Richtung Westen verlässt.

Personalanpassung heißt ein weiteres neues Wort, das wir lernen. Wir lernen auch, dass es nichts anderes heißt als: Entlassung. In den nächsten drei Jahren werden neuntausend Pumpsche angepasst. Es werden zwanzigtausend Hoyerswerdsche ihre Arbeit verlieren, ganze hunderttausend in der Lausitz. Kraftwerke und Gasanlagen werden abgebaut und Tagebaue geschlossen. Keiner wird die Busfahrer aus den Schichtbussen mehr brauchen. Keiner möchte mehr das Transitradio Lausitz kaufen, das im VEB Robotron am Rand der Stadt hauptsächlich von Frauen zusammengeschraubt wurde. Im Laden wird die Veranstaltungsreihe »Arbeitslosen-Café« eingeführt. Eintritt: frei.

Weil immer mehr Menschen die Stadt verlassen, werden schon bald nicht mehr täglich tausende bauchige, grünlich weiße Milchflaschen gebraucht. In Blechkästen scheppernd waren sie aus der Stadtmolkerei zu den Kaufhallen und in die Schulen – wo schon der Milchdienst wartete – gebracht worden. Nun wird die Molkerei schließen, so wie der VEB Schwanenweiß und die Hoback – Hoyerswerdaer Backwaren. Von dort aus hatten Brote und Brötchen die WKs überrollt. Bumm bumm, der Tod geht um, wieder einer tot vom Konsumbrot. Ein Hoback-Brötchen wird Jahrzehnte später im Stadtmuseum landen, in einer Vitrine dezent ausgeleuchtet – wie ein Kunstobjekt. Der Tod geht um. Bis jetzt war alles hier Ankunft. Eine ganze Literaturrichtung war nach Brigitte Reimanns Beschreibung einer »Ankunft im Alltag« benannt worden. Von nun an wird alles Abschied sein.