An einem kalten Februarmorgen des Jahres 1990 versammeln wir uns vor einem halb verfallenen Haus in der Altstadt. Die Schrats – wie wir die Jungs aus dem King-Haus wegen ihrer langen zotteligen Haare und Bärte nur nennen – haben es am Abend davor an der Laden-Bar verkündet. Sofort hat es die Runde gemacht: Ein Haus wird besetzt!
RottlWar ’n schönes Abenteuer. Generalstabsmäßig vorbereitet: »Du bringst’n Hammer mit! Neun Uhr geht’s los.« Dann war früh die Schranke zu: »Scheiße, wir kommen zu spät!« Zur Hausbesetzung! Es hat dann gorni lange gedauert, kam die Polizei. »Was machen Sie hier?« – »Wir besetzen das Haus.« – »Aha.« In Hoyerswerda hat doch keener gewusst, was das heeßt!
So’ne alternative Firma aus Kreuzberg hat uns geholfen bei der Sanierung. Wir ham uns von denen ein Gutachten machen lassen und das der Stadt vorgelegt. Da kamen also diese langhaarigen Hausbesetzer – und dann das: bunte Farbkopien und alles perfekt geschrieben! So was hatten die noch nie gesehen im Bauamt. Es wurden Diskussionen geführt, wo es um die Legalisierung ging und um die Sicherheit. Ja, nein, Baugesetz und so. Das Bauamt wusste ja ooch ni, wie man damit umgeht. »Ihr könnt doch ni … Seid ihr denn verrückt? Das fällt doch alles ein!« Es ging ni um die Eigentumsgeschichte – 1990 war ja eh das große Andersrum. Jedenfalls ham wir das dann ausgebaut. Partys in der riesengroßen Küche. Ich brauch bloß die Oogen zumachen, dann seh ich an der Wand das Plakat. Karl Marx: »War bloß’n Versuch.« Anarchie, super.
Das Faxenhaus liegt gleich hinter dem Marktplatz, der neuerdings nicht mehr »Platz der Roten Armee« heißt. Früher, lange vor unserer Zeit, fand hier wirklich ein Markt statt. Auf alten Fotos sieht man Leiterwagen, von denen Bäuerinnen Gänse, Eier oder Obst verkaufen, und Frauen in sorbischer Tracht mit langen Schleifen auf dem Rücken. Erst jetzt, da vom alten Ackerbürgerstädtchen fast nichts mehr übrig ist, die Mauern verfallen, die Fassaden abgebröckelt und manche Häuser Ruinen sind, beginnen wir, es wahrzunehmen. Bis eben hatte die Geschichte mit uns begonnen, und alles bestand aus Zukunft. Die aber ist gerade in einem großen Loch verschwunden.
Wir entdecken die Vergangenheit: Die vergilbten Spuren einer Inschrift auf der Vorderseite des besetzten Hauses erzählen von einer Bürgerlichkeit, die es hier einmal gab. Wir hatten nur im Wohnzimmer der alten Frau Beer einmal kurz Bekanntschaft mit ihr geschlossen. Die Formen des Hauses sind leicht konisch, geschwungen und verspielt. Nichts verbindet sie mit der quadratischen Welt, aus der wir kommen.
Die Altstadt hatten Neustadt-Kinder bis dahin nur betreten, um den Tierpark zu besuchen, Rurki – lange Waffelröllchen, in die vor unseren Augen frische Sahne gefüllt wurde – zu essen und einmal im Jahr bei Foto Kahrig Passbilder machen zu lassen. Mit den sorbischen Matkas und den zweisprachigen abgeblätterten Ladenschildern erschien sie uns wie ein russischer Märchenfilm, bei dem am Ende die Babuschka die Fensterläden wieder zuklappt. Nun entdecken wir leerstehende Häuser oder Wohnungen in Straßenzeilen, die gerade mal so breit sind wie eine Fahrstuhletage in der Neustadt. Noch fehlen Wohnungen, und alle sind verzweifelt auf der Suche nach einer.
