»Armer Herr Kommissär … wie kommt’s, dass Sie nicht geschlafen haben? Wollen Sie sich ein wenig ausstrecken, hier auf dem Sofa? Warten Sie, ich richte die Kissen …«

Daniella trat näher, beugte sich über ihn. Studer konnte ihr Parfum riechen und erkannte die Rundungen der Brüste unter der durchscheinenden Bluse. Bei dem Versuch, das Kissen zu richten, bedeckte sie sein Gesicht mit ihrem Haar. Studer schob es beiseite. Sogleich wich Daniella zurück.

»Verzeihen Sie.«

»Keine Ursache.«

»Wollen Sie nicht doch einen Augenblick ausruhen?«

Das war eine kluge Frage und mehr als eine bloße Floskel. Daniella wusste, dass der Polizist das Angebot in Betracht ziehen würde. Studer war erschöpft, entmutigt, kam nur tastend voran. Er war zwar nicht im Ausland, aber so gut wie: In Bern kannte er die Gemüter, die Charaktere, die Feinheiten der Mundart; in Ascona konnte er nur erahnen und raten, was wahr war und was lediglich ein für ihn inszeniertes Schauspiel. Und nun dieses halb nackte Meitschi neben ihm auf dem Sofa … Sie waren allein im Salon der Villa, während eine zarte Morgenbrise durch die weit geöffneten Fenster hereindrang … Und eigentlich, bei genauer Betrachtung, war Kommissär Jakob Studer ja in den Ferien.

»Aber Sie haben ziemliche Augenringe …«

»Die gehören zu meiner Arbeit.«

Natürlich hatte Daniella bereits verstanden. Dieser Vorschlag schien eher auf einen Pakt des Schweigens hinauszulaufen. Aber was hatte Daniella davon, Arenfurth zu schützen? Sie war nicht einmal seine Geliebte.

»Warum dieser ganze Schwindel?«

Sie riss die Augen auf. »Welcher Schwindel?«

Studer machte eine Handbewegung, die den Salon, die Villa, Arenfurth, die Tänzerinnen, Spigl … all das umfassen sollte.

»Wissen Sie, Daniella, dass ich mich erinnere, was Sie anhatten, als wir uns zum ersten Mal begegnet sind, an jenem Abend am Feuer?« Sie blickte ihn ernst an. »Kurze schwarze Hosen und eine ärmellose Bluse, die wie ein Seidenpullover aussah. Ich gebe zu, ich war beeindruckt, gnädige Frau …« Daniella musste trotz allem unwillkürlich lächeln. »Aber ich erinnere mich deshalb daran, weil Anja Peters auf dem Gemälde, auf dem sie von Arenfurth angegriffen wird, genau dieselbe Kleidung trägt.«

Seit Tagen gingen Studer die Fragen durch den Kopf. Anlass dafür war eine Anmerkung in seinem Notizbuch.

Anja Peters: Tänzerin (introvertiert). Aus wohlhabendem Hause?

Anja wurde von allen als scheu, beinahe befangen beschrieben. Und dennoch hatte sie an Lagerfeuern, bei

»Anja gibt es gar nicht«, murmelte Studer mit zu Boden gesenktem Blick, als würde er zu sich selbst sprechen.

»Man hat sie umgebracht«, sagte Daniella. »Besser gesagt, dieser Mann hat sie umgebracht, der …«

»Auch ihn gibt es gar nicht«, unterbrach sie Studer.

Dann erhob er sich und forderte sie auf, mit ihm hinaus auf die Terrasse zu kommen.

»Ich brauche ein bisschen Frischluft.«

Die Terrasse war von einer steinernen Balustrade eingefasst. Linker Hand lag der Garten, rechter Hand sah man auf die Berghänge und gerade zu auf den mit weißen Schaumkronen gesprenkelten See.

»Ich weiß jetzt, weshalb Spigl nervös war. Ebenso wie Giovanni, der Wirt der Osteria. Wohingegen die Brogginis von nichts wussten: Anja hatte ihnen nicht einmal erzählt, wo sie wohnte. Und zwar deshalb, weil Anja gar kein möbliertes Zimmer hatte.«

Daniella kauerte in einer Ecke der Terrasse. Sie hatte ihr Nachthemd eng um sich gezogen, als wäre ihr kalt.

»Anja hat hier gelebt«, fuhr Studer fort. »Sie war das Dienstmädchen von Baron von Arenfurth. Während Sie,

»Aber …« Daniella wollte protestieren, schloss dann aber den Mund.

