Nach dem September 91 hatten auf den Gehwegen und Grünanlagen vor der Polenmauer und dem Asylbewerberheim Scherben gelegen und leere Bierbüchsen. Brandspuren an den Fassaden hatten gezeigt, wo die Molotow-Cocktails gelandet waren. Leere Fensterhöhlen mit Resten zerborstener Scheiben erinnerten daran, dass hier einmal jemand gewohnt hatte und nicht mehr da war.

Die Scherben hat man weggekehrt, die Bierbüchsen eingesammelt, die Fassaden übertüncht, die kaputten Fenster ersetzt und die Rahmen gekittet. Die Stadt will vergessen. Und auch wir sind froh, als Ruhe einkehrt und der Boden unter unseren Füßen nicht mehr zu schwanken scheint.

Seit wir denken konnten, wurde um uns herum ständig etwas aufgerissen und umgeschichtet, neu gebaut und wieder abgerissen. Nie konnte hier etwas bleiben, wie es war. Nicht in der Stadt, die gestern noch Landschaft war, heute WK und morgen schon wieder Wald. Und nicht in der Lausitzer Landschaft, wo gestern noch Dörfer standen, heute eine Grube war und morgen ein See sein würde.

Wir waren aufgewachsen mit den Baggern, deren riesige Schaufelräder sich in die Landschaft fraßen. Was in ihnen landete, war auf einmal nur noch Abraum.

Dort, wo dieser abgelagert wurde – so hatten wir gelernt –, entstanden Kippen. Irgendwann würden an deren Rand wieder Bäume wachsen und die Grubenlöcher sich mit Wasser füllen. In den neuen Seen würden wir baden.

Schon in der Schule hatte man uns Bilder dieser künftigen Lausitzer Seenplatte gezeigt: plantschende Kinder, lachende Eltern mit riesigen, gepunkteten Wasserbällen, rote Sonnenschirme und weiße Segel. Der Himmel strahlend blau. Dass kein Dreck über ihn ziehen, weil es Pumpe so nicht mehr geben würde, kam uns nicht in den Sinn. Wir sahen in unsere Zukunft.

Gelegentlich hatten wir davon gehört, dass der Boden in Tagebaufolgelandschaften geschwankt hatte und manchmal auch Stücke von Böschungen abgebrochen waren. Einen Lausitzer konnte das nicht erschüttern. Wir wussten: Es musste nur genug Zeit vergehen. Dann würde das Alte zur Ruhe kommen und das Neue entstehen.

An einem Nachmittag im Oktober 2010 aber setzten sich auf einer Kippe vor den Toren von Hoy und in Sichtweite der Schornsteine von Pumpe über eine Million Kubikmeter Schlamm in Bewegung. Grundbruch. Der flüssige Sand schob sich mit brachialer Gewalt in das Tagebau-Restloch. Drei Meter hohe Wellen rissen mit, was auf ihrem Weg lag. Unter sich begruben sie dreiundachtzig Schafe und fünf LKWs.

Vier Fahrer konnten flüchten. Der fünfte schaffte es auf das Dach des Fahrzeugs und wurde von einem Hubschrauber gerettet. In den folgenden Jahrzehnten durfte kein Mensch das zwei Kilometer lange Areal betreten. In seiner Mitte ragte das Dach des LKWs als kleiner roter Punkt aus der braunen Masse. Wir lernten ein neues Wort: Rutschung.

Immer wieder hatten wir seitdem davon gehört, dass Böschungen von aufgekipptem Abraum aus dem Tagebau wegbrechen. Die Wege außerhalb der Stadt waren nun von Schildern gesäumt. Sie warnten davor, den Waldboden zu betreten. Durch die Bäume sah man den See glitzern, aber man kam nicht ran.

Es passierte, dass sich Löcher in der Erde auftaten. Waldstücke versanken, Bagger, Tagebaugeräte, Häuser und manchmal auch Menschen. Unter den zugekippten Oberflächen, hieß es jetzt, würde es arbeiten. Das Grundwasser suche sich neue Wege und dränge nach oben. Festes Erdreich wurde durchspült und flüssig, Hohlräume entstanden. Unter jeder Grasnarbe konnte einer sein.

