Ascona, Juni 1935
Lieber Freund,
seit zwölf Jahren hast du mir nicht mehr geschrieben. Ich weiß weder, ob deine Adresse dieselbe geblieben ist, noch, ob du deinen Namen geändert hast. Deshalb nenne ich dich einfach nur »Freund«, auch wenn dir die Bezeichnung übertrieben scheinen mag. Ich habe den Brief, den du mir unter deinem alten Namen geschickt hast, ungeöffnet aufbewahrt. Manchmal denke ich, es wäre schön, die Identität zu wechseln, wie du es getan hast … Aber jemand wie ich bleibt immer haften. Das ist das Problem, wenn du schreibst: Am Ende gibst du dich der Illusion hin, die Geschichten, die du an die Zeitungen verkauft hast, würden den Lesern im Gedächtnis bleiben, zusammen mit deinem Namen. Welch Eitelkeit! …
Auch ich hatte in meinem Leben verschiedene Namen … Eine Freundin nannte mich Momo, an der Universität war ich Spig … und heute wissen viele nicht, ob ich Spiegel oder Spigl bin. Ich sage immer, dass ich der sei, dessen Namen zwei »e« fehlen, um ein richtiger Spiegel zu sein … sofern es überhaupt richtige Spiegel gibt. Ich habe schon immer gedacht, dass manche Leute wie Spiegel sind: Sie bewegen sich durch die Straßen und spiegeln Gedanken, Wünsche, Gemütszustände wider … Als Schriftsteller sollte auch ich genau das tun. Un roman est un miroir que l’on promène le long du chemin, wie es, wenn ich mich nicht irre, in Stendhals Le rouge et le noir heißt. Aber du interessierst dich nicht für Romane und willst lieber von Kommissär Studer hören … Als Erstes muss ich dir mitteilen, dass er jetzt Wachtmeister ist, sie haben ihn degradiert. Studer ist übrigens genau der Schlag Mensch, der das Leben der andern wie ein Spiegel reflektiert … Ich frage mich, ob er nicht von Anfang an alles gewusst hat. Natürlich nicht in einem rationalen Sinn, sondern in seinem Unterbewusstsein. Studer ist kein blanker, klarer Spiegel … Er ist einer dieser etwas zerkratzten, mit der Zeit blind gewordenen ovalen Spiegel, in denen man sich nie anschaut … Bis du dich eines Tages zufällig umdrehst und der Spiegel dich einfängt. Rede ich dummes Zeug? … Ich glaube nicht. Diese bedächtigen, ruhigen Polizeibeamten. Man unterschätzt sie. Aber dann …
Vielleicht erzähle ich dir die Dinge besser von Anfang an. Das wird nicht einfach, denn beim letzten Mal bin ich mittendrin stecken geblieben. Ich hätte gern eine Erzählung, oder besser noch, einen Roman daraus gemacht, deshalb habe ich, bis auf Studer, alle Namen geändert. Baron von Arenfurth ist ein Graf geworden – Adel verpflichtet –, und ich selbst habe mir den Namen Niklaus Schlatter gegeben. Ich habe Details hinzugefügt, habe mich als Romancier versucht … und alles hat sich in Luft aufgelöst, bevor es überhaupt begonnen hat.
So geht es bei allem, was ich in Angriff nehme, bei all meinen Gedanken. Einzig mein Versuch, mit Beatrix in dieser alten Mühle zu leben, war von zeitlicher Dauer … Wenn auch nur für mich, denn Beatrix ist schon vor einer ganzen Weile fortgegangen. Alles andere löst sich permanent in Luft auf … genau wie die zehn Franken Miete für den alten Ferrari.
Hatte ich dir nicht versprochen, die Dinge von Anfang an zu erzählen? … Doch du siehst, dass ich stattdessen alles vor mir herschiebe, wie man so schön sagt … Wann beginnt diese Geschichte eigentlich? Schwer zu sagen. Für mich hat sie sehr früh begonnen, nämlich als ich die Mühle gemietet habe. Ich spürte es in den Knochen, dass es da etwas Dunkles gab … Die Diskussionen, die Lektüre von Nietzsche, Hoffmann oder unseren eigenen Erzählungen, die Lagerfeuer mitten in der Nacht … Ein so beschauliches Leben, mit Sonnenschein, dem friedlichen See, ein idyllisches Leben … und wir, die wir schrieben und glaubten, dass Kunst aus der Idylle erwachsen könne. Die Realität drang nur in den Träumen bis zu uns vor.
Doch ich schweife schon wieder ab …
Nun ja, die Realität ist mit der Leiche dieser Frau angekommen … Ich war an dem Abend daheim geblieben, um zu arbeiten. Dann bin ich hinaus und allein den Fußweg entlang. Als ich den Blutfleck gesehen hab, dachte ich absurderweise, dass es sich um Wein handle … Es war eine Mondnacht, so habe ich mich in der Gegend umgeschaut und den Körper entdeckt, am Wegrand … Mir war gar nicht klar, dass sie tot war. Wir schafften sie ins Haus – Studer hat mir das später zum Vorwurf gemacht.
Alles andere versuche ich in einer Art Tagebuch zu erzählen. Doch die Wahrheit offenbart sich uns armen Teufeln längst nicht mehr … Falls sie es überhaupt jemals getan hat. Wie du weißt, hat der Fall viel Staub aufgewirbelt. Die Lokalzeitungen schrieben darüber, aber es kamen auch Berichterstatter aus der Deutschschweiz. Die Tatsache, dass Studer seine Ferien dort verbrachte … All das hat aufs Heftigste meine Vorstellungsgabe angeregt, doch scheinbar habe ich erst heute den Weg gefunden, zu erzählen, wie sich Studer des Falls annahm … und von seinem Scheitern zu sprechen, oder besser, von seinem Entschluss, innezuhalten, nicht bis zu dem Schuldigen vorzudringen.
Studer hat mich bei den Details nicht auf dem Laufenden gehalten. Zu viele unbeantwortete Fragen. Eine Tänzerin, ein ehemaliger Legionär, eine junge Mutter, ein Baron, ein Berner Polizeikommissär, ein verrückter unbekannter Maler, ein ahnungsloses Kind … Ich glaube, um zu begreifen, muss ich dieses Schattenleben aufgeben. Darum werde wohl auch ich nach Marokko gehen, und aus der Ferne wird sich das Geheimnis lüften. Ich werde die nötige Ruhe finden, um einen Bericht abzufassen, den ich an diesen Schriftsteller, Herrn Glauser, schicken will, der von Studer erzählt hat.
Mit anderen Worten: Ich will, dass meine Worte die Wahrheit zum Ausdruck bringen. Aber ich fürchte, um das zu erreichen, muss ich sie erfinden. Nun entschuldige mich bitte, ich muss fort. Ich hoffe, du bist noch am Leben. Ich schreibe dir wieder aus Marokko.
Dein ergebener
Spigl