Ich bin dabei, die Texte zu sortieren, die Cattaneo mir hat zukommen lassen. Er schickt mir handschriftliche Notizhefte und maschinengeschriebene Blätter, alle in dicken gelben Kuverts. Ich gebe sie an Gabriella weiter, die sie ins Italienische übersetzt und mir per E-Mail zurücksendet. Soweit ich es überblicke, erzählt anfangs dieser Spigl (oder Spiegel) die Geschichte in der ersten Person, außerdem gibt es einen Brief von besagtem Spigl an einen »lieben Freund« (aber wer ist das?) und schließlich schreibt Glauser, er habe ein Manuskript von Spiegel erhalten. Alles in allem ganz schön verwirrend.

Ich arbeite abends vor dem Schlafengehen daran. Das ist merkwürdig, denn normalerweise schreibe ich nach dem Abendessen nicht mehr. Ich setze mich in den Sessel vor den ausgeschalteten Fernseher, den Computer auf dem Schoß. Dabei höre ich leise Clifford Browns Memorial Album. Eine Platte, die 1956 bei Blue Note Records erschienen ist, nach dem Unfalltod des Trompeters. Er war gerade einmal sechsundzwanzig Jahre alt. Ich trinke einen Whisky, den ich zum Geburtstag geschenkt bekommen habe: einen 1978 destillierten Glenglassaugh. So verliere ich mich zwischen den Worten von Niklaus Schlatter, Moritz Spiegel (oder Spigl) und Friedrich Glauser.

Es ist absurd, denn natürlich stammen die Worte

Aurelio Cattaneo hat sich nicht mehr blicken lassen, aber ich spüre seine Gegenwart in dem stillen Wohnzimmer. Er ist keine Figur, er ist real, so wie sein in Marokko verstorbener Großvater Fredo, der Besitzer des Koffers mit den unveröffentlichten Texten, eine reale Person war. Erzählt Glauser also eine wahre Geschichte? Ich glaube, Aurelio hat mich nicht nur engagiert, damit ich einen Plot entwickle. Vielleicht hofft er, dass ich etwas herausfinde, eine Enthüllung mache sein Leben betreffend, oder zumindest das seiner Vorfahren.

Deshalb habe ich gestern bei ihm in Ludiano vorbeigeschaut.

Es schien, als habe Cattaneo auf mein Kommen gewartet. Er war allein in seinem am Berghang gelegenen Restaurant. Um dorthin zu gelangen, muss man über einen Pfad bis zu einem großen Felsen laufen, der praktisch das Dach und die Wand des Innenraums bildet.

»Wir haben das ganze Jahr geöffnet«, erklärte mir Cattaneo. »Aber es kommen nicht viele Leute. Vielleicht haben die Gäste Angst vor Anarchie.«

Ich schaute mich um. Das Lokal war leer, aber gut gepflegt, die Tische blank geputzt, die Stühle an ihrem Platz, Blumentöpfe auf den Fensterbänken und hinter dem Tresen schillernde Flaschen.

»Langsam öffnete der Häuserklump seines Leibes Mitte, / Dann schrien die geschwollnen Hälse der Kirchen nach den Tiefen über ihnen, / Hier jagten sich wie Hunde die Farben aller je gesehenen Erden.«

Ich stand vor dem Tresen, er dahinter, in Hemdsärmeln und der Haltung des Barmanns. Das Gespräch drohte ins Leere zu laufen.

»Ist das ein Gedicht?«, fragte ich. »Haben Sie es geschrieben?«

Er zuckte mit den Schultern. »Was spielt es für eine Rolle, wer schreibt? Die Worte schreiben sich von selbst, oder? Sie sind doch vom Fach, Sie müssten das wissen.«

Ich blieb stumm. Ich war sicher, dass er noch etwas hinzufügen würde.

»Huelsenbeck«, sagte er tatsächlich nach einer Minute. »Richard Huelsenbeck. Glauser selbst hat seine Verse zitiert. Huelsenbeck trug ›Negergedichte‹ im Cabaret Voltaire, im Niederdorf in Zürich vor. Ich glaube, ich war mal dort. Von einem holländischen Matrosen hat er diese authentischen Verse: Trabadja. La Modschere Magamore Magagere Trabadscha Bono

Natürlich konnte er unmöglich dort gewesen sein. Er war etwas über siebzig, also musste er in den vierziger Jahren geboren sein, über zwanzig Jahre nach den dadaistischen Lesungen im Cabaret Voltaire.

»Ich habe überlegt, Signor Cattaneo, ob es vielleicht möglich wäre, den Koffer zu sehen, um mir einen Eindruck vom Umfang und der Komplexität des Materials zu verschaffen.«

Der Alte schnaubte. Ohne zu antworten, schnappte

»Umba, umba.«

Ich hatte gewusst, dass es nicht einfach würde. »Umba, umba?«, fragte ich.

»Umba, umba«, wiederholte er. »Wenn Huelsenbeck seine Verse vortrug, hat er das nach jeder Strophe wiederholt.«

»Ah. Was ich sagen wollte …«

»… ja, der Koffer.« Er leerte seine Tasse in einem Zug. »Ich habe Ihnen das Angebot gemacht, mit einem bedeutenden Autor in Kontakt zu treten und als Erster eine Geschichte zu enthüllen. Aber es gibt Grenzen, das sollten Sie begreifen.«

Er erhob sich und wies mich an, ihm ins Obergeschoss zu folgen. Ich dachte, er würde mir den Koffer zeigen, stattdessen führte er mich in einen niedrigen Raum mit weiß getünchten Wänden, einem Metallbett, einer Waschschüssel und einem Strohstuhl. Dem Bett genau gegenüber befand sich ein Gemälde, das einen Wald darstellte, in verschiedenen Farbtönen, von Grün über Braun bis hin zum Grau der Felsen. In der Ferne, zwischen den Bäumen, erkannte man das Blau und Weiß der Berge.

