MichaNach der Wende ist das natürlich zusammengebrochen. Das hatte sich dann erst mal erledigt mit Kultur.

Eines der zahllosen Kunstwerke, an denen wir jahrelang vorbeigeloatscht waren, ist ein Keramik-Relief in der Größe von zwei Fußballtoren. Die blaugrauen Rohre und Anlagen auf seinem Hintergrund signalisieren Industrie. Davor heben sich in lichtem Gelb drei Menschengruppen ab. Ernsthaft auf klassischen Instrumenten musizierend die eine, wild tanzend mit wehenden Haaren die nächste und grübelnd ins Schachspiel vertieft die letzte. »Arbeit und Freizeit« ist der Titel des Werks.

Nun beginnt es zu bröckeln – pünktlich in dem Moment, da die Arbeit uns verlässt und nur die Freizeit übrig bleibt.

Zuerst fallen die Schachspieler, dann lösen sich in großen Brocken die Tänzer, und am Ende bleibt nur der Mann – an seiner Kleidung als Arbeiter erkennbar – mit der Geige. Einsam fiedelt er in Richtung des Haufens geborstener Wandplatten.

Die Stadtverwaltung wird einen Zaun darum ziehen und ein Warnschild aufstellen lassen. Irgendwann wird ein Bautrupp kommen und die Bruchstücke und Scherben samt dem nunmehr kunstlosen Torso entfernen. »Verbleib: unbekannt«, wird später in den Annalen vermerkt.

Der Kopf eines der Schachspieler wird Jahrzehnte später über Umwege ins Stadtmuseum gelangen. Schudi hat das kiloschwere Keramikteil, nachts aus dem Laden kommend, von der Straße aufgesammelt und ins WK VIII geschleppt. Eines Tages wird es anmuten wie eine Scherbe aus der antiken Stadt Pompeji. Aber unsere Stadt ist nicht in einem Ascheregen versunken. Sie verschwindet Stück für Stück.

KarstenWir ham versucht weiterzumachen, irgendwie. Aber das Publikum war weg.

UweKlar, dann ham wir uns 16-mm-Filme geholt von den West-Verleihern. Und ham Klassiker gezeigt, die wir vorher nie spielen konnten. Aber ooch schon belanglosen Unterhaltungskram. Das ging ganz schnell, dass man einfach geguckt hat: »Was interessiert’n die Leute überhaupt noch?«

RöhliWir ham mit der Kunst nich ganz aufgehört, aber die Leichtigkeit war weg. Wir wussten: Wir schieben jetzt gegen ’ne Wand. Und die bestand aus so Vielem. Nich nur diese unterschwellige Gefahr, körperlich zu Schaden zu kommen. Sondern das ging ganz schnell los, dass’de dich gegen Institutionen gestemmt hast.

Zum Beispiel mit den Parkfesten der Weltkulturen. Es war schwer genug, die zu organisieren. Wir hatten dann trotzdem noch paar Kunst-Sachen gemacht. Einen Findling golden angemalt und den – frag nich, ’ne halbe Tonne wog der mindestens – auf einen Verteilerkasten gehievt. Das gab’s schon noch. Aber eben vereinzelt und nich mehr als gelebte Kultur, als Alltag.

Es war komplett Schluss mit Avantgarde. Für jeden war es existentiell. Der Kampf, seine eigene Sicht aufs Leben nicht aufzugeben. Und vor allem: Auf einmal musste hinter allem, was wir machen, ein Konzept und eine Aussage sein. Das meine ich mit Leichtigkeit. Die hatte keiner mehr.

Der Laden versucht es mit neuen Veranstaltungsreihen: erste schwul-lesbische Disco. Wir erinnern uns an den Jungen aus dem Nachbarhaus, der nach dem Abitur nie wieder in der Straße auftauchte. In der Kaufhalle war seine Mutter, darauf angesprochen, in Tränen ausgebrochen und hatte gesagt, sie hätte keen’ Sohn mehr.

Männer, Frauen und Maschinen, in diesem Dreieck ist vieles möglich. Im Laden sowieso. Taina wird Kerstin aus Hessen heiraten. Irgendwann wird der Krebs die immer kugelrunde Taina schmal und noch kleiner machen. Tine und Joe werden bis zum Schluss bei ihr sein.

Der Westfale Joe war als Geselle mit Maura auf der Walz gewesen und hatte ihn zurück nach Hoy gebracht, direkt in den Laden.

MauraDa hat er Tine kennengelernt. Und ich hab ihm vorher noch gesagt: »Du, pass off in Hoyerswerda, die Mädels da sind nich zimperlich.« Und: zack!

Joe und Tine werden deren zwei Kinder und ein drittes gemeinsames großziehen. Ein viertes nehmen sie in die Familie auf, als bei Taina und Kerstin die Frage im Raum steht und Joe nach einstimmigem Beschluss das Erforderliche beisteuert.

Und so wird ein Kind, das jenseits von Hoy aufwächst, Teil unserer Geschichte, in der alle alles geteilt haben. Auch wenn hinter der großen Glasscheibe von Foto Kahrig vorerst kein Platz vorgesehen ist für die, die es hier nur im Verborgenen gibt und die sich im Juni 94 nicht in den Laden trauen.