Das beunruhigte uns nicht. Da, wo abgesperrt war, gingen wir einfach nicht hin. Irgendwann würde über alles Gras wachsen. Man musste den Dingen nur genug Zeit geben.

Verkippen war die Strategie, die wir gelernt hatten.

RöhliZwei, drei Jahre nach der Sache mit dem »Nachtasyl« fing ich an, mich etwas sicherer zu fühlen. Das war das erste Mal, dass’ne Tat Konsequenzen hatte. Wo die Leute, die das gemacht hatten, sogar verknackt wurden. Und dann diese Soko Rex in Hoyerswerda präsent war. Du hattest nich mehr die Angst, dass du Überfällen einfach ausgesetzt warst. Weil bei den Nazis das Bewusstsein da war, die werden beobachtet und kommen nich mehr straflos davon. Ab da hab ich ganz, ganz langsam wieder durchgeatmet.

PfeffiIch war nach 91 Sozialarbeiter, ohne Ausbildung hab ich das gemacht. Das war befristet off een Jahr und wurde immer verlängert. Ende 96 war Schluss. Mit der Begründung: Die Lage hat sich beruhigt, gibt keene Auseinandersetzungen mehr. Ausländer gibt’s sowieso keene mehr in der Stadt, und demzufolge brauchen’wa euch nich mehr.

Seit dem September 91 wohnten in dem langgezogenen Hochhaus in der Schweitzerstraße keine Polen mehr, auch keine Mosambikaner oder Vietnamesen. Die Wohnungen, in denen sie zu viert gelebt hatten, wurden an Kleinfamilien oder Pärchen vermietet. Das Haus hieß immer noch Polenmauer – aber bald würde kaum noch jemand wissen, woher der Name kam und was hier passiert war.

Den neuen Kindern von Hoy erzählte niemand davon. Und doch spürten sie, dass unter dem Boden etwas war, das arbeitete.

HanniIch bin in einer weißen Blase groß geworden. In meiner Schule, um mich herum – alles White Trash. 91 war ich drei Jahre alt – ich hab das Pogrom nicht bewusst erlebt.

Irgendwann hat man so beiläufig mitbekommen, dass da was war. Aber nich in der Schule oder von irgendwelchen öffentlichen Quellen in der Stadt! So wie es theoretisch hätte laufen sollen – dass man sich damit auseinandersetzt. Sondern wir ham uns unser Wissen Stück für Stück erarbeiten müssen. Wenn man seine Eltern nach 91 gefragt hat, kam nur heiße Luft. Auch bei den Leuten von der Kufa.

Die ausm Dock – das war so’ne Melange aus Punks und Hiphop-Leuten – waren die Ersten, die mir erzählt haben, wie das war: das Pogrom und der Alltag mit Nazis. Die waren die Einzigen, die sich nach 91 mit den Faschos Schlachten geliefert haben. Die haben erzählt, dass es nie anders war.

Wir haben dann Zeitzeugen getroffen, einen Stadtspaziergang zu Pogrom 91 gemacht, eine Website. Es musste quasi erst uns geben, dass sich jemand in der Stadt damit beschäftigt hat. Aber haben um Support praktisch gefleht – an Orten wie der Kufa! Die waren nich davon überzeugt, uns zu unterstützen. Weil, wenn du da deinen Stempel »Kufa« draufdrückst, machst du dich natürlich angreifbar.

Hanni und Konsorten, wie wir die Kinder aus dem Dock nennen, nerven mit ihren Fragen. Wir erinnern uns an die Steine, die in den Laden und ins Faxenhaus flogen, an Kossis Schädelbasisbruch und an Sattels Wohnungstür, in die sich eines Nachts ein Springerstiefel mit weißen Schnürsenkeln geschoben hatte.

