in zeiten der dürre zieht sich das leben zurück
in stabile biotope, betreibt arterhaltung, austausch,
bereitet den ausbruch vor,
die nächste expansion gegen die wüste,
die beginnen wird,
wenn sich der schatten einer regenwolke zeigt.(Gundi, in einer Grußbotschaft zum Ladenschluss)
An diesem Augustabend am Rand des Stadtzentrums ist es ein bisschen wie vor fast dreißig Jahren, als Hoy am Vorabend der Währungsunion den letzten Tag des Bergmanns gefeiert hatte.
Damals hatten die Maggi-Stände noch neben denen der Betriebskantine von Pumpe gestanden. Jetzt sind hier, am Rand einer Senke neben den Hochhäusern, Döner- und Bratwurstbuden aufgebaut. Die Wohnungsgesellschaft hat zur Mitsingnacht eingeladen.
Als es dämmert, kommen die Hoyerswerdschen mit ihren Klappstühlen. Die gehören in einer Stadt der Dauercamper und Kleingärtner zur Grundausstattung eines jeden Haushalts. Viele nehmen einfach auf der Sitzfläche des Rollators Platz. Rollator City.
Schnell hat sich die kleine Wiese mit Menschen gefüllt. Vorn steht André, der auch den Bürgerchor dirigiert. Mit der Gitarre gibt er die Melodie vor, und alle halten sich ihre Textbücher dicht vors Gesicht. Seite um Seite singen wir uns hindurch. Die gesammelte Kraft der Betriebschöre und Singeklubs. Gelernt is gelernt.
DavidIch erinnere mich an die Musik. Karat, Elefant, Puhdys. Die Erinnerung macht uns viel Spaß mit meinen Freunden, wenn wir zusammen sind. Weil, das war schön und am Ende sehr schlimm. Vergessen werd’ ich nie. Die wollen uns vergessen.
Ich war noch einmal in Hoyerswerda, zwei Tage, im Jahr 2017. Es gab eine Veranstaltung. Da sind viele gekommen, es war voll. Aber die haben alle nur gesagt: »Wir haben gar nichts mitgekriegt.« »Ich habe das nicht gehört.« »Ich habe das nicht gewusst.« Der Bürgermeister war nicht da. Er hätte mich einladen können, an die Stelle mit dem Regenbogen. Und wir hätten Bilder gemacht, als Erinnerung. »Wir haben euch nicht vergessen.« Das wäre schön. Nur das Symbol. Dann hätte ich das mitgenommen und hätte das den anderen in Mosambik gezeigt. Aber jetzt kann ich nur sagen: »Keiner hat Entschuldigung gesagt.«
Inzwischen ist es dunkel geworden. Das Tor mit dem Regenbogen, das eben noch zu sehen war, wird von der Nacht geschluckt. In der anderen Richtung öffnet sich der Horizont zum Himmel, auf dem langsam die ersten Sterne erscheinen. Noch vor ein paar Wochen hat die Polenmauer den Blick zu einer Seite begrenzt. Aber sie hat diesen Sommer nicht überlebt. Wo sie sich einst erstreckte, sprießen schon jetzt – da die Bagger gerade weg sind – die ersten Grashalme.
Schon sind wir auf der letzten Seite unserer Textbücher. Hier ist alles immer vorbei, wenn es gerade gut zu werden beginnt. Alle bleiben sitzen, und André fragt, ob man noch etwas singen wolle. Es müsste nur etwas sein, dessen Text alle auswendig kennen. Nur ein Lied kommt in Frage. Es tönt aus tausend Kehlen über die Wiesen. Dort, wo einst unsere Häuser standen.
Glück auf, Glück auf / der Steiger kommt / und er hat sein helles Licht bei der Nacht / und er hat sein helles Licht bei der Nacht / schon angezünd’t / schon angezünd’t.
SchudiLetztendlich isses nüscht anderes als das Geborgenheitsgefühl, was andre haben, wenn’se auf’m Dorf aufgewachsen sind. Wo man alles kennt: jeden Baum und jeden Strauch, jede Entfernung, jeden Teerstreifen auf der Betonplatten-Straße. In jedem Bewusstseinszustand, ob sturzbetrunken oder sonst wie diese Straßen langgelaufen, mit’n Fahrrad langgefahren, mit’n Moped …
Unser Haus gibt’s nich mehr. Meine Eltern haben tatsächlich vom Erstbezug bis zum Abriss drin gewohnt. Bis zur letzten Minute, fast fünfunddreißig Jahre. Die eene aus’n Erdgeschoss links schneidet meiner Mutter immer noch die Haare.
PfeffiWir ham uns nich zuhause verkrochen und lamentiert, wie schlecht der Sozialismus is. Sondern wir ham gesagt: Wir machen was draus. Wir gehen bis an die Grenze des Machbaren. Und die Grenze hat sich eben verschoben, immer weiter.
