»Down Fifth Avenue they come«, rief Richard, als sie hintereinanderweg die Düne runter trabten, beladen mit Klappstühlen, Sonnenschirmen, Badetüchern und dem ganzen Gewicht der Vorfreude auf einen Tag am Strand. Vorsichtig wurden die nackten Füße in den heißen Sand gesetzt, und kein Kommentar wurde ausgelassen über den Haufen Schuhe, der da lag, wo der Asphalt aufhörte und der Sandweg begann. Stefanie fand, dass es hier aussah wie vor einer Moschee und dass man achtsam über den tatsächlich nahezu marmorweißen Sand gehen solle, mindfully. Und Richard erklärte, dass mindfulness ein Wort sei, das seine Frau häufig benutze in letzter Zeit, daher noch häufiger zu hören sein werde, mindfulness sei ihr wichtig neuerdings, im Umgang mit den Dingen und sich selbst, »vor allem mit sich selbst«.
Alec bemerkte zur Seite hin, dass Kurse in mindfulness sogar bei der U. S. Army schon gang und gäbe seien, und Stefanie nickte bei seinen Worten dankbar und heftig. Dass Alec direkt im Anschluss noch etwas von Scharfschützen murmelte, denen auf diese Weise Störfaktoren wie zum Beispiel moralische Bedenken aus dem Gewissen gereinigt werden sollten, das bekam schon keiner mehr mit, denn Richard war es in diesem Zusammenhang wichtiger, auf seine Parkgenehmigung hinzuweisen, das Beach Parking Permit, das — »und das ist kein Witz«, sagte er — der mit Abstand wertvollste Teil an seinem ganzen Auto sei, mehr wert als das Bodenblech, die Türen, die Sitze und der Motor von dem allerdings auch schon etwas bejahrten Mercedes-Kombi, dessen Stoßstange er auf dem letzten freien Parkplatz vor dem Strand in einen Haufen Sand gerammt hatte. Vielleicht, sagte Richard, nachdem er die Strandtasche von der einen Schulter auf die andere umgeladen hatte, vielleicht sei das Beach Parking Permit für Southampton auch der wertvollste Teil von dem ganzen Bungalow, ohne den er das Permit im Übrigen gar nicht hätte.
Vera war so höflich, wissen zu wollen, warum die Parkgenehmigung so teuer war.
Sie erhielt die Antwort: »To keep out the riff-raff.«
Vera wollte wissen, was der »riff-raff« sei.
»Leute wie ihr«, sagte Richard, und dass sie das nicht persönlich nehmen sollten. Die Strände hier, erklärte er, seien im Prinzip nun einmal öffentlich, da müsse die Gemeinde mit Parkverordnungen dafür sorgen, dass Leute, die sich hier kein Haus leisten können, nicht im Ernst auf die Idee kämen, von ihrem freien Zutritt auch Gebrauch zu machen.
Alec reckte den Daumen und sagte »awesome«. Und Richard erklärte, da müsse Alec gar nicht so ironisch tun, im wirklichen Leben würden auch Kommunisten Ruhe und Sauberkeit hiesiger Strände am Ende wertzuschätzen wissen.
»Im wirklichen Leben«, wiederholte Alec.
Sarah war währenddessen schon so weit nach vorne gestürmt, als wollte sie mit ihrem Spielzeug-Eimerchen direkt in die Wellen hineinrennen. Scott wackelte hinter ihr her und blieb irgendwann misstrauisch stehen. Ihm waren das Gedonner und die Gischt da vorne offenbar ein bisschen unheimlich, und da, wo er stehen geblieben war, stellten schließlich auch die Erwachsenen ihre Sachen in den Sand.
Die Handtücher, die die Frauen ausbreiten wollten, wurden vom Wind wieder und wieder zusammengefaltet. Der Sonnenschirm, den Richard in den Sand rammte und dann drehend noch tiefer hineinbohrte, wurde von einer Bö sofort wieder herausgerissen und über den Strand geweht. Die Kinder lachten über den Mann, der nun mit schweren Schritten dem Schirm hinterherjagte mit seinen Seersucker-Shorts und einem rosafarbenen Polohemd. Sarah und Scott bekamen sich gar nicht wieder ein vor Begeisterung, sie lachten, als würden sie zum ersten Mal einen Film mit Charlie Chaplin schauen, und Vera war das unangenehm vor den Freunden. Sarah möge bitte zusehen, dass kein Sand in die Strandtasche komme, mahnte sie, das gelte auch für Alec, immer sei am Ende der halbe Strand in der Tasche. Dann winkte sie mit der Sonnencreme. Sie hatte Lichtschutzfaktor 50 gekauft, das war das Mindeste. Sarah rief, sie brauche das nicht, sie wollte los, zum Meer hin. Vera sagte: »Du bekommst Hautkrebs, wenn du nicht eingecremt bist.«
»Oder wenn du eingecremt bist«, warf von hinten her fröhlich Stefanie ein.