Zur selben Zeit drehen wir an der Sonntagsbrücke ein Video: »Wohngebietsoffener Wettkampf um den Titel ›Trottel der besseren Gesellschaft‹«. Weil fürs Theaterspielen nicht mehr genug Mitspieler vorhanden sind, haben wir uns aufs Filmedrehen verlegt. Wer gerade da ist, stellt sich vor oder hinter die Kamera. Das Schnittprogramm fügt zusammen, was die Nazis auseinandergeprügelt haben.

Meist persiflieren wir das, was Tag und Nacht über die Röhren in den WKs flimmert: Schlagersendungen, Heimwerkertipps und Werbeclips. Einmal kapern wir den Lokalsender Hoy-TV. Dort läuft normalerweise monoton eingesprochene Werbung für lokale Händler oder das letzte Abschlusskonzert der städtischen Musikschule in Dauerschleife. Für ein paar Stunden drängen wir den Hoyerswerdschen unseren dadaistischen Unsinn auf. Sie schalten einfach um.

Das alte Video vom Dreh an der Sonntagsbrücke zeigt eine Horde abgehalfterter Superhelden. Sie versucht, die Brücke zu unterqueren. Auf der von Streifen durchzogenen Aufnahme sind sie gerade so noch zu erkennen. Gespenstisch treten auf dem Brückenkopf weiße Schmierereien hervor: »Neger raus!« und »Deutschland« steht da, daneben drei Hakenkreuze.

Weder die Kamera noch die Teilnehmer des Rennens nehmen davon Notiz. Wir sehen es nicht mehr. Vielleicht, weil auch die Wände des Ladens davon übersät sind. »Rot Front verrecke! Linke raus! Sieg heil!«

Erst Jahrzehnte später wird uns der Atem stocken, wenn wir die Bilder sehen. Sie sind klüger als wir.

UweDann war ja ooch sinnvoll, dass man sagte: Wenn wir schon Jugendklubs finanzieren, dann sollen die Jugendsozialarbeit machen. Damit wir diesen Mist hier in der Stadt in’ Griff kriegen. Was wir aber gar nich konnten, weil wir keene Ausbildung dafür hatten.

Sozialarbeiter gibt es keine in der Stadt, aber viel zu viele Kindergärtnerinnen. Kinder sind neuerdings knapp in Hoy. Und so schlägt die Stadt zwei Fliegen mit einer Klappe: Sie beordert Erzieherinnen in die Jugendklubs.

Christine und Heidi halten Einzug im Laden. In der Kita hießen sie noch »Tante«. Statt Rotznasen zu wischen und »Bummi«-Hefte vorzulesen, sollen sie jetzt aus jugendlichen Nazis lupenreine Demokraten machen. Die städtischen Klub-Mitarbeiter Uwe und Karsten – die bislang Jazzkonzerte und Kunstaktionen organisiert hatten – sind angehalten, den »Lehrgang Aufsichtspflicht« zu besuchen.

In der Lokalzeitung äußert eine junge Leserin, dass sie sich sehr über einen Jugendklub freuen würde, aber »nicht so wie im Laden, wo man immer beaufsichtigt wird«.

Von außen ist der Laden nun eine Fascho-Burg, von innen ein antifaschistischer Kindergarten. Wir geben auf. Wenig später verkündet ein Flyer:

»BIM BIM BIM – DER LADEN macht zu!!!«

Im »großen Schlußverkauf mit Supermegasonderangeboten« wird neben einem »Bach zum Runtergehen incl. schöner Felle zum Davonschwimmen« auch ein »schnittiger Schaufelradbagger im Wert von DM 1,00 (unverbindliche Preisempfehlung der Treuhandanstalt)« angeboten.

So wie die Bagger in den Gruben wird es den Laden schon bald nicht mehr geben. Noch zwei Jahre dient der Betonwürfel als Büro und gelegentlicher Veranstaltungsort, bevor er abgerissen wird.

GabiIch glaube, es hatte auch generell mit der Situation zu tun. Das ganze Land hatte sich verändert. Es war einfach’ne Phase und Epoche zu Ende gegangen. Und der Laden konnte zumindest an dem Ort – der ja nach den ganzen Überfällen belastet war – nicht mehr einfach weiterexistieren. Als intellektueller Kulturszene-Ort war der auch nicht mehr nötig. Weil es das Land nicht mehr gab.

1997 beginnt der Rückbau der Neustadt. Zuerst fällt der Häuserzug mit RFT, Miederwaren und Spielzeug-Geschäften, dem Café »Drei Leichen« und der Taverne samt schmiedeeisernen Weinspendern und roten Plüschsesseln. Das Stadtzentrum, auf das wir so lange gewartet hatten.

Es ist, als würde das Herz der Stadt herausgerissen. Nur kurz hatte es geschlagen. Und es hatte nicht ausgesetzt, als an der Rückseite des Blocks die Vietnamesen über die Straße Richtung Polenmauer gejagt wurden.

In den nächsten Jahren wird mehr als die Hälfte der Wohnungen – die nun keiner mehr haben will – rückgebaut. Um mehr als die Hälfte wird sich die Einwohnerzahl verringern. Was weg is, brummt nich mehr.

Mangels Fahrgästen wird der gefeierte O-Bus seinen Betrieb einstellen. Zurück bleibt eine Wendeschleife ohne Wende. Die Leitungen werden entfernt, ihre Schraffuren über unseren Köpfen verschwinden.

Mit den Hochhäusern verschwinden auch die hellen Zeilen der Fahrstuhletagen im nächtlichen Schwarz. Als würde unsere Geschichte nicht weitergeschrieben.