RöhliIn unserem unbedarften Von-Blüte-zu-Blüte-Flattern und Spaßrebellentum waren wir komplett hilflos gegenüber diesen Dingen. So bisschen wie die Dodos. Die wurden ausgerottet, weil’se keene Strategie hatten gegenüber ’ner neuen Situation. Die wurden aufgefressen.
Da ham’wa fast Glück gehabt, dass wir im Gegensatz zu den Dodos überlebt ham.
Als Kinder hatten wir Bekanntschaft mit dem »Kommandant des U-Bootes ›Glücklicher Hecht‹« geschlossen. In dem sowjetischen Kriegsfilm durchkreuzt das Schiff fröhlich die Pläne der deutschen Faschisten. Als es in einen Hinterhalt vor Murmansk gerät, ersinnt der Kommandant eine List. Er rettet es, leider unter Einsatz seines Lebens. Tapfer versinkt er in den Fluten, und die Nazis gucken dumm. Wir wollten sein wie er – wenn möglich, ohne unterzugehen. Mit den Faschisten würden wir schon fertig werden.
KarstenWir wussten überhaupt nich, wie wir uns verhalten sollten. Die Westberliner Künstler meinten: Gibt’s bei euch keine Telefonketten? Was die halt so kannten. Telefon???
MauraDie Künstler ham den Kontakt zu den Berlinern aufgebaut, weil’se gemerkt haben: In Hoyerswerda gibt’s keene Gegenbewegung, keenen Widerstand. Dann kam einen Tag später aus Berlin so’ne Abordnung, bestimmt achtzig Leute. Die waren dann im Laden. Da hat Uwe ’ne Rede gehalten, mit’m Megafon. Der hat schon gemerkt: Scheiße, das sieht nich gut aus. Weil, das war die Vorhut. Vom dicken Ende, ja.
UweDas hat uns alle überfahren, als die ganze Antifa aus Berlin hier anmarschierte. Da kam diese Riesenhorde an und war sofort im Laden. Ich hab dann mit paar Sprechern verhandelt und hab denen gezeigt: Hier ist der Block Schweitzerstraße, und die Müntzerstraße is dort hinten. Und schon waren’se weg bei uns. So, von da an war aber allen in der Stadt klar: Wir haben die hergeholt.
KarstenWir hatten ja geöffnet, dieses BETONung-Projekt fand noch statt – da kam ein jüngerer Mann rein. Dann haben wir uns mit dem unterhalten und haben unsere Meinung dargelegt zu dem, was da vor sich ging. Und der meinte bloß: »Na, da müssen’wa hier wohl ooch mal für Ordnung sorgen.« Was ja dann passierte.
Erst kommen die Rechten. Dann kommen die Linken. Dann kommen die Rechten. Dann kommen die Linken. Dann kommen die Rechten … Anfangs hat es sich noch angefühlt wie Tischtennis. Aber irgendwann ist es wie Chinesisch, wenn man atemlos um den Tisch hetzt, mit dem Schläger um sich haut und den Ball nicht mehr sieht.
Später würden wir von zwei Wellen sprechen – und damit nicht die Schichtbusse meinen. Die erste Welle kommt, als sich das Geschehen gerade von der Polenmauer in die Müntzerstraße verlagert hat. Siebzig Autos – so steht es später im Protokoll – haben sich in Kreuzberg in Bewegung gesetzt. Aus Brandenburg und Sachsen rollen die Glatzen an. In Hoy treffen sie aufeinander.
Bis jetzt war man hier dem Feind möglichst aus dem Weg gegangen – manchmal hatte die andere Straßenseite gereicht. Die jetzt in PKWs und Kleinbussen durch alle WKs patroullieren, schlagen gnadenlos auf alles ein, was entfernt aussieht wie ein Gegner. Sie sind nicht mehr mit Tischbeinen und Zaunlatten bewaffnet, sondern mit Eisenstangen und Schreckschusspistolen. Von »Steinkugelschleudern« und »Totschlägern« schreibt die Presse später. So viele neue Worte.