Sie nahm Vera die Tube aus der Hand, schaute kurz drauf und nickte: »Retinylpalmitat.« Ein Stoff sei das, der sogar von den Arzneimittel-Überwachungsbehörden als krebserregend und hautschädigend eingestuft werde. Und Oxybenzon! Ein Stoff, der die Hormone beeinträchtigen könne. Insgesamt seien in einer durchschnittlichen Sonnencreme wie dieser da etwa 150 krebserregende Stoffe enthalten. Sie lächelte, als ob diese Nachricht eine tröstliche wäre. »Ich habe mir alle Industriecremes angeschaut, du kannst exakt gar keine nehmen.«
Vera schaute verunsichert auf die Tube, immerhin doch Lichtschutzfaktor 50, während Stefanie sich mit einer selbst gemachten Paste einrieb. Aus Zinkoxid, erklärte sie. Und Kokosöl. Vor allem Kokosöl. Das war in dem Moment auch zu riechen.
Im nächsten Moment wurde der Kokosgeruch jedoch bereits von einer Wolke süßlicher Parfümaromen überrollt, die von Richard herüberwehte. Er hatte eine Sonnencreme zum Aufsprühen und ging großzügig damit um. Den olfaktorischen Kampf gegen das Naturprodukt gewann für heute noch einmal die Chemie.
Es mag sein, dass das den Ausschlag dafür gab, dass Vera nach einem Augenblick der Verwirrung und der Ratlosigkeit ihr Kind doch wieder heranzitierte und beinahe zornig ihre Tube über Sarahs Rücken ausdrückte: »Mit dem Risiko, irgendwann irgendeinen Krebs zu erwischen, muss man leben, mit Gejammer über Sonnenbrand in diesem Urlaub nicht.«
Stefanie zuckte mit den Schultern und fragte, ob sie sich währenddessen für das Gleiche Veras Mann ausleihen dürfe, für das Einreiben des Rückens. »Mal deinen Mann ausleihen«, exakt diese Formulierung wählte sie. Vera, mit ihrer widerspenstigen Tochter beschäftigt, zuckte lediglich mit den Schultern. Und so konnte es kommen, dass Alec mit einer selbst gemachten Pampe aus Kokosöl und Zinkoxid an den Händen hinter Stefanie Aufstellung zu nehmen hatte und seine Finger in kreisenden Bewegungen auf ihr Geheiß hin von den Schultern abwärts über ihren Rücken wandern ließ.
Später würde er an sein Erstaunen darüber zurückdenken müssen, wie sich ihr Körper unter seinen Händen wand und streckte. Und er würde erst recht den Moment nicht mehr vergessen, in dem Stefanie den Kopf zur Seite drehte und ihm mit einem behaglichen Lächeln zuhauchte, das könne er gern häufiger machen, »auch ohne Sonnencreme«.
Diese Worte hingen für eine Weile in der Luft zwischen ihnen, bereit, gepflückt, auf die Konsequenzen hin verkostet, schließlich verdaut zu werden.
Sie hingen.
Und hingen.
Und blieben da auch hängen.
Denn Alec cremte, ohne das zu kommentieren, bis er zum Glück von seiner Tochter bei der Hand genommen und weggezerrt wurde, die nämlich jetzt endlich los wollte, und zwar mit ihrem Papa, runter zum Meer, rein in die Wellen, den klebrigen Film auf ihrer Haut gleich wieder runterwaschen.
Richard kam ihnen hinterher gerannt, zerrte den kleinen Scott mit sich. Der aber weinte, schrie und wollte nicht ins Wasser, da ließ er ihn zornig am Strand sitzen und sah zu, dass er Alec und Sarah auf den letzten Metern noch überholte, um knapp vor ihnen in die Wellen zu hechten.
»Champagner«, rief Richard, als sie alle wieder aufgetaucht waren. »Ein Bad in Champagner, oder etwa nicht?« Nicht nur der Sand sei weißer, auch die Gischt moussiere feiner hier draußen. »Alles westlich von hier ist bestenfalls Prosecco dagegen: Jones Beach, sogar Fire Island.« Und was Coney Island oder Rockaway Beach waren, wo Alec und die Seinen normalerweise schwimmen gingen, was also diejenigen Strände dagegen waren, die man mit der Subway erreichen konnte, das wollte Richard lieber gar nicht erst in den Mund nehmen.
