Immer am ersten Juli-Wochenende hatte die Menschheit – zumindest die in Hoy – den »Tag des Berg- und Energiearbeiters« begangen. Der Platz vor dem HBE wurde für die einschlägigen Zielgruppen aufgeteilt: Kinder, Jugendliche, Erwachsene, Alkoholiker. Auf der Freilichtbühne tanzten in sengender Hitze unsere Volkskunstensembles. In der Ausstellung »Freizeit, Kunst und Lebensfreude« präsentierten die Pumpschen gehäkelte Topflappen, Ölgemälde und getöpferte Skulpturen. Der Fanfarenzug würde über den Platz marschieren. Der Schlagerchor in knallbunt glitzernden Kostümen hinterdrein. Dieses Jahr, dieses Jahr, ist ein ganz besond’res Jahr. Den Höhepunkt würde in schwarzen Bergmannsuniformen unser Blasorchester bilden:
Glück auf, Glück auf / der Steiger kommt / und er hat sein helles Licht bei der Nacht / und er hat sein helles Licht bei der Nacht / schon angezünd’t / schon angezünd’t
Alle würden mitsingen, und um Mitternacht würde ein Feuerwerk in den Himmel über Hoy schießen.
In diesem Jahr fällt das Fest mit dem Tag der Währungsunion zusammen. Zwar schreien immer noch von allen Bühnenhintergründen, Plakaten und Stellwänden die Bilder mit den rauchenden Schornsteinen: KOHLE! GAS! ENERGIE!, und meinen damit: Wohlstand! Sicherheit! Zukunft! Aber das wagt sich keiner mehr, darin zu lesen.
Unsere alte Losung hat Konkurrenz bekommen von einem Stand, der Suppe verkauft und seinerseits schreit: »I LIKE MAGGI!« Die am heutigen Tag gefeierten Berg- und Energiearbeiter müssen sich entscheiden, ob sie sich bei der »5-Minuten-Terrine« anstellen oder doch bei der Gulaschkanone der Betriebskantine. Zwei Feuersteine haben eine Marktlücke erkannt: Am Rand des Platzes verkaufen sie West-Dosenbier für Ost-Hartgeld, das alle noch schnell loswerden wollen. Früher hatten sie am Bergmannstag auf der Bühne gestanden. Heute machen sie das Geschäft ihres Lebens.
Auf ein Feuerwerk hat man diesmal verzichtet – obwohl weit im Voraus Raketen gekauft worden waren. Zwar freuen sich alle auf das Westgeld, das sie sich schon morgen in der Sparkasse abholen dürfen. Doch mit »Glück auf« und Sternenregen möchte man es nicht begrüßen. Denn keiner weiß, welcher Betrieb als Nächstes schließen wird.
Schon angezünd’t / das gibt ein’ Schein / und damit so fahren wir bei der Nacht / und damit so fahren wir bei der Nacht / ins Bergwerk ein / ins Bergwerk ein.
Ein GT – wie Gin Tonic nur hieß – hatte an der Laden-Bar 1,90 Mark der DDR gekostet, das ebenfalls sehr beliebte Mixgetränk Doppel-Popper 3,20. Für fünfzig Pfennige gab es ein Bier im »Kosmos«. Als Lehrling hatte man hundert Mark verdient, an der Uni zweihundert Mark Stipendium bekommen, und in Pumpe konnte man es auf tausendfünfhundert bringen. Hätte man eine Einraumwohnung ergattert, wäre die Miete dafür dreißig Mark gewesen. Ein Trabant kostete achttausendfünfhundert, falls er denn zu haben gewesen wäre. Für einen Pullover im Exquisit musste man zweihundert hinblättern, für einen Ferienlager-Durchgang in Oppach pro Kind zehn Mark, für eine Büchse Ananas im Delikat sechs Mark und für ein Hoback-Brötchen genau fünf Pfennige.
Kleiner Pfennig heiße ich, alle Kinder kennen mich. Rund bin ich und blitzeblank, immer lustig, niemals krank, hatte im Kinderradio jeden Sonnabend der Kleine Pfennig aus dem Butzemannhaus gesungen. Ticktack mahnt die große Uhr, sagt mir doch, was will sie nur? Kleiner Pfennig weiß Bescheid. Ich muss fort, es ist so weit. Er konnte nicht ahnen, dass er im Juni 1990 tatsächlich fortmuss. Und zwar nicht nur bis zur nächsten Woche, sondern für immer.
Die Beerdigung der DDR-Mark begehen wir im Laden. Es ist der Abschied von einem Land. Wir führen ein Stück von Gundi auf, das wir sonst auf Kinderfesten spielen: »Prinzessin Tausendschön«. Dem Anlass entsprechend, heißt sie heute Prinzessin Tausendmarkschein. Die Gegenspieler der Haupthelden treten als bayerisch sprechender Trachtenträger, militanter Eroberer und Immobilienmakler mit Geldkoffer auf. Als sie anrücken, rufen die Helden ihnen zu: »Das Spiel ist zu Ende, geht nach Hause, macht selbst ’ne Wende!«
In der Realität wird um Mitternacht die DDR-Mark vor dem Laden zu Grabe getragen. Wie bei einer echten Beisetzung bildet sich ein langer Zug von Hinterbliebenen. In seiner Grabrede wendet sich Hugo an Verlassene, Entlassene, Besoffene, Betroffene und endet mit dem Fazit, dass das alles in Wahrheit ein dadaistischer Furz sei.
UweSpäter hieß es: »Wer hat Ihnen denn die Genehmigung gegeben, da einfach’n Grabstein hinzusetzen?« Natürlich haben wir niemanden gefragt. Weil es gar keenen mehr gab, den man hätte fragen können oder den das interessiert hätte. Und wir hätten’s sowieso gemacht. Das war unser Bereich, der Laden. Da ham wir das Ding eingegraben, fertig.
