UweDas ging dann erst los. Nachdem die Ausländer raus waren, brauchten’se ’n neues Feindbild, und dann tauchten die bei uns auf. Mit diesen Überfällen, Verletzten und so was. Das führte zu so’ner Angst. Da is keener mehr in den Klub gekommen.

Gundi hatte immer gesagt, er habe drei Eltern gehabt: Vater, Mutter und den Staat. Bei uns war es die Stadt gewesen: ein drittes Elternteil, von dem man versorgt und erzogen wird. Von dem man eens hinter die Löffel bekommt und das einen beschützt. Hoy war für uns wie eine warme Haut.

Im Herbst 91 beginnt sie zu platzen. Schicht für Schicht, von außen nach innen. Wir verlieren die Räume, in denen wir uns sicher fühlen können. Wie bei einer Matrjoschka, die jede Familie bei uns in der Schrankwand neben dem Eierlikör zu stehen hatte. Als Kinder hatten wir endlos damit gespielt: Wenn sich ihr großer, runder Bauch öffnete, war da immer noch einer gewesen. Bis es irgendwann nicht mehr weiterging.

Zuerst sind es einzelne Plätze. Die Bushaltestelle im WK IV. Vor dem »Kosmos«. Koofhalle im Stadtzentrum. Lausitzer Platz. Man geht einfach nicht mehr dorthin. Dann sind es ganze WKs. Pech, wenn man dort wohnt. Dann ist es der Laden. Das Faxenhaus ist dauerbelagert. In der Stadt kann es einen jetzt überall treffen.

Man bleibt zu Hause. Aber sie wissen, wo du wohnst.

KarstenDer Klub war voll. Kossi hat Disco gemacht, der stand vorne in der Ecke. Dem haben sie mit’m Baseballschläger einen über’n Nischel gehauen.

RöhliDu hastes rumsen hören, draußen Krach, die Tür knallte, Leute schrien. Dann stürzten zwanzig Gestalten in’ Laden, brüllten rum, schnickten zwei, drei Leute zusammen, rannten wieder raus. Und später wusstest du, dass Kossi ’n Schädelbasisbruch hat.

KarstenDer zweite Überfall war beim Jazz-Wochenende. Plötzlich hören wir’s ausm Saal klirren. Ich gucke zum Fenster und sehe so’ne Glatze. In dem Moment fliegt ooch schon die Tür auf. Da sind wir einfach nur gerannt, hinter in den Raum mit den Filmprojektoren. Da standen Bierkästen, die schoben wir vor die Tür. Der Rosi war ooch da, der hatte sich ins Büro verkrochen. Die haben den Klub kurz und klein geschlagen.

MauraDie Kreuzberger kamen dann noch eenmal, zu fünft. Natürlich mit »Nazis raus«-T-Shirt. Und da kamen die Nazis, genau an diesem Abend. Na weeßte, was die Weiber von denen gemacht ham, die großen Autonomen? Die ham angefangen zu heulen. Ich hab’n Besenstiel inner Mitte durchgebrochen: »Hier nimmst du eenen, ich nehm den.« Gott sei Dank kamen’se ni rein, sind wieder abgehauen. »Nazis raus«, jaja. Du mich auch.

RottlWir kommen aus dem Klubhaus, Sitzung Umweltausschuss. Und man hört »Deutschland den Deutschen …« Das hat durch diese Straßenschluchten extrem geschallt. Und plötzlich waren die andern alle weg. Ich ganz alleene und dann dieses … als ob dir ’ne Flut entgegenkommt. Wo sind die genau? Große Frage. Jetzt musst du ooch weg! Ich bin mit’m Fahrrad durch die Stadt gerast und hinter mir dieses »Deutschland den Deutschen …« Vor Angst eingeschissen. Wortwörtlich.

HausiIrgendwann die Nacht um zwee klingelt’s Sturm. Was is’n jetze? Und dann steht Sattel blutüberströmt vor der Tür. Claudia war ja Krankenschwester, die hat den erst mal verarztet. Der hat gesagt, es klingelt, du machst off, und off eenmal is’n Fuß inner Tür. Die kommen rein, machen die Tür hinter sich zu, und dann können die in deiner Wohnung mit dir machen, was’se wollen.