»Ganz schön salziger Champagner«, sagte Alec. Aber er musste zugeben, dass Richard recht hatte: So fein stäubend, so glitzernd und so geradezu schmerzhaft hell für die Augen war diese Brandung, so fein, so strahlend, so brutal hell dieser Sand. Sie mussten blinzeln, als sie sich das betrachteten, das Wunder von Meer und Strand im Sommer. Kinder warfen sich in den auslaufenden Wellen auf bunte Schaumstoffbrettchen, um kreischend durch die Gischt zu schlittern, Kinder schrien, Kinder buddelten, Kinder ließen ihre Schaufeln liegen, Kinder vermissten ihre Schaufeln, Kinder packten mit den wiedergefundenen Schaufeln Sand in Plastikeimer, die wie ein Burgturm geformt waren, stülpten den Eimer um, zogen ihn hoch und weinten, weil der Sand entweder zu trocken war und die Zinnen zerbröselten oder zu nass und die Zinnen zerflossen. Väter mussten Bücher sinken lassen und zu ihnen hinrennen, trösten, retten, überzeugendere Burgen bauen, während sie nur halb bei der Sache waren.
Denn beim Hochsitz der Lifeguards standen ein paar Mädchen beieinander. Sie standen, redeten, lachten, wechselten Standbein und Spielbein und zupften immerzu und immer wieder ihre Oberteile zurecht oder zogen sich verstohlen mit dem Zeigefinger am Po die Ränder des Beinausschnitts herunter. Der Rettungsschwimmer stieg von seinem Sitz und machte Liegestütze. Die Mädchen schauten eine Weile hin und dann wieder weg.
Eine Welle, die größer und wuchtiger war als alle zuvor, hatte sich hinter ihnen herangeschlichen, während Alec dies alles in sich aufnahm, und brach jetzt mit Getöse über ihm, Sarah und Richard zusammen, haute sie von den Füßen, versuchte, Arme und Beine aus dem Rumpf zu reißen, und wirbelte sie herum wie Lappen in einer Waschmaschine. Alec wusste nicht mehr, wo oben und unten war, während er so gedreht wurde; er riss die Augen auf und staunte, wie klar er sehen konnte.
Immer noch unter der Welle kreiselnd, sah er auf einmal das Gesicht seiner Tochter vor sich, auch sie mit weit aufgerissenen Augen, dann kam der Sand, der Boden, sie stießen auf, kugelten aus der austrudelnden Welle heraus und hatten es überstanden. Alec wollte seine Tochter aus dem Wasser heben, fragen, ob sie okay sei, Trost spenden nach dem Schreck. Aber Sarah brauchte gar keinen Trost, sie rief: »Noch mal!«, und rannte umgehend wieder ins Meer zurück, während Richard schimpfend aus dem Wasser stieg, Sand aus seinen Haaren kratzend.
»Papa, wann kommt der Schnee?«, wollte Sarah mit einem Mal wissen. Alec schaute, wie schon oft, erstaunt seine Tochter an.
»Im Winter. Das ist aber noch bisschen hin, zum Glück.«
Das Kind wünschte sich nun auf der Stelle Schnee. Es wollte snowmen bauen und snowfights machen.
»Das heißt Schneemann und Schneeballschlacht«, sagte Alec.
»Ja«, sagte seine Tochter. »Ich gewinne.«
»No way«, sagte Alec.
»Yes way«, sagte Sarah.
Alec schaute seine Tochter an und war ganz gerührt von dem Spaß, den er an ihr hatte. Gleichzeitig wurde er jetzt schon melancholisch bei dem Gedanken, dass sie in sechs bis acht Jahren erste sogenannte Freunde vorstellen würde und mit denen, pickligen Burschen mit brüchigen Stimmen, in ihrem Zimmer verschwinden, vor der Tür die dampfenden Turnschuhe der Knaben, ausgetreten und in deprimierend großen Größen …
Sarah schaute hoch in den Himmel, der so blau war und inzwischen auch so leicht von Schönwetterwölkchen marmoriert, wie es ein Himmel an einem Hochsommertag nur sein konnte, und sagte: »Ich glaube, ich habe schon eine Schneeflocke gesehen.«
Alec richtete den Blick nach ihrem Finger und tat so, als würde auch er einer Schneeflocke beim Landen zuschauen.
»Das reicht noch nicht für einen Schneemann, fürchte ich.«
Das Mädchen zog einen Mund, als es an Alecs Hand zurück zu den anderen trottete.
»Warum weint die Kleine denn?«
»Weil kein Winter ist. Sarah will snowmen bauen und snowballfights.«
Die Erwachsenen standen um das schmollende Kind herum wie ratlose Ärzte.
