In der achten Klasse hatten wir die Ringparabel aus »Nathan der Weise« lesen und den letzten Teil auswendig lernen müssen: »Es eifre jeder seiner unbestochnen / Von Vorurteilen freien Liebe nach!«
Dabei war nie die Rede davon gewesen, dass der Dichter Gotthold Ephraim Lessing nur eine Fahrradstunde von Hoy entfernt aufgewachsen war und als Kind stets die Ferien hier verbracht hatte. Sein Onkel war Amtmann von Hoyerswerda gewesen, eine Art höherer Beamter, und er hatte in einem stattlichen Haus unweit vom Hoyerswerdaer Schloss gelebt.
Unsere Welt aber hatte hinter den WKs geendet. Alles, was vor Pumpe und der neuen Stadt hier gewesen war, hatte so wenig mit uns zu tun wie der echte Glaube und die vorurteilsfreie Liebe.
Mitte der Neunziger stoßen wir – ein Häufchen Ladanier, denen ihr Land abhandengekommen ist – bei der Suche nach einem neuen Ort für uns auf das Lessinghaus in der Altstadt. Hier haben die Beamten früher gewohnt. Wein rankt an der Fassade des gedrungenen, verfallenen Gebäudes, zu dem das Kreischen der Pfaue aus dem nahen Tierpark dringt. Eine steinerne Ranke überspannt das Portal, darunter die Zahl 1702.
Wäre Lessing ein Vertreter der ruhmreichen Arbeiterklasse oder wenigstens proletarisch-revolutionärer Schriftsteller gewesen, hätte man ihm sicher ein Museum in dem alten Haus gewidmet. Da beides nicht zutraf, war im Lessinghaus jahrzehntelang Bier gebraut worden.
Mitte der Neunziger nun hat die Brauerei das Schicksal sämtlicher Betriebe der Stadt ereilt. Das Haus ist leer und droht einzustürzen.
Zwischen Stapeln von Paletten und zurückgelassenen Bierkästen veranstalten wir Konzerte. Das bröckelnde Gemäuer erzittert ein bisschen, und wir probieren, ob wir noch Luftgitarre können.
Zottel kugelt sich den Arm aus. Wir sind wieder da.
KarstenWir waren alle euphorisch. Begehungen und Pläne: Was kann man alles machen? Wir haben den Verein Kulturfabrik gegründet. Und dann gab’s die Stadtratssitzung, wo die darüber abgestimmt haben, wer das Objekt kriegt. Na ja, und wir sind’s nicht gewesen.
Im Rathaus hat man ein neues Wort gelernt: Immobilie. Es entbrennt ein Kampf um das jahrelang vergessene Lessinghaus. Am Ende aber entscheidet darüber nicht der echte Glaube, sondern das meiste Geld. Wir lernen, dass beides nicht mehr zu trennen ist.
KarstenAls Nächstes stießen wir auf dieses Haus am Markt. Da wurde ein Konzept geschrieben, und eigenartigerweise wurde das von allen begrüßt. Es gab einen Stadtratsbeschluss, also, offiziell war alles klar. Nur scheinbar nich in den Köpfen der Menschen, besonders bei der Stadtverwaltung. Die wollten das Haus lieber verkaufen.
Das imposante Gründerzeit-Gebäude war gebaut worden, als Hoy noch ein Ackerbürgerstädtchen mit einer Handvoll Honoratioren und Schützengilde war. Eine Geschichte, die die Stadt abgestreift hat.
Nun lässt sie sie wieder aufleben, als hätte es die Zugezogenen samt ihrer WKs nie gegeben: Die Altstadt-Familien übernehmen wieder das Rathaus und die Lokalpolitik. Nur ein paar West-Importe – die man wahrscheinlich wie die ersten Erbauer von Hoy zuhause rausgeschmissen hatte oder die dort anderweitig gescheitert waren – dürfen mitmischen.
Wie zum Zeichen des Machtwechsels gründet sich die Schützengilde neu – nicht, ohne darauf zu verweisen, dass es sie eigentlich schon seit dem 16. Jahrhundert gibt! Mit ernster Miene marschieren nun regelmäßig Schützenbrüder durch die Altstadt – in ordenbehangenen Uniformen, mit güldenen Litzen und weißen Püscheln auf den Hütchen. Prunkvoller als die schwarzen Bergmanns-Uniformen, die in den Schränken der Neustadt verstauben.
Jetzt erinnert man sich auch daran, dass das Haus am Markt um die Jahrhundertwende Gesellschaftshaus hieß. Damals hatte es hier an den Wochenenden »Tanz für die bürgerliche Gesellschaft« gegeben. Gesellschaft kannten wir bisher nur mit dem Vorsatz sozialistische oder kapitalistische, wenn möglich gerechte und vor allem: unsere. Gesellschaft war bis jetzt: alle.
In Hoy zieht sie sich nun in die Altstadt zurück. Deren Häuser sind auf einmal begehrt und verwandeln sich in kürzester Zeit von Ruinen zu schmuck herausgeputztem Eigentum. Wer kann, zieht auf die andere Seite des Flusses und überlässt die WKs den Abrissbirnen.
Als die Gesellschaft noch nicht mit dem Zusatz »bessere« versehen war und in der Neustadt wohnte, hieß das Haus am Markt »Pionierhaus Grete Walter«. Hierher gingen wir als Kinder, um Marionetten zu bauen und Puppentheater zu spielen, Tonfiguren zu kneten und zu brennen oder zaubern zu lernen im Magischen Zirkel.
Auf magische Art erinnert man sich nun daran, dass das Haus vor dem Krieg auch Städtisches Gymnasium war. Und dass der Erfinder des Computers Konrad Zuse 1928 hier Abitur gemacht hatte! Fünf Jahre, in denen sein Vater hier Postinspektor war, hatte er in Hoyerswerda gewohnt.
Im Gegensatz zu Brigitte Reimann oder Gundi ist Zuse nicht mit dem Makel behaftet, im falschen Land gelebt zu haben. Er wird Ehrenbürger der Stadt. Wie eine neue Uniform zieht sie sich seinen Namen an. Was immer geht, wird nach Zuse benannt: Berufsschule, Museum, Akademie, Straße und schließlich – nur folgerichtig – die gesamte Stadt.
Glücklicherweise erinnert immer weniger an deren jüngere Vergangenheit. Das Hochhaus mit der kompromittierenden Leuchtschrift ist aus dem Stadtzentrum verschwunden: Kohle Energie Gas. Was an deren Stelle treten soll, weiß niemand. Aber im Rathaus hat man einen rettenden Einfall. Der Slogan der Stadt lautet jetzt: »Wir lieben Ideen.«
Kurzzeitig darf die »Kufa«, wie der neue Verein »Kulturfabrik« in Hoyerswerdscher Effektivierungsroutine sofort abgekürzt wird, im Haus am Markt einziehen. Dann stellt man fest, dass der Saal baufällig ist, und wir werden umgesiedelt. Diesmal in ein verlassenes Schulgebäude ganz an das Ende der Stadt.
Im Nachbargebäude, das unserem an Hässlichkleit und Verfall in nichts nachsteht, sind die Obdachlosen der Stadt untergebracht und werden schon bald auch Asylbewerber einziehen. Hier, am Rand der bürgerlichen Gesellschaft, geht es so laut, dreckig und wild zu wie in den Gründerzeiten der vergessenen Stadt.
Wir nennen das neue Domizil: Zwischenbelegung.