RöhliDiese Zeit war extrem dunkel. Drei Jahre hinternander gab’s in jedem Jahr Tote. Ermordet, meistens von Nazis.

Der Sternenhimmel, der sich Anfang der Achtziger im Planetarium über uns geöffnet hatte, ist im Februar 1993 noch der gleiche. Am Montagmorgen setzt sich der Mechanismus knarzend in Bewegung und lässt über den Köpfen der Zehntklässler von Hoy die Stadt für eine Stunde verschwinden. Aber sie müssen nicht mehr zur nullten Stunde erscheinen – mit den Schichtbussen ist auch der Schichtunterricht aus unserer Stadt verschwunden.

Auch der Intershop gleich neben dem Planetarium ist nicht mehr da. Tintenkiller und Wrigley’s Spearmint gibt es jetzt in der Koofhalle – aber die im WK VI wird demnächst für immer schließen. So wie die Weinstube Csárdás samt Wohngebietsgaststätte Libelle, deren Türen schon mit Brettern verrammelt sind. Auf den Gehwegen beginnt Gras zu wuchern. Nur das Straßenschild mit dem Namen von Walentina Tereschkowa – die erste Frau im All – erinnert noch an eine Zukunft, die vorzeitig abgebrochen wurde.

Eine schmale Treppe an der Längsseite des Karrees führt in den Keller unter der Kaufhalle. Er ist einer der wenigen Orte in Hoy, an denen sich Langhaarige noch treffen können. Ihr Klub heißt »Nachtasyl«. Die Reviere sind neu aufgeteilt.

UweMan hat den Glatzen dann den »WeKa 10«-Klub überlassen. Nach dem Motto: »Lass die mal machen. Hauptsache, wir haben die so bisschen unter Kontrolle.« Das ging so weit, dass die Equipment gekriegt haben, um da ihre Nazilieder einzuspielen. Wirklich verrückt, aber das war damals üblich.

GabiDa hatte ich ’nen Job als Sozialarbeiterin im Jugendtreff und ’ne Einzelfall-Hilfe, mit einem von den rechten Rädelsführern. Dessen Vater war früher Parteisekretär. Der hatte Familie und Kind und ist komplett überfordert gewesen. Der hat sich später umgebracht. Die meisten von denen waren ja keine überzeugten Rechtsradikalen. Und das waren nicht per se alles Schwerverbrecher oder Idioten. Man sah einfach Jugendliche, die einsam waren. Frustriert, psychisch angeknackst. Und fehlgeleitet.

UweIch bin dann bewusst zu denen in den »WeKa 10«-Klub gegangen. Und habe dort mit Thomas Heise diesen Film gezeigt, den er in Halle über Nazis gedreht hat, »Stau«. Die ham sich das angeguckt und dann bissl rumgemotzt: »Der Typ hat doch’n Vogel«, und: »So sind’wa nich.« Ja, bei diesen Arschlöchern hab ich das gemacht. Ich wollte einfach diese Angst weghaben und dachte: Wenn die mein Gesicht sehen, is das nich mehr so einfach, mich als Feindbild aufzubauen.

Mir ging’s wirklich besser danach. Und das hat ooch dazu geführt: Man is in Ruhe gelassen worden, ooch der Laden. Aber das war sowieso klar: In dem Moment, wo die den Klub hatten, ham die sich nich mehr getraut, in der Stadt was zu machen. Das hat das Ganze befriedet.

Im Februar 1993 spielt im »Nachtasyl« die christliche Metal-Band »Necromantics«. Später wird zu lesen sein, in jener Nacht hätten vierzig Skinheads den Klub gestürmt. Mit dem Ruf »Schlagt die linken Zecken tot!« hätten sie auf die langhaarigen Konzertbesucher eingeprügelt. Der Techniker der Band Mike Zerna sei zusammengeschlagen worden, als er die Anlage in den Kleinbus räumte.

GabiIch kam die Treppe hoch und hab gesehen: Der Transporter war umgekippt worden! Leute rannten rum, brachten sich in Sicherheit. Es war einfach ein Tohuwabohu. Und dann haben wir mitgekriegt, dass unter dem Bus jemand liegt. Aber ehe das in dem ganzen Durcheinander wirklich klar wurde … Spät am Abend, alle hatten Alkohol getrunken.

Das Auto wurde dann hochgehoben, Krankenwagen gerufen und so weiter. Aber es stellte sich raus, dass der schon länger da druntergelegen hatte. Der ist daran gestorben. Scheiße. Traumatisch. Der ist gestorben.

In der Gerichtsverhandlung wird es darum gehen, ob, von wem und wie laut der Satz »Ej, da liegt einer!« gesprochen wurde, bevor die Angreifer den Ort mit dem umgekippten Transporter verließen. Mike Zerna hätte zu diesem Zeitpunkt noch gerettet werden können. Der kleene Alicke, so ist es überliefert, hatte am nächsten Morgen einem Kumpel erzählt, dass unter dem Auto jemand lag.

Kurz darauf wird die Polizei, die in der Nacht nichts in die Wege geleitet hatte, bei seiner Freundin klingeln. Der kleene Alicke, seit Anfang 91 arbeitslos und ohne festen Wohnsitz, wird sich ruhig von ihr verabschieden. Sie ist im achten Monat schwanger.

Schon einmal, nach dem September 91, hatte er vor Gericht gestanden und war auf Bewährung verurteilt worden. An jenem Morgen, da Mike Zerna im Krankenhaus noch um sein Leben kämpft, wird der kleene Alicke ein umfassendes Geständnis ablegen und wenig später tot in seiner Zelle aufgefunden. Ein Diakon wird aussagen, dass er in letzter Zeit stabil gewesen sei und als Maurer im Rahmen einer Maßnahme gearbeitet habe. Es ging um den Ausbau eines Keller-Klubraums.

Bevor er Skinhead wurde, war der kleene Alicke ein Metal mit langen Haaren – so wie Mike Zerna.

Auf ihren letzten Bildern haben beide einen leichten Bartflaum über der Oberlippe. Beide werden zum Zeitpunkt ihres Todes zweiundzwanzig Jahre alt sein. Etwa so alt wie der Junge aus Mosambik, der im September 91 verloren aus dem zerbrochenen Fenster der Polenmauer gesehen hatte. Und so alt wie wir, als wir in den Kellern der Stadt Cola-Wodka tranken und am nächsten Morgen die Reihen der Aktentaschen passierten.