Kleinere Störfälle gehören in Pumpe zum Alltag. Regelmäßig fallen in der Brifa die Filter aus, und statt Dampf wird Kohlestaub aus den Schloten geblasen. Als schwarze Schicht lagert er sich überall ab. Aber daran hat man sich irgendwann gewöhnt. Selbst an seinen Geruch, und dass er immer in die Nase und in alle Öffnungen dringt.
Wenn er aber aufgewirbelt wird und so viel davon in der Luft ist wie in Pumpe, genügt ein kleiner Funke, und es kommt zur Verpuffung. Eine Explosion, die ganze Werkhallen in die Luft jagen kann. Havarie. Wenn man anfängt, ihn zu ignorieren – so lernen wir schon als Kinder –, kann es zu spät sein.
Der September 91 beginnt mit dem ersten bunten Foto in der Laden-Chronik. Es dokumentiert, wie wir den ehemals grauen Betonwürfel bemalen. Alles wird jetzt bunt.
Auf der Fassade tanzen Figuren mit verrenkten Gliedmaßen wild durcheinander. Auf der Fläche davor stehen überall Farbtöpfe, Knetfiguren, halbfertige Skulpturen, Werkzeuge, Bierflaschen, Fahrräder und eine große Holzkiste mit Bildern darin. Aufgespannt zwischen zwei Straßenbäumen schwebt ein riesiges Transparent im Septemberhimmel über dem WK V E: »BETONung«.
Künstler aus Kreuzberg, London und Kiel sind zum »projekt Laden art Nr. 1« gekommen. Dafür haben wir Schrott angekarrt, Berge von Altpapier, eine antike Badewanne und ein ausrangiertes Auto. Überall soll Kunst sein. Und jeder Mensch ein Künstler.
Uwe»BETONung« war nochmal so’n schönes Projekt, wo man aber schon gemerkt hat: Es geht nicht mehr um gesellschaftliche Einflussnahme oder Veränderung. Das spielte schon gar keene Rolle mehr, sondern da ging es wirklich nur um Kunst. Um der Kunst selber willen. Bei allem, was wir früher gemacht hatten, ging es darum, gegen irgendwas zu protestieren oder’n Gegenpol zu bilden. Und hier jetzt … Es war nicht mehr provozierend gemeint. Weil – wen will ich’n hier noch provozieren? Das hat niemanden interessiert. Die ham eben ’ne ganze Woche lang schräge Kunst gemacht.
Und da bricht auf einmal die reale Naziwelt rein! Während diese Ausschreitungen anfangen, sitzen wir im Laden und hören uns’n Vortrag von so’nem Kunstwissenschaftler aus Mainz an: über Beuys. Und draußen rasen die Polizeiwagen vorbei, mit Blaulicht.
Was’n jetze los? Wir ham das überhaupt nich kapiert. Dabei is das Luftlinie nur zweihundert Meter gewesen.
Zweihundert Meter vom Laden Richtung Stadtzentrum steht die Polenmauer, in der »Albert-Schweitzer-Straße« – alle Straßen sind im WK V nach Ärzten benannt. Auch die Schule hier trägt den Namen »Albert Schweitzer«.
Als Kinder sind wir jeden Tag an einem großen Relief im Schulfoyer vorbeigelaufen. Darauf streicht ein älterer Herr mit buschigem Schnauzbart unter dem Tropenhut einem Kind väterlich über den Kopf. Der Junge schmiegt sich an seine Beine. Dass er schokoladenbraun wie Sally sein soll, kann man nicht sehen, da alle Figuren aus Bronze und braun sind. Aber im Gegensatz zu dem perfekt gekleideten Mann sind die anderen Menschen auf dem Relief nackt. Eine Frau hat nur ein Tuch um die Hüften gebunden und steht barbusig vor ihm.
Warum das so ist, hat nie jemand gefragt. Es reichte zu wissen, dass Albert Schweitzer als Arzt in Afrika gearbeitet hat. In Lambarene. Dorthin wollten wir auch. Lam-ba-re-ne. Wir wollten werden wie Albert Schweitzer.