Zwanzig Jahre hatte es gedauert, bis wir nicht mehr als rote Zecken galten, sondern als Bürger – im Haus am Markt. Sollte alles umsonst gewesen sein? Und ist es nicht viel mehr wert, ein Haus für alle, für Bürger, als nur für Linke zu sein? In Hoyerswerda zerstreiten wir uns über der Frage. Und lassen die Kinder mit den ihren allein.

Aber sie fragen und nerven weiter. Die Antworten, die sie zu hören bekommen, lauten immer: »Wir warn’s ni.« »Wir sind so ni.« »Die woll’n uns nur schlechtmachen.« »Es muss doch ooch ma Ruhe sein.«

Aber die wütenden Punk-Kinder forschen, sammeln, dokumentieren, finden Verbündete – außerhalb von Hoy. Alles, was später zu dem Thema offengelegt wird, nimmt seinen Anfang mit ihnen: einer Gruppe schmaler Gestalten in schwarzen Klamotten und mit Zwiebelchen-Frisur, die sich nicht abwimmeln ließen und zur 13 wieder reinkamen, wenn man sie in der 11 rausgeschmissen hatte.

Würden wir heute noch einmal auf Hausis Balkon hocken und eine Hoy-Schrecke basteln, müssten die Punk-Kinder aus dem Dock sie bekommen.

Außer den Kindern vom Dock sind die Einzigen, die den September 91 nicht vergessen wollen, die Nazis. Wenn er sich jährt, marschieren sie auf.

RöhliDas war zum zehnten Jahrestag von diesem Pogrom, wo die Nazis demonstriert haben. Vorher hab ich überall rumgefragt, aber es fand sich niemand, der was dagegen organisiert hat. Von der Stadt sowieso nich!

Als ich dort ankam, hatten sich so fünfzig Hanseln auf die Straße gesetzt. Da war ich so froh! Das waren vierzehn- bis achtzehnjährige, aus der Truppe vom Dock. Die Polizei kam mit ihren Panzerwagen, SEK-Leute. Da war Hoyerswerda wieder in so’m Kriegszustand. Haben die da die Kleenen vonner Straße getragen. Tumult und Geschrei. Da hab ich gesagt: »Das geht so ni!« Und dann ging diese Diskussion mit der Polizei los. Ich hab immer gesagt: »Ich kann jetzt hier ni weg, ich muss sitzen bleiben. Tut mir leid.« Dann ham’se mich rausgetragen.

Zum fünfzehnten Jahrestag vom Pogrom hab ich mich ’ner Initiative vom Pfarrer Michel angeschlossen. Das war überschaubar – zwanzig, dreißig Leute. Da sind’wa hinter den Nazis gelaufen und haben mit Besen und Mülleimer den Dreck von denen offgekehrt, symbolisch. Dann ging das los, dass wir angegriffen wurden. Nich von den Nazis, sondern aus den Zuschauern heraus, von den Bewohnern. »Ihr linken Arschlöcher« und so. Da ging’s richtig zur Sache, gab ooch Verletzte. Und die Polizei hat sich nich dafür interessiert.

UweWie sich das wiederholt. Als man dachte, das is längst vorbei. Der ganze Dreck. Daraufhin haben wir ja die »Initiative Zivilcourage« mitgegründet. Haben Flyer verteilt gegen den Thor-Steinar-Laden und so was. Das war so schlimm – wenn du von denen fotografiert wirst. Plötzlich, wie 91. Dann is man wieder extra Kreise gefahren durch die Stadt, damit niemand weeß, wo man wohnt.

HanniWir sind damit aufgewachsen, das hat uns geprägt. Wenn wir nachts vom Dock mit dem Fahrrad nach Hause wollten, haben wir geguckt, welche Wege wir fahren. Es gab so’n paar Glatzen, die kannten wir, und die kannten uns.

Später wurde auch klar, dass einige von denen ziemlich gut vernetzt waren, im ostsächsischen Raum und ooch darüber hinaus. Es gab Graffitis an der Wand mit unseren Namen und: »Wir kriegen dich!«

Das Dock war paar Jahre unsere Festung. Einmal war ’ne Band aus Amerika da, als wir uns verbarrikadieren mussten. Wir standen da mit Knüppeln unter’m Dach, und die fanden das total super: endlich mal richtige Glatzen! Weil die das nur ausm Film kannten. Aber für uns war das Alltag.