YvonneIch war die Erste, die’ne Wohnung hatte, weil ich als Erzieher Anspruch hatte. Dann waren bei mir die ganzen Partys. Nachts vorm Laden, alle ziehen los, und einer sagt: »Ej, kommste mit, wir gehen noch zu’ner Party – bei so’ner Yvonne.« Ich bin mehrmals in meine eigene Wohnung eingeladen worden! Auch so Leute wie Claudia, die war schwanger und zuhause rausgeflogen, übernachteten da. Ich hatte dieses große Bett hinter dem Bücherregal, da haben lässig vier Leute reingepasst. Auch viele von den Künstlern, die in Hoy aufgetreten sind, haben bei mir geschlafen – du musstest ja irgendwohin!
In der Senftenberger Straße, nur ein paar Eingänge von Trachtenschneider Jatzwauk und Fleischerei Schurig entfernt, gleich gegenüber von Foto Kahrig, ist im Haus von Elektro Runge im Dachgeschoss eine Wohnung frei. Wir marschieren zur Wohnungsverwaltung und erzählen einer erstaunten Mitarbeiterin, dass es neuerdings die Möglichkeit gäbe, Wohn-ge-mein-schaf-ten zu bilden. Die gute Frau hat davon noch nichts gehört. Wir versichern ihr, das sei Gesetz in der neuen Ordnung. Unerschütterlich antwortet sie mit: »Sie wollen also heiraten?« Woraufhin wir ein weiteres Mal erklären, dass man im Westen nicht heiraten müsse, um wohnen zu dürfen. Als wir den Raum verlassen, haben wir einen Mietvertrag in der Tasche. Wir sind die erste amtliche WG von Hoy.
Den Bewohnern der Senftenberger Straße werden wir lange suspekt bleiben. Frau Albers, die unter uns wohnt, wird sich ein ums andere Mal bei der Wohnungsverwaltung beschweren. Schon wieder seien Langhaarige ohne Schuhe durchs Treppenhaus gelaufen! Ihr Mann, von dem es heißt, er sei ein Neffe des blonden Hans von der Reeperbahn, war einst unser Stadtweihnachtsmann. Aus seiner Hand hatten wir auf dem Weihnachtsmarkt klebrige Bonbons in Empfang genommen. Jetzt steht der verwirrte Weihnachtsmann immer wieder in Unterhose in unserer Küche. Fürsorglich geleiten wir ihn eine Etage nach unten. Frau Albers stellt ihre Anrufe bei der Verwaltung ein und beginnt, die Barfüßigen und Langhaarigen freundlich zu grüßen. Es handelt sich dabei meist um die Faxen aus dem besetzten Haus, eine Straße weiter.
Rottl»Saxen macht mal Faxen«, das hatten’wa sofort rangeschrieben ans Haus. Aber es ging ni nur um Faxen. Wir hatten ooch’ne Umweltbibliothek, da wurde viel gemacht und archiviert, auch investiert. Es sollte ein Umwelt-Café werden, schon mit Anspruch. Das war ’ne ganz klare Entscheidung, dass’wa damit rauswollten aus der Kirche, weil die wenigsten von uns waren kirchlich gebunden.
MauraDas hatte sich schnell rumgesprochen: In Hoyerswerda gibt’s ein besetztes Haus. So, jetzt ging das los. Manchmal wenn’de nach Hause kamst, kanntest du da keenen mehr. »Hallo, ich bin die Kati.« Ach so. »Grüß dich, Kati!« Halb Kreuzberg … Das Lustige daran war, dass – und das hat ja die Berliner so auf’n Plan gelockt – das hieß »besetztes Haus«.
Die Sache war aber: Wir hatten erst mal gar keenen so großen politischen Anspruch. Wir wollten einfach irgendwo wohnen und Spaß haben. Und das konnten die nich verstehen. Klar, wir hatten die Umweltbibliothek. Arbeitskreis für Umwelt und Frieden. Aber das war jetzt nich so, dass wir zu Antifa-Demos oder so gegangen wären. Das kam erst später ganz stark.
Die Berliner ham uns ja dann mit Zeitungen überhäuft, »Interim« und diese Presse. Im Grunde genommen isses das Gleiche, was die Nazis gemacht haben: Also mach vernünftige Propaganda, und du beeinflusst jemanden entsprechend. Aber am Anfang ham wir uns über nüscht ’ne Platte gemacht.