Studer machte eine billigende Geste. »Ganz recht so, Lügen erzählen ist sinnlos. – Sie sind hergekommen, um hier, inmitten all der Sachen von Anja, zu leben, Sie tragen ihre Kleider … dieselben, die Anja auf dem Gemälde des Erpressers trägt. Der Baron hat den Wirt der Osteria, die Vermieterin und vermutlich auch Spigl bezahlt. All das, um die Polizei glauben zu machen, das Opfer sei nicht sein Dienstmädchen, sondern irgendeine beliebige Tänzerin gewesen. Und er hat auch Sie bezahlt, Daniella.«

»Ist das ein Verbrechen?« Daniella zog sich zurück in den Salon.

»Ich glaube schon.« Studer zuckte mit den Schultern. »Aber das macht nichts.«

»Was?«

»Ich will wissen, wer Anja umgebracht hat. Der Rest zählt nicht.«

Daniella schien erleichtert. Sie erklärte dem Polizisten, dass Arenfurth entsetzliche Angst vor seiner Frau hatte. Wenn sich herumgesprochen hätte, dass jemand das Dienstmädchen und die gleichzeitige Geliebte des Barons umgebracht hatte und dass der Baron ausgerechnet beim Angriff auf sie gemalt worden war … nun, das schöne Leben in Ascona hätte für Arenfurth sicherlich bald ein Ende gehabt.

»Arenfurth hat alle anderen Bediensteten entlassen«,

»Ja, es waren Leute aus der Umgegend. Arenfurth hatte nur Anja und einen Butler mitgebracht, der noch immer hier arbeitet, ihn aber niemals verraten würde.«

Studer dachte, dass Arenfurths Plan, so verworren er auch sein mochte, doch gewisse Aussicht auf Erfolg hatte. Der örtlichen Polizei war im Grunde nicht daran gelegen, einen wohlhabenden und freigiebigen Bürger aus dem Ausland allzu sehr zu behelligen. Und was den Klatsch betraf … davon gab es reichlich, zu vielen Themen. Sobald Arenfurth den Erpresser bezahlt hatte, würde er wieder seine Ruhe haben.

»Aber das Gemälde mit dem Angriff hat er sowohl Ihnen als auch Kommissär Tognola gezeigt«, sagte Daniella. »Er hat es Ihnen nicht verheimlicht.«

Mit dieser vermeintlichen Offenheit, mit dieser echten, aber von Lügen durchtränkten Besorgtheit hatte Arenfurth auch Studer hereingelegt, obwohl diesem die Doppelbödigkeit des Barons seit Kriegszeiten bekannt war.

Zum Glück hatte die Werefkina folgende Formulierung gewählt: »Anja Peters kam nicht oft ins Dorf, aber manchmal besuchte sie ihre Tochter im Haus der Brogginis.« Im ersten Augenblick hatte Studer nicht weiter darauf geachtet, aber nach ein paar Minuten hatte er die Wahrheit durchschaut: Daniella hatte Anjas Platz eingenommen, derweil er Ermittlungen über eine falsche Anja anstellte.

Der Wachtmeister ließ sich in Anjas Zimmer führen. Er inspizierte es gründlich, aber es gab nicht viel zu sehen. Abgesehen von Daniellas Sachen war alles schlicht,

»Besaß sie keinen Schmuck?«

Daniella schüttelte den Kopf. »Das gehört alles mir.«

Mira! Studer schnaubte. Dann, während sie auf die Terrasse zurückkehrten, begann er ihr Vorhaltungen zu machen.

»Ist euch gar nicht in den Sinn gekommen, dass ihr die Ermittlungen behindert? Und wozu überhaupt diesen nicht vorhandenen Angreifer erfinden?«

Daniella errötete. »Wir haben einen Fehler begangen. Aber … wir haben diesen Angreifer zwar erfunden, doch es gab tatsächlich einen üblen Gesellen, der es auf Anja abgesehen hatte.«

Einen üblen Gesellen. Wahrscheinlich bezog sich das Meitschi auf Fredo Cattaneo … der, wenn man ihm Glauben schenkte, niemand anders als der Ehemann, der rechtmäßige Lebensgefährte der Geliebten des Barons von Arenfurth war. Studer seufzte, während er sich seine Brissago anzündete. Von wegen Wahrheit. Bloß ein kleiner Lichtstrahl, der bewies, wie tief und undurchdringlich das Dunkel nach wie vor war.