Wenn Nazi-Aufmärsche angesagt sind, warnt die Lokalpresse davor, zur Gegendemo zu gehen, und empfiehlt stattdessen »stilles Gedenken«. Das praktiziert auch die Stadt.

Im September 2011 erscheint der Bürgermeister in Begleitung der Politprominenz von Hoy auf dem Lausitzer Platz. Da, wo der kleene Alicke mit einem Tischbein auf die Vietnamesen losgegangen war.

Später hatte genau hier Rottl off die Schnauze bekommen, und Rosi war bewusstlos geschlagen worden.

Ein paar Jahre lang hatten wir den Ort gemieden. Bis irgendwann wieder Marktstände dort aufgetaucht waren. Wir aßen Fischbrötchen am Stand einer der Teichwirtschaften und vergaßen darüber die Angst.

Im September 2011 schien die Stadt aus ihrer selbst gewählten Amnesie zu erwachen. Ein paar Kameras hatten sich in Stellung gebracht. Der Bürgermeister enthüllte eine kleine Stele. Ihre Aufschrift erinnerte an die extremistischen Ausschreitungen – als wären es Extreme gewesen, die den Steinewerfern vor der Polenmauer applaudiert hatten.

Währenddessen standen zwei Männer vor einem Hauseingang in der Schweitzerstraße. Hier hatten sie gewohnt, bevor die Steine und Brandsätze der Glatzen und der Beifall der Anwohner sie aus der Stadt gejagt hatten. Sie waren aus Mosambik angereist. Nicht die Stadtoberen von Hoy, sondern eine Berliner Initiative hatte sie eingeladen.

Vor genau zwanzig Jahren hatten sie oben hinter der Rhombengardine gestanden, während unten die Menge grölte.

Die neuen Hausbewohner beobachteten die Mosambikaner von der Grünfläche aus. Sie erstreckte sich dort, wo einmal Häuser waren. Dahinter hatte mal unsere Schule mit dem Relief von Albert Schweitzer gestanden. Nun wuchs dort ein Wald.

Die Männer auf der Grünfläche trugen Jogginghosen und hielten Bierbüchsen in den Händen. Wer 2011 noch in der Polenmauer wohnte, konnte es sich meist nicht leisten, in die Altstadt oder einen der Vororte zu ziehen. Und er wurde nicht zu einem Festakt auf den Lausitzer Platz geladen. Wo der Bürgermeister vor der Stele posierte und wo die Auslöser klickten.

Vor der Polenmauer näherten sich die Männer den Besuchern aus Mosambik: »Meine Scheiße sieht so aus wie du.« »Mach dich auf nach Afrika, du Buschvogel.« »Geh zurück in den Busch, du Bimbo!«

Der Bürgermeister spach derweil in die Kameras auf dem Lausitzer Platz: »Wir sind jetzt anders.« Dann verschwanden die Reporter eilig in ihren Autos.

Sie hatten den Parkplatz kaum verlassen, als der Bürgermeister die Stele wieder einpackte. Hilfsbereit assistierten ihm ein paar ältere Herrschaften. Ein Schild, das sie vor sich postiert hatten, wies sie aus als Vertreter vom »Bund der Vertriebenen und Spätaussiedler«. Dieser würde bald ein eigenes Museum in der Stadt bekommen.

Am nächsten Tag empfing der Bürgermeister die Mosambikaner Manuel Nhacutou und Emanuel Gärtner im Rathaus. Sie fragten ihn, warum nichts in der Stadt an sie erinnere und ob man so etwas nicht einrichten könne. Der Bürgermeister erwiderte, dass er ihren Wunsch zur Kenntnis nähme.