BeateBeim Schulabschluss gibt’s immer ein Foto von jeder Klasse in der Zeitung. Man könnte sich die Namen von denen nehmen und gleich aus dem Leserverzeichnis der Stadtbibliothek streichen. Die sind fort. Dabei ist es doch frappierend: Wir haben diese tolle Kulturhalle. Wir haben ein Schwimmbad. Wir haben eine sehr, sehr gute Bibliothek. Wir haben Sportvereine. Wir haben einen Indoor-Spielplatz, wir haben Sportplätze, wir haben sehr gute Spielplätze. Wir haben ein Einkaufszentrum. Wir haben die Kufa. Es werden Konzerte gegeben, es wird Theater gespielt. Im Grunde genommen – um auf Frau Reimann zurückzukommen: Es ist alles da.
Die damals hergezogen sind, so in der Generation von der Reimann, und die gefordert haben: Kino und dies und das … Jetzt haben sie’s. Und sie nutzen’s nicht. Weil sie’s nicht mehr können, weil sie zu alt sind. Und die, die es nutzen könnten, sind weg. Das ist doch irre!
GabiDas war schon ’n seltsamer Ort. Mit diesen Mondlandschaften zur einen Seite hin. Überall Sand. Rundherum alles Tagebaue und das Grundwasser sonst wo – das war ’n ziemlich trostloser Wald. Aber ich konnte selbst diesem trockenen Kiefernwald was abgewinnen. Wenn du im Frühling draußen bist und hörst die Lerchen singen, es ist schon warm, du kannst dich in das Gras vom Vorjahr legen und siehst den Huflattich blühen … Das ist karg, aber das hat seinen eigenen Reiz. Das ist einfach ’ne Frage der Haltung. Wir ham uns hier alle wohl gefühlt.
YvonneIch bin nach Griechenland gezogen und hab festgestellt: Das Leben da is wie früher bei uns. Mangelwirtschaft, das System funktioniert nur über Beziehungen, man muss aufeinander zugehen. Und es geht nich um Karriere oder Geld. Wenn mich jemand fragt, woher ich komme, sag ich immer: aus dem netteren Teil von Deutschland.
HanniOstsachsen, das is einfach’n super-trauriger Landstrich. Aber bei all der Traurigkeit lernt man eben: Du musst die Dinge selber in die Hand nehmen. An Orten, die so’ne depressive Ausstrahlung haben – da muss man seinen Blick schärfen. Und dann sieht man diejenigen, die dagegenhalten. Die wird es immer geben.
Spätnachts sitzen wir im Garten und lauschen dem Klacken der Würfelbecher. Sämtliche Rentner von Hoy scheinen in ihren Gärten zu würfeln. Es ist der neue Soundtrack der Stadt, die ihren alten verloren hat.
Anderthalb Kilometer in die eine Richtung plätschert der Scheibesee. Als wir hierherzogen, stand an seiner Stelle noch ein Dorf. Aus dem kamen die sorbischen Matkas auf ihren Scheesen ins WK IX und holten aus den Schweinchentonnen Abfälle zum Verfüttern.
Später hatte Gundi dort auf dem Bagger gesessen. Jetzt liegt er, anderthalb Kilometer in die andere Richtung, auf dem Waldfriedhof.
Dorthin zieht es die Hoyerswerdschen tagsüber. Kolonnen von Rollatoren schieben sich durch das schmiedeeiserne Tor. Man trifft sich unter den großen Bäumen und illert, was heute so los is.
Am Totensonntag sitzen wir an langen Tischen im Hof der Friedhofsgärtnerei Schulze. Hoy trinkt den ersten Glühwein des Jahres. Den Tod, den die Stadt anfangs verbannt hatte, hat sie nun in ihr Leben gelassen. Und irgendwann haben die Eltern von Hoy beschlossen, die Ewigkeit so zu verbringen, wie sie gelebt haben: in Hochhäusern. Wie diese erheben sich Stelen aus Gemeinschaftsgräbern, darauf Namen wie Klingelschilder.
Anderthalb Kilometer in die dritte Richtung des Bermudadreiecks steht in der Thomas-Müntzer-Straße immer noch die Aula. Tagsüber laufen hier statt aufgeregter 14-Jähriger im Jugendmode-Anzug dunkelhäutige Kinder die große Treppe rauf und runter. Frauen in langen Gewändern tragen Einkäufe ins Haus. Junge Männer mit schwarzen lockigen Haaren, in glänzenden Jogginganzügen und Badelatschen, stehen am Zaun, der das Gelände vom Rest der Stadt trennt. Hier, immer noch ganz am Rand von Hoy, wohnen wieder jene, die Asyl suchen.
Wir sitzen im Garten und haben ein Feuer gemacht. Über uns schwebt eine endlose Reihe heller Punkte in schnurgerader Formation durch die Nacht. Von der Altstadt kommend, über WK II und VIII, Richtung Scheibesee. Wie immer ist Hausi der Einzige, der Bescheed weeß. Ein Milliardär aus Amerika, so erzählt er, habe dutzende von Satelliten auf ihre Umlaufbahn – die direkt durch Hoy führt – geschossen. Tausende würden folgen.
Der bestirnte Himmel, den wir im Planetarium, nullte Stunde WK VI, gesehen hatten, wird nicht mehr der gleiche sein. Von fern klacken die Würfel.