»Alles hat seine Zeit«, sagte Stefanie schließlich, indem sie vor Sarah in die Knie ging, als gelte es jetzt etwas Grundsätzliches für das Leben zu lernen: »Die Zeit von Schnee ist im Januar. Erst wappnen sich die Leute mit Hamsterkäufen gegen die Schneestürme, dann freuen sie sich über die Tulpen auf dem Mittelstreifen der Park Avenue, dann weichen sie den Tropfen aus den Klimaanlagen in den Fenstern aus, dann erkennen sie die Melodie von Mr. Softee’s Ice Cream Truck, dann essen sie lobster rolls, bis die ihnen aus den Ohren rauskommen, sie bringen die Kinder in neue Kindergartengruppen, müssen mit neuen Eltern neue WhatsApp-Gruppen aufmachen, schneiden Gesichter in Kürbisse, zerteilen Truthähne, hören ›Jingle Bells‹, wünschen sich ein happy new year, und dann geht alles von vorne los.«
»So gehen die Jahre dahin«, nahm hinter ihr Vera diesen Faden auf: »So werden die Leute älter, und dann kommen sie mit gebrochenem Oberschenkelhals ins Krankenhaus, fangen sich einen Keim ein und sind nach ein paar Wochen tot.«
Als sie fertig war, sprach niemand, alle schauten sie nur stumm an. Dieser Anflug von Bitterkeit schon wieder, dachte Stefanie, gerade an einem so strahlenden Tag. Aber Vera war auf dem Weg hierher ein Farmer nicht entgangen, der jetzt schon Kürbisse anbot, Anfang August, und der ockerfarbene Eindruck von Endlichkeit, der sich für sie damit verband, hatte sie erst erschreckt und dann begreifen lassen, warum die Menschen hier so gern vor dem Terror der irgendwie immer schneller aufeinanderfolgenden Jahreszeiten in den Dauersommer von Florida flohen. Sie verstand dieses Land immer besser.
Sarah hatte von alldem einzig eine Sache aufgeschnappt, die ihr relevant erschien, und das war Mr. Softee’s Ice Cream Truck.
Sarah wollte auf der Stelle ein Eis. Scott wollte auf der Stelle Eis. Richard wollte Lobster Rolls.
Er habe eben erst zum zweiten Mal gefrühstückt, sagte Stefanie.
»Ewigkeiten her«, rief Richard. Er könne sich kaum dran erinnern.
Vera hatte auf einmal ebenfalls Lust auf Lobster Rolls. Sie googelte, wo es die beste Lobster-Roll-Bude in der Umgebung gab. Sie fand: »The Crab«.
»Das ist aber ein Stück weg, in Sag Harbor.«
»In Sag Harbor gibt es auch Eis«, wusste Richard.
Vera fragte, wie Stefanie es mit dem Eis halte, und die machte ein freundliches Gesicht, hatte aber Bedenken.
»Gegen das Eis von Mr. Softee oder generell?«
Stefanie hob und senkte ihre Schultern: generell, wegen des Industriezuckers, aber Mr. Softee sei besonders …
Vera nickte heftig, fiel ihr ins Wort und beklagte, dass die Wagen immer genau um neun Uhr abends um die Ecke bogen mit ihrem Gebimmel, wenn Alec gerade seit einer Stunde dabei war, das Kind in den Schlaf zu kriegen mit Gutenachtgeschichten, bei denen der Einzige, der einschlief, in der Regel er selber war. »Er hast es fast geschafft, die Augen sind beinahe zu, und dann: diddeldi-diddeldi-ding-da-ding-…«
»Ich erzähl Scott immer, dass das die Melodie ist, die Mr. Softee spielt, wenn die Eiscreme alle ist«, sagte Richard. Und Alec wusste, dass dieser Gag aus dem »New Yorker« geklaut war, er konnte nur nicht sagen, ob aus einem Text oder einem Cartoon. Das eigentlich Schlimme sei aber das Eis selbst, sagte Stefanie. Sie wollte diesen Punkt jetzt noch zu Ende führen: Nie fühle sie sich zerrissener, nie machtloser als angesichts der sehnsüchtigen Blicke ihres Sohnes auf die Reklametafeln dieser Ice Cream Trucks, während sie gleichzeitig nicht aus dem Kopf kriegen könne, was für eine »chemische Scheiße« das sei, was die armen Kinder da in ihre Waffeln gedrückt bekommen.
In Sag Harbor gebe es auch Eis, sagte Richard, und zwar organic. Er hauchte das Wort und schaute dazu mit den aufgerissenen Augen eines Magiers beim Abrakadabra-Sagen. Er gab bekannt, jetzt, auf der Stelle, Lobster Rolls für alle holen zu wollen und den Kindern ein kerngesundes Bio-Eis. »Mr. Softee hat in Southampton kein Parking Permit«, sagte er, bevor jemand Widerspruch einlegen konnte, und an Alec gewandt: »Du kommst mit, ich brauch dich zum Tragen.«