Drei Jahre später, im Jahr 2014, würde man an einem Kreisverkehr neben dem Stadtzentrum ein unscheinbares Tor aus grauem Stein aufstellen. Die Initiative um Hanni und die Punk-Kinder aus dem Dock, die sie »Pogrom 91« nennen, hatte erbittert dafür gekämpft. In den oberen Balken des Tors würde ein Regenbogen aus buntem Glas eingelassen sein. Darüber würde stehen: »HOYERSWERDA VERGISST NICHT – WIR ERINNERN«. Woran allerdings, würde nur erfahren, wer einen am Rand versteckten QR-Code scannte. Wir lieben Ideen. Zur Einweihung des Tors würde sich der Bürgermeister wieder der Presse präsentieren, während ein paar schwarz gekleidete Gestalten im Hintergrund Schilder in die Höhe halten würden: »NEIN ZUM DENKMAL!!! Hoyerswerda Bleibt Deutsch!«

Als der Bürgermeister im September 2011 den Mosambikanern die Hände schüttelte, war sein Blick in die Kamera gerichtet. Stolz präsentierte er eine Broschüre, bevor er sie Manuel Nhacutou überreichte: »Lust auf Hoyerswerda.«

DavidViele von uns sind schon tot, zum Beispiel der Manuel Nhacutou. Er war acht Jahre in der DDR, fünf in Hoyerswerda. In den letzten Monaten hatte er überhaupt kein Geld. Da mussten wir sammeln, dass er etwas Reis hat. Dann wurde er krank und konnte nicht ins Krankenhaus gehen. Das hätte ihm vielleicht das Leben gerettet.

Seit wir zurückkamen nach Mosambik, sitzen wir auf der Straße. Weil die von der FRELIMO sagen: »Ihr habt uns damals im Stich gelassen, ihr seid Verräter.« Ich bin als Meister ausgebildet. Aber die Betriebe sind angewiesen von der Regierung, dass ich nicht bei ihnen arbeiten darf. Raus!

Seit 1991 habe ich keine Arbeit. Ich bin jetzt über sechzig, habe eine Familie gegründet. Aber wie lebt meine Familie? Wie studieren meine Kinder? Haben sie etwas zu essen? Ich versuche, durch eine kleine Schweißmaschine meine Familie zu ernähren. Kleine Sachen schweißen, für einen Euro oder einen halben. Man hat von unserem Lohn in der DDR sechzig Prozent einbehalten. Und wir haben immer noch das Geld nicht bekommen. Der deutsche Botschafter hat gesagt: »Nein, wir haben alles nach Mosambik überwiesen.« Unsere Regierung sagt: »Die DDR hat das einbehalten. Staatsschulden.«

Ich habe noch meine Lohnabrechnungen. Was wir im Betrieb gezahlt haben, monatlich. Krankenkasse: 101,21 Mark. Rentenversicherung 147,06 Mark. In meinem grünen Ausweis steht: dreißig Prozent Bergbaurente. Aber wo ist meine Rente? Gewerkschaft: vierzehn Mark jeden Monat. Aber die Gewerkschaft hilft uns bis heute nicht. Und jeden Monat Marken für die Solidarität, so viele. Miete, ein Zimmer, drei Betten oder vier: jeder dreißig Mark, monatlich. Und jeder zehn Mark für Licht. Haben die Deutschen auch so viel gezahlt? Arbeitslosenversicherung: vierunddreißig Mark, monatlich ab 1990. Wir hätten ein Jahr lang Arbeitslosengeld kriegen müssen. Und mir wurde 91 einfach gekündigt. Ich habe gerne gearbeitet, und ich hatte einen Vertrag bis 92. Der wurde nicht erfüllt. Also müsste es eine Abfindung geben. Wo ist unser Geld? Was haben wir falsch gemacht?

Ehe Manuel Nhacutou im September 2011 zurück nach Maputo gefahren war, hatte er eine einstige Grube besucht, die sich anschickte, ein See zu werden. Weit in das Restloch ragte eine schmale, an einen überdimensionalen Steg erinnernde Stahlkonstruktion, die von einem Mast und Stahlseilen gehalten wurde. Als hier noch Kohle gefördert wurde, war sie der Ausleger eines riesigen Baggers, der Abraum bewegt hatte, gewesen. Wenn das Loch sich mit Wasser gefüllt hätte, würde das Baggerteil eine Seebrücke sein.

