Während sich am 3. Oktober 1990 der Rest des Landes vereinigt, prangt über dem Laden die Losung: »Wir treten nicht bei.«
Um uns herum herrscht Einheitstaumel. Immer was Neues und nüscht Gescheites, sagt man bei uns zu Neuerungen jeglicher Art.
Wir haben beschlossen, einen eigenen Staat zu gründen.
Am Vorabend des Tags der Einheit sperren wir das Gebiet um den Laden – einschließlich Blumenrabatte, Grabstein und Mülltonnen – weiträumig ab. »Sie verlassen das Staatsgebiet der DDR«, verkünden Schilder. Die D-Markationslinie wird mit Wimpelketten abgesteckt und endet am Zaun zum Schulhof, den noch vor wenigen Jahren Ordnungsschüler kritisch observierten. Jetzt schaffen wir unsere eigene Ordnung.
Sie beginnt damit, dass man in einer der beiden Grenzübergangsstellen seinen Ausweis abgeben muss. Im Auffanglager bekommt man das neue Dokument ausgehändigt. Autonome Republik LADANIEN steht auf dem Stempel, mittig prangt das ladanische Wappen: ein zum Pfeil stilisiertes Windspiel, das Hauskünstler Helge einst für das Dach des Laden schmiedete und das zu dessen Logo wurde. Jetzt zielt der Pfeil in einen Würfel: nach innen, ins Leere.
Das Volk strömt aus den umliegenden WKs und stellt sich geduldig an, um die gerade errungene D-Mark umzutauschen in »Lada« und »Trabi«, die ladanische Währung. Bilder verdienter Ladanier zieren die Banknoten, frisch aus der Stadtdruckerei. Punkt 1 der Tagesordnung ist das Ausrufen der Republik. Im Chor rufen wir: »Re-pu-blik«! Danach wird die Staatsflagge mit dem Wappen gehisst und wir singen erstmals unsere Nationalhymne. »Weise: Tom Waits«, verkündet der Flyer mit dem Text.
die mülltonne leuchtet / langnese steht stramm / gin tonic hat Urlaub / das video läuft / die kids kiffen heimlich / an der hintertür / und das telefon jammert / doch keiner geht ran / in ladanien …
Das Volk darf die Staatsform wählen. Maik möchte König werden, Hausi tritt für den Dadaismus an, und Krehe hält ein zackiges Plädoyer für die Militärdiktatur. Ebenso gut könnte man sich für die Diktatur des Proletariats entscheiden oder für die Werner-Partei, die Bölkstoff für alle verspricht. Lediglich für die Demokratie findet sich kein Fürsprecher.
Wie immer, wenn es in unserer Stadt um Leitungspositionen geht, stehen vorn nur Männer. Frauen stehen auch in der Klubszene nur in der Küche oder hinter dem Tresen. Gleichzeitig üben wir ein geheimes Regime aus. Eins ohne Kittelschürzen. Stattdessen haben wir – nach erster Bekanntschaft und langen Gesprächen mit den Schwestern in Westberlin – uns der deutschen Frauenbewegung bedingungslos angeschlossen: Umgehend und kollektiv haben wir uns die Haare feuerrot gefärbt. Wir sind Flammen des Feminismus – auch wenn die Laden-Männer behaupten, wir würden sie nur an Pumuckl erinnern.
YvonneDer Laden war unsers. Wir waren die roten Grazien. Wir hatten unsern Stammtisch, vorn an der Wand den großen runden. Da ham wir auf dem Sofa gesessen und immer die Füße auf den Tisch gelegt. Alle, die nich dazugehörten, waren die zweete Garnitur.
Von unserem Platz auf dem Sofa haben wir die Tür im Blick und damit das Frischfleesch, das den Raum betritt. Es wird an Ort und Stelle aufgeteilt. Ein weiteres Sofa steht im Hinterraum und heißt nicht umsonst die Samenbank. Wenn es kein neues Matrejal gibt, muss das vorhandene aufgeteilt werden: wie bei einem Schiebefax – ein handtellergroßes Quadrat aus Plaste, in dessen Rahmen kleine Plättchen endlos hin und her geschoben werden.
YvonneMein Gott, ’n Mann kommt und geht. Weeßte?
RöhliEinmal hat dann die Joe der Exfrau vom Hausi – weil Joe auf Hausi stand – den Sekt in den Ausschnitt gekippt. Schöne Skandale ham wir erlebt!
YvonneIm Faxenhaus war ja das riesengroße Matratzenlager. Und dann war das halt sehr solidarisch. Wer alleine war, der hat den abgekriegt, der auch alleine war. Das war nich fair, wenn jemand allein auf der kalten Matratze liegen musste. Die hatte noch nichmal Laken.