Am Anfang haben wir uns noch ausgetauscht, wo es wieder geknallt und wen es erwischt hat. Haben im Faxenhaus hinter geschlossenen Fensterläden gesessen oder konspirativ in einer Wohnung. Dem Laden bleibt man besser fern – zu gefährlich. Durch die Stadt bewegt man sich nur noch auf dem Fahrrad, schnell und immer auf Umwegen. Bevor man die Haustür aufschließt, sieht man sich um und überlegt, ob man das Licht im Treppenhaus anmacht. Wissend, wie sinnlos das ist – denn es heißt, eine Schwarze Liste kursiere in der Stadt. Wir ahnen, welche Namen und Adressen darauf stehen.

Irgendwann hören wir ganz auf, uns zu treffen. Jetzt ist jeder mit seiner Angst allein.

RottlDer Erste ging, der Zweete ging. Da ham wir das Faxenhaus ausgeräumt und die Umweltbibliothek zwischengelagert. Wir ham uns von der Stadt ’ne WG erkämpft, wo wir hingezogen sind. Und die wurde dann ooch überfallen. Standen die plötzlich in der Wohnung dort drinne. Da war »Saxen macht mal Faxen« ernst geworden. Ich hab das erste Mal in meinem Leben so’ne richtige Existenzangst gespürt. Das war das Schlimmste eigentlich von der ganzen Geschichte.

MauraMike war am Ende allene im Faxenhaus. Eines Morgens wacht der vom Geräusch eines Autos auf. Pritschenwagen, drei Maurer, hinten Steine drauf, Mörtel. »Da is eener drinne, das könn’wa doch jetze ni zumauern.« Sind’se wieder abgezischt. Die waren vonner Stadt geschickt, klar. Die haben das ja dann so schnell, wie’s ging, abgerissen, nachdem alle raus waren. Dass so was wie das Faxenhaus ja nich nochmal passiert!

Ende 91 sind Ordnung Sicherheit Disziplin in Hoy wieder vollständig hergestellt. Drei Monate nachdem die Ausländer aus der Stadt gebracht wurden, geben die Faxen auf.

An einem Sonntagabend hallen durch den Novembernebel Stiefeltritte über den kleinen Platz vor dem Durchgang zu Foto Kahrig. Vor dem Kastanienhof marschieren die Nazis auf. Im Kasten hatten wir eins zwei tipp getanzt. Auf dem Rückweg waren wir immer vor der Glasscheibe bei Foto Kahrig stehen geblieben und hatten bei den Hochzeitsfotos nachgesehen, wen es erwischt hatte. An diesem Sonntagabend im November dröhnt ein strammes links zwo drei durch die Altstadtgassen. Später wird es heißen, Nazi-Größen aus ganz Deutschland seien da gewesen. Man hätte die ausländerfreie Stadt gefeiert.

Bei Foto Kahrig und im vorderen WG-Zimmer erzittern die Scheiben, als das Stampfen näher kommt. Fieberhaft schließen wir die Haustür zu. Wie lange würde sie standhalten? Schwarze Liste.

Auf dem kleinen Platz vor dem Fenster marschieren sie auf. Ihre blanken Köpfe glänzen von oben im Schein der Straßenlaterne. Das Licht im Zimmer haben wir längst gelöscht. Jetzt skandieren sie. »Ro-te Ze-cken solln ver-recken« aus bellenden Männerkehlen.

Wir schieben den Flurschrank vor die Wohnungstür. Und kauern uns auf den Boden, unwillkürlich in Angst zusammengekrümmt. Wartend, jeden Moment das splitternde Krachen der Haustür unter den Tritten von Stahlkappen zu hören.

Vor dem Haus spiegeln sich die Bomberjacken der Männer im Schaufenster von Foto Kahrig. Dahinter die Bilder der Hochzeitspaare, zu denen wir und sie nicht gehören wollten.