DavidIm Krankenhaus Hoyerswerda haben wir Blut gespendet, jedes Mal. In unserer Kaufhalle haben die Kinder gesagt: »Mutti, guck mal, ein Affe!« Dann haben wir nicht aggressiv reagiert, sind wir zur Mutti gegangen: »Du sollst dem Kleinen sagen, dass wir Menschen sind. Wir sind keine Affen.« Dann wollten wir mit den Kindern reden. Ich bin in die Schule gegangen. Einige wollten an meiner Haut reiben, ob die dunkle Farbe vielleicht abgeht und an ihrer Hand bleibt. Dann habe ich das mit den Kleinen so gemacht und habe gefragt: »Na, ist was passiert?« Das hat Spaß gemacht.
Wir haben alles mitgemacht. Mit den Deutschen haben wir Fußball gespielt, bei der BSG Aktivist. Wir haben Musik gemacht von unserer Kultur in Mosambik. Brigadefeier. Alles, was der Betrieb organisiert hat.
Aber im Wohnheim war es verboten, dass man deutsche Freunde reinlässt. Wir durften auch nicht heiraten, das war verboten. Einige waren mit ihrer Frau zehn Jahre zusammen, aber haben nie geheiratet. Zusammen wohnen war auch verboten. Nur Besuch. Von zehn Uhr früh bis zweiundzwanzig Uhr, da musste sie raus. Raus! Der Pförtner ist in das Zimmer gekommen und hat unter dem Bett und überall nachgeguckt. Die Pförtner waren richtig hart. Vielleicht das Mädchen musste sechs Monate Hausverbot kriegen, oder er hat sie bei der Polizei gemeldet. Die Polizei hat Probleme mit dem Mädchen gemacht.
Wenn wir draußen spazieren gehen, dann hat das Mädchen viele Namen gehört von den deutschen Bürgern. Ich kann diese Namen nicht nennen, die sind nicht so schön. So haben wir mit den Deutschen gelebt. Das war nicht so einfach. Aber ich habe mir gesagt: In Mosambik ist Krieg. So muss ich leben, anders geht es nicht. Gut aufpassen und mitleben.
David, Manuel, Antonio, Filipe … Wir hatten uns die Namen nicht gemerkt. In den letzten Wochen waren die Jungs aus Mosambik manchmal im Laden aufgetaucht. Ihre Gesichter sahen für uns alle gleich aus. Sie waren so alt wie wir. Nachdem sie an ihrem Tisch ein Bier getrunken hatten, waren sie wieder Richtung Polenmauer verschwunden.
Jetzt hat sich dort eine Menschenmenge gebildet.
Später wird man erfahren, dass es vor der Kaufhalle im Stadtzentrum anfing. Dort haben sich wie immer die Glatzen getroffen. Einer von ihnen ist ein Junge mit fröhlichem rundem Kindergesicht.
MauraDer kleene Alicke war früher ooch bei den Heavy Metals gewesen. Der hat schöne blonde, lange Haare gehabt, der Peter. Und hat sich dann zugunsten einer Billardkugel von seinen Locken getrennt. Damit er endlich zum deutschen Mann wird. Später hat er sich offgehängt, der kleene Alicke.
Jetzt aber, an diesem Dienstag im September 91, hört er mit seinen Freunden vor der Kaufhalle laut röhrende Musik und brüllt Naziparolen. Jemand ruft die Polizei. Die sieht keinen Grund zum Einschreiten und rückt wieder ab. Die Glatzen aber ziehen weiter zum Markt auf dem Lausitzer Platz, der einmal »Platz des 7. Oktober« hieß.
HausiDie Vietnamesen standen ja immer off’m Markt und ham Zigaretten verkooft. Da sind oft die Nazis gekommen und ham probiert, die offzuklatschen. Eenmal hab ich gesehen, dass die den Vietnamesen hinterherrennen. Ich war Klempner im HBE und war zufällig draußen – mit’ner großen Rohrzange. Mit der bin ich dazwischen und hab gesagt: »Ich hau euch das Ding über’n Schädel!« Da sind die abgehauen. Als ich später nach Hause gefahren bin, kam ich an der Polenmauer vorbei. Da standen die Nazis und ham Flaschen off die Balkone von den Vietnamesen geschmissen.
MauraDie ham sich gefreut, dass’se ’ne Bomberjacke anhaben und Billig-Doc-Martens. Die ham von früh bis spät am Lausitz-Center abgehangen und ham den ganzen Tag gesoffen. Die hatten Wolfsaugen. Da gab’s keene Gnade.