RöhliDas war eine fremde Welt, wie die aus Berlin gekommen sind. Und dieser Zwiespalt, dass das ja eigentlich die Guten waren! Im ersten Moment, die ersten zwee Stunden, hab ich gezittert vor Freude. Da dachte ich: »Bloß gut! Hier in der Stadt passiert nüscht, und jetzt kommt jemand, der genauso tickt wie wir.« Ich hab die ersten zwee Stunden wirklich fast geheult vor Freude. Und dann rückten die an … Um Gottes willen! Die Geister, die ich rief …
Ein paar Tage später veröffentlichen wir eine »Erklärung« in der Lokalzeitung:
»Da wir mit diesen Vorfällen fälschlicherweise in Verbindung gebracht worden sind, erklären wir: Unseren Protest gegen den Verlauf der Demonstration haben wir bei den Organisatoren vorgebracht. Wir distanzieren uns von Gewalt in jeder Form, egal ob sie von ›links‹ oder ›rechts‹ kommt, ob sie gegen Ausländer oder Deutsche gerichtet ist. Unser Klub ist auch weiterhin offen für jeden, der zum friedlichen Gespräch bereit ist. Laden-Klub e.V.«
Als die Zeitung erscheint, sind die Autos aus Berlin lange weg. Wir sind noch da. Und die Glatzen.
Am letzten Sonntag des September 91 stehen wir an einer zweispurigen Straße im WK IX. Sie verbindet die Stadt mit der F97, Richtung Pumpe, Cottbus und Berlin. Stadteinwärts geht es links zum Busbahnhof – in einer steilen Kurve, um die sich immer die Ziehharmonika der Schichtbusse gekrümmt hatte. Ein Stück weiter käme man zur Müntzerstraße. Aber der gesamte Bereich ist großflächig abgeriegelt. Mann an Mann bilden Polizisten mit ihren vorgehaltenen Schilden eine Wand. Das Haus, das sie bewachen, ist leer. Nur dunkle Fensterhöhlen mit Resten eingeworfener Scheiben und die schwarzen Spuren von Brandsätzen an der Fassade erinnern daran, dass es noch vor einer Woche nicht beschützt war.
Seit dem Morgen sind wie am Fließband Autos von der F97 in die Stadt gerollt: zweihundert PKWs und sechs Busse, heißt es später. Sie kommen aus Berlin, Hamburg, Hannover, selbst aus Freiburg und anderen Städten, deren Kennzeichen wir nicht kennen. Ihre Insassen aber wissen ganz genau, wer wir sind.
Eine Berliner Initiative hat aufgerufen zu einer Demo: »Gegen Rassismus und Ausländerfeindlichkeit«. Viele Hoyerswerdsche sind gekommen. So, wie man hier am Sonntag inne Stadt geht: Orntlich angezogen und in Familie. Die Frauen im Kleid, die Männer im Blouson und mit Handgelenktasche.
Es sind mehr als die, die vor den Wohnheimen Beifall geklatscht hatten. Aber im Demonstrationszug, den die Auswärtigen formieren, will man sie nicht haben. Es staut sich. Auf der einen Seite die angescheuselten Hoyerswerdschen, unschlüssig und verunsichert. Auf der anderen Seite die Besucher. Von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet. Viele haben Sturmhauben über den Kopf gezogen, die nur Schlitze für die Augen frei lassen – Oma heißen sie bei uns.
Die Hoyerswerdschen Omas haben sich inzwischen auf die wenigen Bänke gesetzt, den Gehstock zwischen den Knien. Manche stehen auf den Balkonen, sie winken.
Die Demo kann nicht starten, weil die Berliner Veranstalter sich weigern, von der Polizei eskortiert zu werden. Vorn diskutieren sie. Hier, im Niemandsland zwischen F97 und WK IX, fangen die vermummten Besucher an, Pflastersteine aus dem Bürgersteig zu buddeln. Die Hoyerswerdschen werden unruhig. Der Bürgersteig ist nagelneu.
Bis vor ein paar Tagen war hier noch eines der üblichen Betonplatten-Provisorien – rissig, geborsten und mit wulstigen Fugen, über die man stolperte, wenn der Teer nicht gerade am Schuh kleben blieb. Ein Bürgersteig ist hier immer noch ein eingelöstes Versprechen.
Einer der Umstehenden wagt sich zu den Vermummten und redet auf sie ein. Seine Brigade hätte die Steine grade erscht diese Woche verlegt. Wofür man sie rausreißen müsse? Höhnisches Gelächter. Faschistenschweine! Sie werden es so oft sagen, bis alle Hoyerswerdschen, die demonstrieren wollten, sich entfernt haben.
