Hinter dem Haus der Brogginis lag eine Tannenschonung. Studer blieb stehen, um zu verschnaufen. Sein Atem ging kurz, und in den Schläfen pochte es schmerzhaft. Tannenduft war ein gutes Mittel gegen Erkältung, hatte sein Vater immer gesagt. Der Wachtmeister legte ein paar Minuten Pause ein, ließ seinem Herzschlag Zeit, sich zu beruhigen, und lief dann auf das Haus zu.
Man empfing ihn freudig, obwohl man in Sorge war. Gerade an diesem Morgen, als Sandro bei der Arbeit gewesen war, hatte ein Unbekannter an ihre Tür geklopft und Teresa eine Karte »zu Händen des Herrn Kommissär Jakob Studer« übergeben. Der Mann hatte sich nicht vorgestellt, aber die Beschreibung passte auf Cattaneo. Auf der Karte standen nur wenige, hastig niedergeschriebene Worte.
Ich bin nicht geflohen. Werde um 14 Uhr in der Via Buonamano sein.
F. Cattaneo
Studer fragte sich, was er vorhatte. Wollte er sich stellen? Cattaneo war davon überzeugt, dass die Polizei seine Fingerabdrücke als Beweis hatte … Wollte er ihn vielleicht bestechen? Das passte eigentlich nicht zu ihm.
»Im Dorf gehen Gerüchte um«, sagte Sandro.
Sie hatten ihn wieder in die gute Stube gebeten. Studer musste niesen.
»Fühlen Sie sich nicht gut?«, fragte Teresa, die das Mädchen auf dem Arm hielt.
»Ich habe mich erkältet, nichts Ernstes.«
Teresa bot ihm einen Lindenblütentee an. Studer schlürfte ihn tapfer, während er sich von dem Klatsch der Leute berichten ließ.
»Jemand behauptet, Anjas Ehemann sei im Dorf. Es gibt da einen Mann namens Cattaneo, einen Exsoldaten …«
»Ist er wirklich Adas Vater?«, murmelte Teresa.
Er ist es, dachte Studer. Oder zumindest behauptet er, es zu sein. Das war nichts, was sich wissenschaftlich beweisen ließ; nur Anja hätte es bestätigen können. Studer war jedoch sicher, dass Cattaneo nicht log. Abgesehen davon hatte er am Tag zuvor zwar kein ausdrückliches Geständnis abgelegt, mit seinem Schweigen jedoch zugegeben, dass er der Schuldige war.
Studer war schon im Begriff, den Brogginis alles zu erklären, doch dann hielt er inne. Wenn schon Anja der Meinung gewesen war, es besser nicht zu tun, wenn Fredo selbst sich nicht zu erkennen gegeben hatte, weshalb sollte ausgerechnet er dann das Geheimnis lüften? Dieses Problem bestand seit Menschengedenken: War es richtig, dass die Brogginis die Wahrheit erfuhren, obwohl sie schmerzlich war, obwohl sie keinerlei Nutzen davon haben würden? Oder brachte die Wahrheit immer einen Nutzen? Das waren philosophische Fragen, befand Studer. Der Staat bezahlte ihn dafür, dass er Diebe und Mörder hinter Gitter brachte, und nicht, damit er sich solche Fragen stellte. Andererseits …
»Herr Studer, sind Sie ganz sicher, dass Ihnen nichts fehlt?«
»Ja, ganz sicher, verzeihen Sie.« Studer schnäuzte die Nase und entschuldigte sich ein weiteres Mal. »Ich denke, man sollte besser nicht so viel auf das Gerede geben.«
Die Brogginis baten ihn, zum Mittagessen zu bleiben: Es sollte gekochtes Hühnerfleisch, Spinat und Salzkartoffeln geben. Studer versuchte, eine Ausrede zu finden, aber er musste tatsächlich wieder zu Kräften kommen. So willigte er auf eine Tasse Suppe ein und trank zwei Gläser Roten.
Während des Kaffees nach dem Essen blieb sein Blick lange auf der schlafenden Ada ruhen. Würde sie jemals erfahren, dass sie die Tochter eines Mörders war? Wie und wo würde sie heranwachsen? Wenn die Brogginis sie bei sich behielten, würde die Vergangenheit vielleicht an ihr abgleiten, ohne ihr etwas anzuhaben, und lediglich eine Lücke, eine Schwermut hinterlassen … Es bestand jedoch die Gefahr, dass die der Mutter zugefügte Wunde auch in dem Mädchen weiterbluten würde. Aber was konnte er, Studer, dagegen tun?
