Die Polizei hatte dem Anhänger in Form eines Glücksklees keine Aufmerksamkeit geschenkt. Und auch Studer hatte ihn zu wenig beachtet. Warum hatte der Mörder Anja das Kettchen vom Hals gerissen, bevor er sie tötete? Es gab keine Spuren eines Handgemenges, keinerlei Kratzer oder zerrissene Kleidung. Der Messerstich war vorsätzlich erfolgt, von unten nach oben.

Vielleicht gehörte der Anhänger ja dem Mörder. Anja trug keinen Schmuck, jedenfalls hatte Studer in ihrem Zimmer keinen gesehen. Hieß das folglich, dass Anja diejenige war, die das Kleeblatt abgerissen hatte? Je länger Studer darüber nachdachte, desto mehr gelangte er zu der Überzeugung, dass dieser verloren gegangene, zu Boden gefallene Gegenstand etwas zu bedeuten hatte. Jemand hatte mit dem Glück abgeschlossen.

»Das ist das Leben, das ich führe, Wachtmeister«, sagte Fredo Cattaneo.

Sie liefen am Ufer eines Wildbachs entlang, über einen schmalen Pfad, der sich zwischen Bäumen hindurchwand.

»Ich gehe in diesen Tälern hier angeln, denke an Anja, beobachte hin und wieder heimlich Ada, von Weitem, um sie nicht zu erschrecken.«

»Die Kleine trägt deinen Nachnamen.«

»Die Brogginis wären damit einverstanden, wenn …«

»Sie kennen mich nicht. Für sie bin ich ein Schatten.«

Cattaneo blieb stehen. An dieser Stelle bildete der Bach eine tiefe Gumpe. Das Wasser war von dunkelgrüner Farbe.

»Wir können von hier aus starten.«

Cattaneo hatte Studer ein Paar Stiefel und ein altes graues Hemd geborgt. Er selbst trug eine Militärjacke und einen Hut, an den er einige künstliche Fliegen geheftet hatte. Aber er hatte beschlossen, dass sie an diesem Morgen auf die einfachste Art angeln würden.

»Mit Köder – Regenwürmer oder höchstens Heuschrecken. Bei dieser Hitze haben selbst Forellen keine Lust zum Anbeißen.«

Der Himmel war grau und hing tief. Kein Blatt rührte sich. Obwohl sie in den Bergen waren, hatte Studer das Gefühl, sich inmitten glühender Materie zu bewegen. Die Wolken waren spannungsgeladen, kündeten von langsam sich anbahnenden Gewittern. Alles war wie elektrisiert: Fredos vibrierender Tonfall, das Zittern der Angelruten, der weiße Schaum auf dem Wasser.

»Merkwürdig, dass die Polizei mich nicht verhaftet hat. Hast du das vor, Wachtmeister?«

»Du hast mir doch gesagt, dass du glaubst, Baron von Arenfurth sei der Mörder.«

»Wen interessiert das?« Cattaneo war damit beschäftigt, die beiden Teile der Bambusrute zusammenzusetzen. »Die Polizei wird den adligen Holländer nicht verhaften. Den Legionär unbekannter Herkunft hingegen …«

»Hör mal, mein Freund, ich hatte Anja gerade erst wiedergefunden, und nun habe ich sie für immer verloren. Und ich werde wohl auch das Mädchen verlieren.«

»Wenn Ada deine Tochter ist, hast du das Recht …«

»Pscht! Wir sind hier, um zu angeln.«

Sie stiegen zum Wasser hinab. Cattaneo warf den Köder in die Mitte der Gumpe. Als die Strömung den Angelhaken in ihre Richtung trieb, übergab der Soldat die Rute an Studer, der versuchte, weiter auszuwerfen, bis knapp unterhalb des kleinen Wasserfalls.

Sie hatten keinen Erfolg. Während sie den Wildbach hinaufstiegen, angelten sie weiter. Cattaneo bewegte sich mit präzisen, gemessenen Schritten vorwärts. Er wusste stets, wo die Füße hinsetzen, wie sich vorsichtig einer Gumpe nähern, ohne dass die Forellen ihre Anwesenheit spürten. Cattaneo erklärte Studer, dass diese Fische, bei denen es sich nicht um Teichforellen handle, sehr wachsam seien. Ein Schatten, das Knacken von Zweigen genügte.