Schließlich entfernen sich die Schläge der Stahlkappen die Straße runter. Vorbei an Trachtenschneider Jatzwauk und Fleischerei Schurig, an Rathaus und Tierpark, vorbei am Fenster, hinter dem wir mit Blachi gesungen hatten. To the place I belong.

Sie marschieren Richtung Laden. Wir wissen, dass es dort gleich knallen wird. Wir selber werden nur davonkommen, weil die anderen im Laden off die Schnauze kriegen werden. Kein Telefon. Wir werden zitternd auf dem Boden liegen, neben dem Regal mit den Platten.

Im Westen, werden wir später lernen, sagt man »Platte« zu dem, wo wir herkommen. Wir und sie. Bei uns ist Platte das, was die Glatzen, nachdem sie Sattels Wohnung gestürmt haben, auf seinem Kopf zerschlagen. Ist es eine Legende, dass die von Bob Dylan sich nicht zerbrechen ließ?

Die WG hat sich geleert. Nur weg. Zum letzten Abtransport von Kisten ist Hausis Onkel Günter im blank geputzten Wartburg vorgefahren.

Als man ihn noch nicht entlassen hatte, war er Betriebsleiter in der Brifa. Nun freut er sich, dass er endlich wieder etwas organisieren darf. Als altgedienten Schichtarbeiter wundert es ihn auch nicht, dass die Aktion nachts stattfindet. Für 23 Uhr ist die Abfahrt geplant, Punkt 22.57 Uhr sind alle Kisten verladen und die Plane ordnungsgemäß verschnürt, 22.58 Uhr macht Onkel Günter den letzten Kontrollgang um die Fuhre. Punkt 22.59 Uhr rollt er vom Hof. Hundert Prozent Planerfüllung, Onkel Günter ist zufrieden.

Die Möbel, die wir so schnell nicht beiseiteschaffen konnten, haben wir in einer letzten gemeinsamen Aktion auf den Dachboden geschafft. Hausi hat mit dem Besen Dreck vom Boden aufgefegt, den wir gleichmäßig auf unseren Truhen und Schränken verteilt haben – um ihnen den Anschein zu verleihen, sie lagerten seit Jahrzehnten hier. Danach laufen wir durch die nächtliche Altstadt.

Für manche von uns ist es der letzte Abend in Hoy.

Als wir am Tierpark vorbeikommen, hält auf der anderen Straßenseite mit quietschenden Reifen ein Auto. Die Türen öffnen sich, drei Gestalten springen heraus. Sie stürzen sich auf einen Jungen und ein Mädchen, beide langhaarig, die Hand in Hand dort laufen. Man hört dumpfe Schläge. Schon sind die Gestalten wieder im Wagen verschwunden, der mit laufendem Motor gewartet hat. Er ist weg, als wäre er nie da gewesen.

Auf der anderen Seite der Straße liegt blutend der Junge. Wir laufen rüber und zerren ihn hinter das nächste Gebüsch – ängstlich lauschend, ob das Auto zurückkehrt. Als es ruhig bleibt, rennt Röhli zum nahen Film-Eck, um einen Krankenwagen zu rufen.

RöhliDas war wie’n Terroranschlag. Die wollten wirklich Terror verbreiten. Ich hatte dann diese Scheiß-Situation an der Kinokasse. Warum’se jetzt im Krankenhaus anrufen müssen. Und wenn’wa uns prügeln wollen, dann müssen’wa das unter uns ausmachen. Nach dem Motto: »Wenn’de nich links wärst, würdste nich off die Fresse kriegen.«

Ich hab das Mädel dann darin bestärkt, zur Polizei zu gehen und das anzuzeigen. Die wollte erst nich und hatte Angst. Und dann hatte ich viehischen Ärger paar Wochen später mit ihr, weil ich hab die in Pumpe paarmal getroffen. »Jetzt siehste, was ich davon hab!«

Der eene Typ, der dabei war, den sein Vater war bei der Polizei. Und der hat seinem Sohn die Adresse von ihr gegeben. Dann stand der bei ihr vor der Tür und sagte, sie soll gefälligst die Anzeige zurückziehen. So’ne Sachen. Du hattest zu nichts und niemandem mehr Vertrauen.