»Ich gehe jetzt besser …«
Die Via Buonamano war sonnendurchflutet. Studer lief dicht an der Mauer entlang auf das einstige Collegio Papio und die Kirche Santa Maria della Misericordia zu. Er bekam kaum Luft, nur durch den offenen Mund, und er spürte, wie das Fieber stieg. Die staubige Straße, eine Schar Kinder beim Murmelspiel, der dunkle Bau der Kirche. Es schien, als verberge sich hinter jedem Ding ein Initiationsritual, etwas, das ein Fremder nur erahnen konnte. Studer war weit weg von alledem … abgesehen vielleicht von jener gedrungenen Figur, die sich im Eingang zum Collegio abzeichnete.
Fredo Cattaneo. Der Abenteurer. Der streunende Hund. Studers Leben war anders verlaufen, aber hatte nicht auch er manches Mal, wenn ihn das Leben in Bern erdrückte, von der absoluten Freiheit in der Legion geträumt?
»Hier entlang«, sagte Cattaneo. »Da sind wir ungestörter.«
Ungestörter? Studer fragte sich, ob der Legionär sich des Abgrunds bewusst war. Er wirkte ruhig, geradezu gelassen, jedenfalls nicht so, als sei er hier, um über einen Gattenmord zu reden.
Sie betraten das Innere des Collegio. Der Kreuzgang war von Unkraut überwuchert, die Mauern abgenutzt und grau. Vor dem Krieg hatte das Collegio Papio in dem Ruf gestanden, eine hervorragende Schule zu sein, aber wie so viele andere Dinge hatte es den großen Umwälzungen nicht standgehalten, und jetzt schien es bloß noch eine Erinnerung, ein Abbild aus einer untergegangenen Welt zu sein.
Sie setzten sich rittlings auf ein Mäuerchen. Studer wartete. Cattaneo blieb zunächst bei seinem unerschütterlichen Gebaren, doch dann begann die Fassade langsam zu bröckeln. Er fing an, den Polizisten zu siezen.
»Was wollen Sie von mir?«
Studer zündete sich in aller Ruhe eine Brissago an.
Cattaneo erhob sich. »Ich habe Sie gefragt, was Sie von …«
»Ich habe verstanden.« Studer zog den Rauch ein. »Setzen Sie sich wieder.«
Ein zarter Windhauch, wer weiß woher, bewegte die Blätter der Kletterpflanzen. Die Brissago schmeckte nach Stroh und Leim. Aber Studer wollte sie nicht ausdrücken, nicht in diesem Augenblick, obwohl er davon husten musste.
»Ich habe Ihnen gestern eine Frage gestellt.«
»Ja«, sagte Cattaneo. »Haben Sie die Antwort nicht verstanden?«
»Ich muss sie von Ihnen hören.«
Die Ermittlungen waren beendet. Die Polizei würde noch die zugehörigen Details klären müssen, die Rolle Spigls und des Barons von Arenfurth, mit all ihren Verwicklungen. Man würde Daniella verhören und ebenso den Erpressermaler Otto Bakker, sofern es gelingen würde, ihn unter den Bewohnern des Monte Verità aufzuspüren. Höchstwahrscheinlich war die Version von Spigl und Arenfurth nicht ganz korrekt … aber darum würde sich Tognola kümmern. Oder aber Tognola würde alles im Sande verlaufen lassen. Studer wollte lediglich eine Antwort.
»Ja«, murmelte Cattaneo.
Schweigen.
»Warum?«, fragte Studer.
Natürlich wusste er, dass es keine echte Antwort darauf gab. Wie auch? Es war die Frage, diese uralte Frage, die einen in schlaflosen Nächten verfolgt, die Männer und Frauen zum Weinen, zum Lachen bringt, dazu, Paläste und Brücken zu bauen, mit der Liebe zu spielen, nur um ja nicht daran zu denken. Warum tötet ein Mann die Mutter seiner Tochter? Aus welchem Grund?