In der Mitte der Straße stehen wir. Sehen zu, wie die Familien mit den Sonntagsblousons und Gehstöcken sich verziehen, zurück in ihre WKs. Wie Balkontüren und Fenster, aus denen zuvor noch ein paar rote Fahnen geschwenkt wurden, sich schließen.
Der Demonstrationszug setzt sich irgendwann doch in Bewegung. Drei Pfarrer aus Hoy haben ausgehandelt, dass an der Spitze des Zuges Hoyerswerdsche laufen sollen. So finden wir uns in den ersten Reihen wieder. Hinter uns eine schwarze, wütend aufgeheizte und Parolen skandierende Menge.
Schon nach wenigen Metern hat sie die Polizeiketten gestürmt, Tumult bricht aus. Wir laufen weiter. Zu spät, sein Gesicht zu verstecken vor denen, die uns von einem Dach im WK IX filmen. Wir roten Zecken. Wir Faschistenschweine. Um uns herum fliegen Steine, Fensterscheiben gehen klirrend zu Bruch und Eisenstangen krachen auf Autodächer. Wasserwerfer fahren auf. Als wir losrennen, wissen wir zum ersten Mal nicht, wohin.
MauraDie große Demo hab ich sogar mit vorbereitet. Ja. Damals war ich zu doof. Ich dachte, ich mach was Gutes. Ich war in Berlin vorher, Kreuzberg. Da war ’n Büro, die ham das organisiert. Dann bin ich durch die Kneipen und hab Flugblätter ausgelegt.
Zur Demo bin ich mit denen mitgefahren, im Konvoi. Die Organisation war nich schlecht. Die wussten alle, wo’se ihre Autos hinstellen in Hoyerswerda: vorne off der Wiese Richtung Pumpe. Und da war schon klar, hier sind jetzt Leute, die bleiben bei den Autos und passen auf.
Die Demo ging dann total schief. Zum Schluss gab’s richtig Drescherei mit den Bullen. Da hab ich gemerkt, hier stimmt was nich. Da war so’n Sprecher, so’n Propagandaminister Doktor Prügelpeitsch für die Linken. Der hat gerufen: »Haben die Autonomen wirklich Angst vor den Bullen?« Ja, hatten’se.
RottlIch hab ganz schlimme Erinnerungen an die Gegendemo. Wo’se den Besoffenen, der am Rand stand – so’n kleener Stammtisch-Nazi –, da zusammengeschlagen haben. Wie schnell die da irgendwelche Gummiknüppel hatten und den armen Alki so was von zusammengeprügelt ham! Da hat sich für mich bestätigt, dass das alles eene Suppe is: diese Aggressivität. Das war so abstoßend, dieser schwarze Block. Das wer’ich nie vergessen.
GabiWir wurden einfach mal gejagt von der Polizei. Da waren viele von uns mit dabei. Der schwarze Block hat das provoziert. Da gab’s ’n paar Steineschmeißer, und dann lief das ausm Ruder. Da wurden wir mit Wasserwerfern durch die Straßen getrieben. Wo waren die beim Angriff auf das Asylantenheim?
RöhliWir saßen mit’m Uwe im Laden und ham gewusst, jetzt geht die Scheiße von vorne los. Jetzt kommen tausend Leute in Schwarz und marschieren durch die Stadt. Und die fahren dann wieder weg, mit stolzgeschwellter Brust: »Wir ham unsre Pflicht getan.« Aber wir bleiben hier. Also, das war’ne extreme Zäsur. Eigentlich wie’n Todesurteil: dass du dich als links geoutet hast, weil du mit den Antifa-Leuten geredet hast. Wir hatten ja ooch keene Erfahrung. Wer kannte zu der Zeit den schwarzen Block?
Da wurde ganz, ganz viel für die Folgezeit kaputt gemacht. Weil, für die Leute in der Stadt war beides schrecklich: Rechts willste ni sein. Links kannste aber ooch ni sein. Das war für die wie Krieg, glaube ich. Da willste nur noch deine Ruhe.
DavidWir sind in Maputo gelandet. Das war schlimm. Weil, viele von uns sind nicht aus Maputo. Wir hatten kein Geld, nach Hause zu fahren. Manche haben es versucht mit dem LKW. Einige haben alles, was sie mitgebracht hatten, verloren. Einige sind erschossen worden. Durch Krieg ums Leben gekommen.