»Hier zu überleben ist nicht einfach … auch für einen Fisch nicht.«

Studer war müde. Es kam ihm vor, als folgten sie diesem Wildbach im Maggiatal bereits seit Stunden, oder gar Tagen, Jahren. Die Zivilisation war zusammengebrochen, auf der Welt gab es nur noch sie beide, mit ihren Stiefeln, ihrer Rute, den schweißgetränkten Kleidern. Würden sie bis in alle Ewigkeit angeln? Bisweilen wurde es eng ringsum: Haselsträucher, Ebereschen und Buchen beugten sich über den Bachlauf, Brombeergestrüpp

Endlich biss eine Forelle an. Mit einem Ruck hob Studer die Rute an und zog den silbrigen Fisch mit seinem regenbogenfarbenen Rücken aus dem Wasser. Aber es war zu früh. Die Forelle hatte den Köder nicht ganz verschluckt, löste sich von dem Haken und fiel Studer vor die Füße. Sie wand sich, um zurück ins Wasser zu gelangen. Der Wachtmeister versuchte, sie mit dem Fuß aufzuhalten, aber er merkte, dass er im Begriff war, das Gleichgewicht zu verlieren. Die Forelle tauchte ins Wasser und war augenblicklich verschwunden.

Cattaneo sagte nichts dazu, deutete nur mit einer Geste den Weg an, der zur nächsten Gumpe führte. Ein paar Minuten später zog Cattaneo zwei Forellen heraus, eine nach der andern. Studer schlug daraufhin vor, eine Pause einzulegen, um die Fische zu säubern und einen Happen zu essen. Sie hatten einen halben Laib Brot und ein Stück Salami dabei. Cattaneo füllte eine Feldflasche mit Wasser aus dem Bach. Dann nahm er die Forellen aus, pflückte ein wenig Farnkraut und stopfte es zusammen mit den Fischen in die Jagdtasche, damit diese frisch blieben. Nach dem Essen wollte er sich gerade eine Zigarette drehen, als er auf dem Grau eines Steines etwas schimmern sah.

Er erstarrte. Er betrachtete den Anhänger mit dem Glücksklee, dann wandte er sich zu Studer um, der seine Brissago rauchte, als sei nichts geschehen.

»Was ist das?«

Cattaneos Miene verfinsterte sich.

»Das muss dir vom Hals gefallen sein«, sagte Studer.

»Was für ein Spiel spielst du, Wachtmeister?«

Studer stieß eine Rauchwolke aus. »Vierblättrige Kleeblätter zu verlieren, bringt Unglück …«

»Wie kommst du darauf, dass es mir gehört?«

»Vielleicht, weil jemand gesehen hat, wie du es trägst.«

»Unmöglich … ich trage es unter dem Hemd … das heißt, nicht dieses, aber Halskettchen trage ich immer unter dem Hemd.«

»Ah. Und erinnerst du dich, wo du diesen Anhänger hier verloren hast?«

Schweigen.

»Wann hast du ihn das letzte Mal gesehen?«

»Du willst mich reinlegen!«, murmelte Cattaneo. »Ihr habt ihn dort gefunden, wo Anja gestorben ist, stimmt’s?«

»Ganz ruhig. Die modernen Ermittlungsmethoden stützen sich auf die Wissenschaft.«

»Und was heißt das?«

»Ich habe mit Doktor Malapelle in Mailand telefoniert, einem Bekannten von mir, der Experte für Fingerabdrücke ist. Weißt du, was ein Fingerabdruck ist?«

Cattaneo wusste es nicht. Studer erklärte es ihm. Er ging mit Bedacht vor und sagte nicht, dass man auf dem Anhänger Fingerabdrücke gefunden hätte, denn das entsprach nicht der Wahrheit; abgesehen davon war die Oberfläche für einen derartigen Nachweis zu klein. Dennoch erläuterte er ihm, was es mit Fingerabdrücken auf sich hatte und inwiefern sie eine sichere Methode zum

»Sag mir die Wahrheit, Fredo. Du hast deine Frau umgebracht.«

Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Eine Unterstellung …

Cattaneo rührte sich noch immer nicht. Studer betrachtete seine Muskeln, seine Tattoos und fragte sich, ob es so klug gewesen war, die Einladung zum Angeln in einem verlassenen Tal anzunehmen.

In diesem Augenblick kam das Gewitter. Schwere Tropfen fielen rauschend auf die Bäume und Felsen nieder. Das Wasser des Bachs begann zu brodeln, die Luft verfinsterte sich. Die beiden Männer wurden von einem Blitz geblendet, und kurz darauf hörten sie das harte Krachen des Donners. Alles ging sehr schnell. Cattaneo öffnete den Mund, als wolle er etwas sagen. Dann schloss er ihn wieder und machte einen Schritt auf Studer zu.