»Sie wollte mich verlassen«, erwiderte Cattaneo mit einer Stimme, die nur noch ein Flüstern war. »Ist die Polizei hier? Werden wir beobachtet?« Er deutete auf die geschlossenen Türen. Einige waren aus den Angeln gehoben und halb zerstört. »Belauscht man uns?«
Studer schüttelte den Kopf. Aber Cattaneo war nervös geworden: Er wollte sich nicht überzeugen lassen und nötigte den Polizisten dazu, sich ins Kircheninnere zurückzuziehen. Studer hatte inzwischen seine Brissago ausgehen lassen und deponierte sie am Eingang des Gebäudes. Bevor sie eintraten, hob er den Blick zu dem Wandgemälde oberhalb des Portals: eine Frauengestalt mit ausgebreiteten Armen und nach vorn gerichtetem Blick, umrahmt von drei Engeln; zu ihrer Linken befand sich eine Gruppe von Männern, zu ihrer Rechten eine Gruppe von Frauen.
Die Kirche war düster und menschenleer. Am Ende, zum Altar hin, glaubte Studer ein Gemälde zu erkennen, das dem soeben gesehenen glich. Cattaneo zog ihn in eine der entlegensten Bänke. Der Wachtmeister fragte sich, ob er ihn am Ende für einen Priester hielt …
»Ich will nicht meine Sünden beichten«, sagte Cattaneo, als habe er seine Gedanken gelesen. »Aber Sie müssen mir unbedingt zuhören.«
Studer nickte.
»Ich habe Anja getötet, weil sie meine Ehefrau war, die Mutter meiner Tochter. Wir haben überstürzt und heimlich geheiratet, sie erwartete das Kind … aber es war alles gesetzmäßig. Und sie hat mich verlassen wollen …«
Studer sagte nichts.
»Das war nicht recht.«
Studer hustete. Das Geräusch hallte in dem Kirchenschiff, als sei ein Knallfrosch explodiert. Er wollte zum Sprechen ansetzen, musste aber erneut husten. Endlich schaffte er es zu fragen: »Warum war das nicht recht?«
»Also bitte! Weil ich, als sie von Marokko fort ist, fast wahnsinnig geworden bin und Himmel und Erde in Bewegung gesetzt habe, um sie wiederzufinden. Ada ist unsere gemeinsame Tochter!«
»Warum wollte Anja Sie verlassen?«
»Sie fand, wir hätten zu schnell geheiratet. Sie hat sich gezwungen gefühlt. Sie hätte nichts gegen mich, sagte sie, aber sie müsse sich Klarheit darüber verschaffen, was sie tun wolle, welches der beste Weg sei … Ich sagte ihr, dass es nur einen Weg gäbe, den, auf dem wir uns befänden.«
»Und sie?«
»In ihren Augen hatten wir bereits verschiedene Wege eingeschlagen. Hören Sie, Wachtmeister, ich weiß, dass ich falsch gehandelt habe.« Der Rücken gebeugt, das Gesicht verkrampft – es schien, als sei Cattaneo mit einem Schlag alt geworden. »Ich fand es nicht recht, dass sie mich verlassen hat, nachdem wir in Marokko wie Mann und Frau zusammengelebt hatten, wenn auch nur für kurze Zeit. Aber ein Mann, ein Legionär, muss selbst eine Weigerung akzeptieren.« Seine Stimme war heiser, wie bei jemandem, der mühsam die Tränen unterdrückt. »Es war nicht recht … Aber wie kann ich von Recht sprechen, ich, der ich eine unschuldige Frau getötet habe? Ich, der ich einem Kind die Mutter genommen habe? Wissen Sie, Studer, diese Geschichte mit dem Anhänger ändert nichts. Ich hätte Ihnen das alles auch ohne Beweise erzählt.«
»Weshalb hätten Sie es mir erzählt?«
»Weil ich verzweifelt bin. Ich habe in meinem Leben nichts zuwege gebracht und hatte auf einen Neubeginn in der Legion gehofft. Stattdessen … bin ich immer noch allein, gezeichnet von den Jahren, von dem, was ich getan habe. Für mich ist es vorbei, Studer.«
Für gewöhnlich ging Studer Schritt für Schritt nach seiner Methode vor, folgte dem Instinkt oder den kriminologischen Prinzipien, die seine Lehrmeister in Lyon und Graz festgeschrieben hatten. Aber nun hockte er weit weg von der vertrauten Umgebung in einer Kirche und wusste nicht, was er tun sollte. Gewiss, eigentlich hätte er den Mann verhaften müssen. Weshalb saß er also hier und schwieg? Und Cattaneo, weshalb sprach er nicht weiter?