Laden-Frauen nehmen sich, worauf sie Lust haben. Macht gehörte bisher nicht dazu. Aber warum eigentlich nicht? Kurz entschlossen schnappen wir uns einen Topflappen aus der Küche und verbrennen ihn öffentlich. Es reicht, in den brechend vollen Saal – jemand hat eine Einwohnerdichte von 7,6 Bewohnern pro Quadratmeter errechnet – zu schreien: »Ladaniens Emanzen, wo seid ihr?« Schon ist das entfesselte weibliche Wahlvolk auf Stühle und Tische gesprungen. Wir verkünden die Staatsform des Matriarchats und glauben für einen Moment, dass es so einfach gehen könnte.
Später werden wir erfahren, dass es noch zwei weitere Republik-Gründungen auf dem Gebiet des untergehenden Landes gegeben hatte. Die Dresdner »Bunte Republik Neustadt«, schon zur Währungsunion gegründet, hatte im Umfeld von Hausbesetzungen und Künstlerkreisen noch ein paar Jahre existiert. Als die Häuser schicker, die Läden teurer und die Einwohnerschaft exklusiver wurde, überführte man sie in ein jährliches Stadtteil-Fest mit den üblichen Kreativangeboten. Im Prenzlauer Berg, dem ein ähnliches Schicksal bevorstand, hatte sich auf dem Kollwitz-Platz – wenig später fest in westdeutscher Hand – eine Freie Republik Utopia gegründet. Dort hatte man nichts weniger verlesen als eine Unabhängigkeitserklärung, verfasst mit Hilfe von Philosophen – von denen sie freilich im Prenzlauer Berg genug hatten.
UweAber das sind ja Künstler. So ein Künstler, der geht nich zur Arbeit oder kümmert sich um irgendwas anderes. Wir sind doch keene Künstler.
Wir sind Aktivisten der letzten Stunde. Als solche haben wir einen Tag lang das gesamte Leben einer Republik durchexerziert. Im Film, den wir über unsere Staatsgründung gedreht hatten, verschwindet das ladanische Volk mangels Perspektive und Wirtschaftskraft in einer dramatischen Schlussszene – hübsch einer nach dem anderen – in einer Langnese-Eistruhe. Dort harrt es besserer Zeiten. Im wirklichen Leben rollen wir nach vierundzwanzig Stunden den ladanischen Grenzzaun wieder ein. Auch die Grenzen unseres, des real untergegangenen Landes sind ab heute Geschichte. Aktivisten der ersten Stunde hatten es einst aufgebaut.
Das Land, in dem wir bisher lebten, hatte uns im Schulfach Wehrerziehung in Een-Strich-keen-Strich-Uniformen durch den Wald rennen und mit Luftgewehren schießen lassen – aber es hatte keinen Krieg geführt. Im Januar 1991 müssen wir lernen, dass auch das jetzt anders wird. Am Golf – ein Wort, das wir bisher mit Westauto gleichgesetzt hatten. Öl hatte uns bisher nur als Leinöl interessiert. Hoyerswerdsches Grundnahrungsmittel, das man sich in der Kaufhalle in mitgebrachte Schraubgläser abfüllen lässt. Jetzt bekommt das Wort eine neue, bedrohliche Bedeutung.
Als wir uns am Vorabend des Kriegs verabschieden, fühlt es sich an, als würden wir uns nie wiedersehen. Am nächsten Morgen sind alle WKs noch da. Als wäre nichts geschehen, latschen die Hoyerswerdschen mit ihren Einkoofsbeuteln am Laden vorbei. Ob München, Berlin oder Kuweit – jenseits von Pumpe ist die Welt weit weg.
Wir lassen den gesamten Laden-Betonwürfel samt Windspiel unter einem Tarnnetz verschwinden. Ein militärisches Objekt im WK V E. Der Versuch einer Verstörung. Aber in der Welt der Hoyerswerdschen, wo demnächst die Kokerei abgebaut und der Schichtbusverkehr eingestellt wird, vermag es keine Beunruhigung auszulösen. Lediglich im Rathaus beäugt man kritisch das Tun der Ladanier.
UweMan hat immer gedacht, jetzt kommt bestimmt gleich die Stadtverwaltung und sagt: »Macht das ab!« Also da war gefühlt schon die Phase der Autonomie und dieser Freiheit, die wir kurzzeitig hatten, vorbei. Weil, ganz klar, als Jugendklub hing man am Tropf dieser Geldgeber. Und das ging dann ganz schnell, da sind die Etats gestrichen worden.
Weniger beunruhigend findet die Verwaltung, dass sich zu einer Anti-Kriegs-Mahnwache der frisch gegründeten städtischen Antifa vor dem CENTRUM-Warenhaus Jugendliche in Bomberjacken und Springerstiefeln gesellen. Sie sind auch gegen den Golfkrieg, vor allem aber gegen die Amis. Der Kulturdezernent bietet ihnen an, dass sie mit Hilfe der Stadt das vergammelte Gefallenendenkmal im Stadtzentrum auf Vordermann bringen könnten. Den Klubs fehlt derweil das Geld für Veranstaltungen.
es kichert der grabstein / ein scheinwerfer platzt / der kühlschrank schreit DADA! / das windspiel bricht ab / der babygrill läuft / auf 210 / und der postbote röchelt / der supermarkt brennt / in ladanien …