KarstenDa wurde kaum jemand gefasst. Auch bei den Überfällen im Laden habe ich nich gesehen, dass da kriminaltechnisch irgendwie ermittelt wurde. Keine Spuren aufgenommen, einfach nichts. Das kam eben noch dazu, dass man gemerkt hat: Von der Staatsgewalt wird man nicht unterstützt.

HausiDer eine, der bei dem Überfall auf den Kossi im Laden dabei war, rannte später mit Zopf rum. Die hatten dann alle lange Haare! Und bei der Gerichtsverhandlung, Jahre später, hat die Richterin gesagt: »Gucken Sie sich diese jungen Männer an – sehen die aus wie Nazis?« Die ham kaum was gekriegt.

RöhliDa war jeder für seine Sicherheit selbst verantwortlich. Das war’ne richtig gesetzlose Zeit.

Am Ende des Jahres 91 haben wir unser drittes Elternteil verloren. Wir sitzen in Leipzig oder Berlin, mit zugezogenen Fenstern in einer Wohnung im WK III, in einem Bauwagen im Hunsrück, in einer Mühle in Bad Muskau oder in einem Haus ganz am Rand der Altstadt. Wir werden uns fühlen wie jedes Kind, dessen Eltern es nicht beschützt haben. Und werden sie weiter lieben, wie jedes Kind es tut.

Besonders, da andere uns unsere Stadt jetzt erklären: Eine »Strafkolonie namens Hoyerswerda«, der »steingewordene Reißbrett-Traum realsozialistischer Kaninchenzüchter«, lesen wir im »Spiegel«. Auch, dass »der braune Dreck in Strömen« aus uns fließe. Dass wir »in einem bösartigen, hässlichen, dumpfen Alltag« gelebt hätten, »der bösartige, hässliche, dumpfe Menschen stanzt«.

Der Fotograf einer großen Tageszeitung hat einen Skinhead mit einschlägigen Tattoos und erhobenem Arm vor einem Jugendklub postiert. Der wird als Treffpunkt dieser typischen Bewohner von Hoyerswerda beschrieben. Es ist der Laden.

SchudiIn dieser Zeit is der Glaube an irgendwelchen Journalismus flöten gegangen. Weil, wir haben normalerweise immer den »Spiegel« gelesen. Wahnsinn, was die alles schreiben können! Oder ARD oder ZDF … Die Recherche und der investigative Journalismus! Aber dann hat man gesehen, was das für’n Fake sein kann und wie das von Halb- und Viertelwahrheiten strotzt. Oder gar keine Wahrheit. Das muss man erst mal lernen. Wenn die irgendwas über die Philippinen schreiben – woher soll ich wissen, was dahintersteckt?

Aber dann kamen diese ganzen Hoyerswerda-Artikel, und dann merkst du auf einmal, was das für Flachzangen sind und wie schlecht das alles recherchiert is und wie zusammengeschustert. Dass eener losfährt, drei Stunden Zeit und zack, dann wird eener vonner Straße vor’s Mikro gezerrt. Der blubbert was in seiner Angst, irgendwelchen Stuss – und keiner hat ooch nur im Ansatz versucht, diese Mega-Komplexität zu durchschauen – ooch nich der »Spiegel«. Das war krass.

Und das Frustrierende ist, dass es nich besser wurde. So dass der Glaube daran kaum wiedergekommen ist. Egal ob sie über Gundi schreiben oder irgendwas anderes – man is hellhörig geworden. Eher hinterfrage ich jetzt den »Spiegel«.

GabiWoran ich mich deutlich erinnern kann, ist dieses Gefühl, das wir alle hatten: Dass Hoyerswerda jetzt auf diese Zeit und diese Vorkommnisse reduziert wird. Das macht einen erst mal so bisschen hilflos. Und dann entwickelt man Trotz oder einfach Wut.