Es war, als könne man die Minuten in der Finsternis verstreichen hören. Die Zeit war etwas Greifbares, nicht nur die Minuten, sondern auch die Jahre, die Jahrzehnte, die die beiden Männer dahin geführt hatten, sich an diesem Ort zu begegnen. Rings um sie herum in der Dunkelheit war alles gegenwärtig: die eiligen Entscheidungen, die Irrtümer, die langen, gleichförmigen Tage, das Warten, die Lichtblicke.
Studer hustete, dann fragte er: »Und nun?«
»Es ist nicht mein erstes Verbrechen«, murmelte Cattaneo, als habe er ihn gar nicht gehört, sondern genau in diesem Augenblick beschlossen weiterzusprechen. »Ich habe gestohlen, bin im Gefängnis gelandet. Kam wieder raus, habe mich verschuldet, habe gelogen, habe gespielt und betrogen und die Frauen ausgenutzt, mit denen ich zusammen war. Ich wäre um ein Haar umgebracht worden, aber ich habe mich gewehrt … Schließlich bin ich zur Fremdenlegion, ehe man mich verhaften konnte. Das ist mein Leben, und es erscheint nicht einmal sonderlich lang, was?« Er legte eine Pause ein. »Wer hätte je gedacht, dass ich Anja in der Legion kennenlernen würde? Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich eine Frau wirklich geliebt. Ich habe sie geliebt, und dann habe ich sie getötet. Sie müssten mich verhaften, Studer, Sie oder dieser andere Kommissär.«
Studer erhob sich. »Wenn Sie mir bitte folgen …«
»Tun Sie es nicht«, unterbrach ihn Cattaneo.
»Was?«
»Herr Wachtmeister Studer, ich richte hiermit ein Bittgesuch an Sie.«
Studer setzte sich wieder.
»Ich bitte Sie inständig um Erbarmen. Nicht mit mir, natürlich, denn ich verdiene es nicht, sondern mit meiner Tochter Ada. Ich habe mein Leben gelebt, Sie sehen, was ich daraus gemacht habe. Mit mir steht es bös, auch gesundheitlich.«
»Sie sind ein starker Mann.«
»Weniger stark, als es scheint … Die Ärzte sagen, dass mir mein Herz übel mitspielen könnte. Aber das ist belanglos … Ich bitte Sie, lassen Sie mich fliehen.«
»Fliehen? Wohin?«
»Ich gehe zurück in die Wüste. Ich werde fernab von allen leben, wie ein Eremit.«
»Wozu?«
»Sie wird heranwachsen und den Namen Ada Cattaneo tragen. Sie wird glauben, dass ihre Mutter von einem Vagabunden ermordet wurde, vielleicht gar in räuberischer Absicht. Sie wird niemals den Verdacht hegen, dass dieser Vagabund ihr Vater ist. Ich will nicht, dass es zu einem Skandal kommt, ich will nicht, dass das Kind mit diesem Kummer aufwächst.«
Cattaneo standen die Tränen in den Augen. Er sprach abgehackt, seine Stimme schwankte unnatürlich, und er fuchtelte mit den Händen.
»Ich habe daran gedacht, mich umzubringen. Aber auch das wäre ein Skandal … und ich will büßen, will mir mein eigenes Gefängnis errichten, aus dem ich nie wieder hinauskomme. Bis zu meinem Tod werde ich daran denken, was ich getan habe, an Anjas Körper, der vor meinen Augen zusammenbricht, während mir zu Bewusstsein kommt, dass ich sie niedergestochen habe …«
Lag ein Anflug von Wahnsinn in seinem Blick? Studer war nicht sicher. Aber hatte er genau dieses Flackern nicht auch schon auf den Gesichtern unbescholtener Familienväter, geschätzter Mitarbeiter und achtenswerter gutbürgerlicher Damen gesehen? Ja selbst auf dem eigenen Gesicht, bisweilen, wenn er dessen Anblick flüchtig in einem Schaufenster oder Spiegel erhaschte.
»Sie sind meine letzte Hoffnung, Studer. Ich vertraue auf Sie und Ihr Erbarmen. Wenn Sie mir gestatten zu verschwinden, werde ich zu einer bloßen Erinnerung, die in der Wüste verblasst … nicht einmal das, ich werde zu einem Schatten, dem Schatten eines Schattens.«