Zunächst pöbeln Alicke und seine Freunde ein paar Marktbesucher an. Dann bedienen sie sich bei den Vietnamesen mit Zigaretten – weil ihre alle waren, wie sie später zu Protokoll geben werden. Dann ziehen sie weiter zur Kaufhalle im WK II.
Als eine Funkstreife wenig später dort eintrifft, hat der kleene Alicke schon 4,8 off’n Kessel. Die Zahl wird später im Polizeibericht stehen. Die Glatzen aus dem Stadtzentrum haben sich inzwischen mit denen vom WK II vereint.
Mittlerweile ist das Gerücht aufgekommen, die Fidschis hätten den Hund von einem der Männer erschlagen. Die fressen Hunde. Die Gruppe marschiert zurück zum Markt und zerlegt dort einen Tisch. Dessen Beine schwingen sie, als sie zum Sturm auf den Zigarettenstand ansetzen.
Die Vietnamesen haben sich inzwischen mit Zaunlatten bewaffnet, fliehen aber in Richtung Wohnheim. Als die Glatzen die Verfolgung aufnehmen, haben sich ihnen schon mehr als zwanzig Bürger, wie das Protokoll später vermerkt, angeschlossen.
Während die Vietnamesen Richtung Polenmauer um ihr Leben laufen, beschäftigen wir uns im Laden mit der Figur des Hasen bei Beuys. Das »Wesen der Bewegung, das Welten verbindet«. Als die Gejagten das Wohnheim erreicht haben, fliegen die ersten Steine.
Wenig später ist die Straße vor der Polenmauer mit Menschen gefüllt. Sie stehen in kleinen Gruppen, Kinder rennen, dazwischen Frauen mit’n Rod, an dem Einkoofsbeutel hängen. Die größeren Kinder sind auf alles geklettert, was bessere Aussicht verspricht: Mülltonnen, Flaschencontainer, die Betonmauer um die Blumenrabatte, eine Bank, ein Klettergerüst, ein Baum.
In der Mitte der Szene, direkt vor einem Hauseingang, brüllen die Glatzen in Richtung Fensterfront. In einem Kreis um sie herum Jugendliche in Jeans und Turnschuhen, auch grölend. Ein paar von ihnen sitzen mit Bierbüchsen in den Händen auf dem Bordstein, vor den geparkten Mopeds.
Jeder hoyerswerdsche Junge hat eins. Er kauft es sich vom Jugendweihegeld, um damit durch die Stadt zu röhren und, wenn was los is, schnell an der Polenmauer zu sein. Im Sommer fährt er mit einem Mädchen, das sich auf dem Sozius eng an ihn schmiegt, an den Knappensee.
Dort sind wir zu diesem Zeitpunkt schon lange nicht mehr gewesen. Der Zeltplatz zählt inzwischen zu den Gebieten, die man besser nicht betritt, wenn man so aussieht wie wir. Jeder weiß, dass die Glatzen ihn fest in der Hand haben. Darüber denkt man nicht lange nach. Man fährt einfach an einen anderen See. Es hat sich immer aufgeteilt. Es ist immer gut gegangen.
DavidAm ersten Mai hatten die gesagt: »Wir kommen wieder« – und da sind die natürlich wiedergekommen, im September. Die haben gesungen »Ausländer raus«. Die haben mit Steinen geworfen und haben in unserem Wohnheim alles kaputt gemacht. Die wollten reinkommen, und wir wissen nicht: Warum? Die Frage vergesse ich nicht, seit 91 bis heute. Was hätten sie mit uns gemacht? Wollten sie uns vernichten? Aber wir haben unsere Tür festgehalten. Und dann ist die Polizei gekommen. Hat auch nicht so viel gemacht, nur gesagt: »Zur Seite!«, und fertig. Wir konnten nichts machen. Das war für uns zum zweiten Mal wie im Krieg.