Der Grabstein wird noch an der Straße stehen, wenn es unsere Schule, den Schulhof und auch den Laden schon lange nicht mehr gibt. Ein Wald wird dort wachsen, an seinem Rand der Stein mit dem Bild eines Geldstücks darauf – von dem keiner mehr wissen wird, was das ist und wie es dorthin kam. Eines Tages, drei Jahrzehnte später, werden Baumaschinen kommen und den Wald wegbaggern. Neue, schickere Häuser für viel weniger Familien werden nun dort gebaut, und der Grabstein wird im Weg sein und entfernt. »Ruhe in Frieden« stand darauf. Bevor er auf das Grab gesetzt wurde, hatten wir gesungen: Ja wir tragen unser Schicksal mit Geduld, an der ganzen Scheiße sind wir selber schuld …
Als am nächsten Morgen die Sparkassen öffnen, reihen wir uns in eine Schlange, die sich über die gesamte Einsteinstraße zieht. Einen Tag später fahren wir mit dem Westgeld – das ja keins mehr ist – Richtung Hannover. Unser Gepäck reist auf einem riesigen, hochaufgeschichtet vollgepackten Anhänger im LKW-Format. Wenn die schnittigen Westautos ihn auf der Autobahn überholen, kommt es fast zu Auffahrunfällen – denn hinter dem Ungetüm kommt nichts als ein kleiner, giftgrüner Trabant zum Vorschein. Wie ein fußkranker Frosch kriecht er tapfer gen Westen.
Wir anderen haben Rucksäcke und Beutel kunstvoll auf unsere Fahrräder geschnallt. Als wir im Westen ankommen, bleiben die Leute stehen und lachen über unsere tausendfach reparierten Scheesen. So laut, dass wir es hören können, sagen sie: »Die Ossis kommen. Die wollen Geld abholen.«
Wir denken nicht darüber nach, welches Geld es für uns zu holen gäbe. Denn gerade haben wir gelernt, was wir von jetzt ab sein werden: Ossis.
Vor allem aber sind wir verdiente Dadaisten und als solche nach Hannover gefahren, um den Collagen von Kurt Schwitters im Sprengel-Museum unsere persönliche Aufwartung zu machen. Danach geht das revolutionäre Proletariat geschlossen einkoofen.
Abends sitzen wir vor unseren Zelten am Lagerfeuer. Pö präsentiert einen Joghurt: für neunundsechzig Pfennige. Hausi zieht blank: Seiner hat nur neunundvierzig gekostet! Fünf Sorten Geflügelsalat! Bier im Sixpack, günstiger als die einzelne Flasche! Tagelang tobt die Preisschlacht. Unangefochten geht der Sieg an Rosi, der eines Abends eine Zwei-Liter-Flasche billigsten Rotwein triumphierend aus dem Aldi-Beutel zieht. Die Gespräche verstummen. »Eene Gallone«, seufzt einer. Mehr geht nicht. Zumindest bis zur Entdeckung des Tetrapacks am nächsten Abend.
Auch wenige Monate später, als wir die Erste Schnäppchen-Weltmeisterschaft veranstalten, wird Rosi in der Kategorie Nutzlosestes Produkt die Konkurrenz meilenweit ins Feld schlagen: Mit einem Apfelschäler zu 0,99 DM, der alles kann, außer Äpfel schälen. Das Reisebureau Laden wird schon bald eine Werbefahrt veranstalten – exklusiv mit dem Kanzler-Bonus. Der Prospekt verspricht: »10 Eier, 1 ofenfrischer Christstollen, 1 praktische Tragetasche, Theatervorführungen und obendrein kostenlos 14-bändiges Grundgesetz in Schweinsleder mit Schwarzrotgoldschnitt, in der Übersetzung von Dr. Martin Luther Bangemann. Mit großem Rezeptteil! sowie 1 warmes Tellergericht.«
An den Haltestellen der Stadt, wo gestern noch Schichtbusse hielten, sammeln Super-Luxusreisebusse die aufgeregten Besucher ein. Reiseleiter an den Mikros heizen die Stimmung an.
HausiDie Busse fuhren aus der Stadt raus, zur Baustelle von Wespes Kneipe. Da war nur Beton, Absperrung und alles dunkel. Dann ham’se das besichtigt und sind zurückgekommen zum Laden. Als Kaffeefahrt, weeßte?
Im HBE gibt es jetzt Verkaufsveranstaltungen statt Sinfoniekonzerte. Im Foyer mit den edlen Aufgängen und Kugellampen stehen überall Kleiderstangen und – neues Wort! – Wühltische. In die große Fensterfront zum Platz hin hat jemand den kleenen Trompeter gestellt. Die mannshohe Bronzeplastik heißt eigentlich nur »Trompeter«. Für uns aber war der Junge, der mit vollen Backen das stolz erhobene Instrument ansetzt, immer der kleene Trompeter gewesen. Nicht nur wegen des gleichnamigen Lieds, in dem das »lustige Rotgardistenblut« unerklärlicherweise »mit einem seligen Lächeln« einer feindlichen Kugel zum Opfer fiel.
Vor allem hatte unser Trompeter seit Jahr und Tag vor der Scholz-Halle gestanden. Dort hatte er sommers wie winters zur Abfahrt geblasen, wenn sich der Buskonvoi gen Oppach in Bewegung setzte. Aber ins Ferienlager wird keiner mehr fahren, und der treue Begleiter unserer Kindheit dient jetzt als Wäscheständer: Von seiner Trompete baumeln drei Bügel mit Pullovern, Stück 15 DM.