»Hier«, sagte Cattaneo. Ein paar Sekunden lang betrachtete er das Gemälde. »Es ist von Manfred Henninger. Der Titel lautet Wald im Tessin (bei Mulino del Brumo). Es ist 1940 entstanden, ein paar Jahre vor meiner Geburt. Ich habe es erst kürzlich erworben, nachdem ich das Haus meiner Mutter verkauft hatte.«

Nach einer Weile gab Cattaneo mir ein Zeichen, näher zu treten. »Schauen Sie es sich aus der Nähe an. Das ist der Wald, wie man ihn von der Mühle aus sieht, derselben, in der Anarchisten und russische Revolutionäre gewohnt haben … und eine ganze Reihe von Künstlern, der Maler Richard Seewald, Hermann Hesse, und übrigens auch Glauser. Hier hat Wachtmeister Studer die Leiche inspiziert.«

Endlich etwas, das zu dem Roman führte. Aber da war ein Detail, das nicht stimmig war.

»Meinen Sie die Mühle, in der der Ich-Erzähler gewohnt hat?«

Cattaneo warf mir einen Blick zu.

»Im Text heißt es, dass Kommissar Pedrello den Körper nach Ascona in ein Schulzimmer schaffen ließ. Und dann nach Bellinzona, zur Sektion.«

»Ja, ja«, Cattaneo machte eine Handbewegung, als wolle er meine Worte wegwischen. »Die erste Version. Aber Spigl sagt, dass sie ihn in die Mühle geschafft haben, erinnern Sie sich?«

»Ja. In dem Brief, in dem er von Marokko spricht.«

»Und als Glauser die Szene erneut schildert, schreibt

»Es gibt also eine genauere Version des Textes?«

»Es gibt immer eine genauere Version. Was sind Sie denn für ein Schriftsteller, Fazioli?«

Er sprach plötzlich sehr schnell, verschluckte die Worte.

»Dieser Glauser wusste Dinge über meine Familie, die mir unbekannt sind. Wer war die junge Tote? Wer der Mörder? Die ganze Angelegenheit könnte auch mit der Abreise meines Großvaters zu tun haben, damit, dass meine Großmutter jung gestorben ist und meine Mutter in einer anderen Familie aufwuchs.« Er legte eine Pause ein und begann, langsam ein- und auszuatmen, als wolle er sich selbst beruhigen. »Ich habe keine Ahnung, wer mein Vater ist! In der Geschichte meiner Familie gibt es eine Leerstelle, ein Schweigen. Und die Antwort liegt hier, in diesem Wald …«

Ich wandte mich wieder dem Gemälde zu. Ein ruhiger Ort, wie es schien, mit kleinen Lichtstrahlen zwischen den Bäumen. Ein paar rötliche Farbtupfer ließen an den Herbst denken, aber rechts im Vordergrund befand sich ein Busch mit gelben Blüten. Dahinter stieg das Gelände an, gespickt mit dicken Felsblöcken.

»Hier ist etwas Furchtbares geschehen«, murmelte Cattaneo. »Eine junge Frau … mit einem Messerstich in den Rücken ermordet.«

»Selbst wenn es wahr ist«, versuchte ich einzuwenden, »sind hundert Jahre vergangen.«

»Blödsinn! Verzeihen Sie, Fazioli, aber Sie müssen

Während wir die dunkle, schmale Treppe hinabstiegen, wagte ich zu fragen, ob es nicht hilfreich wäre, wenn ich mir einen ersten Überblick über den Inhalt des Koffers verschaffte. Doch er beachtete mich nicht.

»Ich weiß nicht, warum Studer nichts aufgedeckt hat. Ich hoffe, dass beim Lesen und Ordnen der im Koffer befindlichen Papiere etwas Vernünftiges zum Vorschein kommt. Aber jeder muss seinen Teil dazu beitragen: Ich werfe einen ersten Blick darauf und wähle das Material aus. Anschließend übertragen Sie und die Übersetzerin es ins Italienische, und unter dem Vorwand, einen Roman daraus zu machen, enthüllen Sie, was meinen Großeltern zugestoßen ist.«

»Aber Sie meinten doch, Sie könnten nicht gut Deutsch.«

»Ein bisschen schon. Lassen wir das.«

»Aber …«

»Umba, umba!«

Cattaneo brach in Gelächter aus. Dann bot er mir einen weiteren Kaffee (mit noch mehr Schuss) an, rauchte eine Zigarette und erklärte mir, wie schwierig der Beruf des Gastwirts sei; fast noch prekärer als ein Dasein als Legionär. Als er sich von mir verabschiedete, wurde er jedoch wieder ernst.

»Eine junge Frau ist gestorben. Das dürfen Sie nicht vergessen. Und diese junge Frau hat nun niemanden mehr, der an sie denkt. Und … wissen Sie was?«

»Ich zähle auf Sie, Fazioli. Die Wahrheit liegt in Ihren Händen.«