An den folgenden Abenden wird die Menschenansammlung von Mal zu Mal größer sein. Schon bald wird ein Tank aus einem Auto gerissen, werden Geschosse gebastelt und ins Wohnheim geworfen. Negerhaus. Ein Foto zeigt in einem abgeblätterten Fensterrahmen das mehrfach geborstene Glas der Scheibe, mit scharfen Kanten. Am unteren Rand – konzentriert und jederzeit bereit, den Kopf vor dem nächsten Stein wegzuducken – das Gesicht eines Mosambikaners. Ganz ruhig blickt er nach unten auf seine Angreifer. Kaum älter als die, die unten vor ihren Mopeds sitzen und grölen. Kaum älter als der kleene Alicke. Hinter ihm, nur wenig beiseitegeschoben, eine Gardine. Mit Rhombenmuster.
DavidUnsere Nachbarn haben nichts gemacht. Einige sind runtergekommen. Die haben nur gestanden und geguckt. Die haben in die Hände geklatscht. Einige habe ich erkannt. Jugendliche, die mit uns gearbeitet haben, unsere Arbeitskollegen, Wolfgang und so weiter. Wir waren wie Familie. Wir kennen alle, die mit uns gewohnt haben. Zwölf Jahre waren viel. Zum Beispiel: 25. Juni war unser Nationalfeiertag. Da hatten wir viele eingeladen, immer. Mitfeiern, tanzen, unterhalten. Aber wo das passiert ist, haben wir gedacht: »Wer kommt zur Hilfe? Keiner. Na ja, wir sind nicht gewünscht hier.«
RöhliDa waren diese völlig überforderten Polizisten, die überhaupt ni wussten, ob’se Fisch oder Fleisch sind. Sind’se nu westdeutsch oder ostdeutsch, oder welche Rechte ham’se … Es war auf allen Seiten ’ne extreme Hilflosigkeit. Ich war dort zweemal, hab so’ne Angst gekriegt. Wo ich das Gefühl hatte, wenn du jetzt was sagst, wirst du tot gemacht.
RottlIch stand bei meinen Eltern off’n Balkon und konnte’s nich fassen. Man hat das Gebrülle gehört. Und bei mir – ich kann das mit Angst festmachen. Nur mit Angst.
MauraDa hab ich mich nich hingetraut mit meinen roten Schnürsenkeln und wie ich aussah. Und ich gloobe, das hat keener gerafft, was da überhaupt passiert. Ich weeß nich, wie man da hätte ’ne Gegenwehr organisieren sollen. Niemand hat angefangen. Weil alle Angst hatten.
SchudiMein Vater hat in seiner Brigade ooch Mosambikaner gehabt und Polen und was weeß ich. Und is im Alltag von denen weder belästigt worden noch dass er ein Problem mit denen hatte. Also meine Eltern haben es mit dieser Hilflosigkeit von anständigen, normalen Leuten gesehen. Die fanden das kacke, was da abging.
GabiIch glaube, dass nicht nur die politischen Kräfte, Polizei und so, unterschätzt haben, was sich da entwickelt. Sondern alle. Weil man das nicht für möglich gehalten hat, dass sich das so aufbaut. Das ging ja über mehrere Tage. Und ich kenne niemanden, der was dagegen gemacht hat. Ich glaube, das war zu schockierend.
Ich weeß nicht, ob das in Westdeutschland besser funktioniert, dort gab’s ja ooch Pogrome. Jedenfalls habe ich da nichts unternommen. Was hätte man tun können?
UweSo richtig hat keener kapiert, was da war. Man hat diese gewaltige Dimension damals nich einordnen können, bin ich fest davon überzeugt. Dass die Mehrheit das wirklich nich mitgekriegt hat.
DavidWenn sie heute sagen, sie haben das nicht gewusst – das ist eine Lüge. Die Jungs haben so laut gesungen. »Ausländer raus!« Da gab es Hubschrauber. Die sind immer geflogen. Das ist so wie: Wenn vor mir etwas passiert, drehe ich mich einfach um.
Tage- und nächtelang liegt das Surren der Hubschrauber über der Stadt. Laster der Bereitschaftspolizei fahren durch die Straßen. Um die fünfhundert Leute, so heißt es, sind es jetzt täglich vor der Polenmauer. Ordentlich ab 16.30 Uhr, wenn auch die Busse der dritten Welle zurück in die Stadt gerollt sind. Aber die meisten, die sich hier versammeln, sitzen schon lange in keinem mehr oder werden nie in einem fahren.