Auf ihr stand Nhacutou jetzt und erzählte einer Kamera von der Arbeit im Tagebau. Es mache ihn traurig zu erfahren, dass seine ehemaligen Kollegen jetzt arbeitslos seien, sagte er. Er wisse, wie das ist. »Keine Sonne, kein Licht«. Dann hatte er das Steigerlied angestimmt. Glück auf, Glück auf …

Fast dreißig Jahre nachdem die Mosambikaner Hoy verlassen hatten, sitzen wir an derselben Stelle, wo Nhacutou vor dem Restloch stand, auf der Seeterrasse. Wir trinken Wein, der mittlerweile hier an den Hängen wächst. Sein Name ist »Solaris« – wegen der Sonne, die sich auf der einstigen Grubenböschung fängt. Unter der Seebrücke schimmert blau das Wasser, nebenan haben Boote angelegt. Wir haben jetzt ein »Seenland« – da, wo die Kumpel einst den Abraum verkippten.

HanniDass uns niemand unterstützt hat, hat bei uns dafür gesorgt, dass wir das wirklich alles zum Kotzen fanden. Diese ganze Stadt. Dass offensichtlich niemand von denen daran interessiert ist, diese Dinge aufzuarbeiten. Und dass eine junge Generation, die sagt »Das können wir nich so stehen lassen!« es so schwer hat, Unterstützung zu bekommen. Von Instanzen und Orten, die man dafür braucht als junger Mensch. Und wir haben das halt auf die ganze Stadt bezogen. Wir haben einfach nie’ne bessere Erfahrung gemacht.

Es musste nur genug Zeit vergehen. Dann würden sich die dunklen Massen, die man abgetragen und verkippt hatte, setzen und Gras darüber wachsen. Hatten wir nicht unser Leben lang im Knappensee gebadet und an seinen Ufern gezeltet? Seine Flutung war so lange her, dass auch von den Älteren in der Umgebung sich kaum noch jemand daran erinnerte: 1945.

Fast siebzig Jahre später, 2014 – und im selben Jahr, da man in Hoy das Regenbogen-Tor einweihte – sperrte die Bergbaubehörde den Knappensee auf unbestimmte Zeit. Das gesamte Gelände wurde mit Stacheldraht umzäumt und von Videokameras überwacht.

Sämtliche Ferienanlagen an den Ufern des Sees wurden stillgelegt, abgebaut oder dem Verfall überlassen. Man könne Sicherheit nicht mehr gewährleisten, hieß es. Ein Gutachten stellte fest, dass eine lange Liegezeit des verkippten Abraums die Gefahr einer Rutschung nicht verringere.

Im März 2021 bricht bei Sanierungsarbeiten dann eine Uferböschung ab. Erdreich in der Größe von sieben Fußballfeldern rutscht in den See.

Direkt daneben hatten einst die Dauercamper im Sommer ihre Zelte aufgeschlagen. Nachts hatten wir hier durch die dünne Leinwand den See plätschern gehört. Jetzt knicken die Bäume des angrenzenden Walds, in dem wir Verstecken gespielt hatten, um wie Grashalme. Inmitten gewaltiger Erdmassen treiben sie auf den See. Ein Tsunami rollt ans gegenüberliegende Ufer und schiebt dort drei Bungalows vor sich her. Spätestens jetzt wissen wir, dass auch der Dreck, den unsere Großeltern verkippt haben, irgendwann nach oben kommt.

Als sich das Erdreich am Knappensee in Bewegung setzt, sind die wütenden Kinder aus dem Dock schon lange nicht mehr in Destroyerswerda, wie sie die Stadt auf ihren Partys genannt hatten. Hanni und die Jungs von PlaRo haben eine neue Band gegründet. Ihr Name: »Pisse«. Alles, was die Öffentlichkeit von ihnen weiß: Sie kommen aus Hoyerswerda und heißen alle Ronny.