Am Abend, als die beiden Männer ihren jeweiligen Kindern die Gutenachtgeschichten vorlasen, saßen Vera und Stefanie noch ein Weilchen draußen auf der Terrasse und hatten sich Decken um die Schultern gelegt gegen die aufziehende Kühle und die Mücken. Stefanie bot noch einen basischen Abendtee aus Beifuß, Ehrenpreis, Erdbeerblättern, Fenchel, Himbeerblättern, Kornblumenblüten, Orangenblüten, Spitzwegerich, Süßholz, Löffelkraut, Odermennig, Wegwarte, Zimt und Lindenblüten an, denn das unterstütze die Ausleitungsorgane während der Nacht. Aber Vera erklärte, ihre Ausleitungsorgane seien auch so sehr intakt, danke sehr. Sie hätte lieber von dem Rotwein gehabt, den Richard noch in Aussicht gestellt hatte, bevor er mit Scott nach drinnen verschwunden war, einen Merlot von einem Weingut, das einem Hollywood-Regisseur gehörte, wie Richard betont hatte, als ob dadurch besonders dramatische Genüsse zu erwarten wären. Aber Richard blieb verschollen, war womöglich beim Vorlesen mit eingeschlafen. Ein Wunder wäre es nicht, sagte Stefanie, es sei sogar eher die Regel. »Den ganzen Tag Volldampf und laut und Action und dann abends einfach ausgeknipst und weg, wie so ein Kind«, sagte sie, und es blieb offen, ob sie das eher beneidenswert oder pathologisch fand oder beides auf einmal. Sie jedenfalls liege dann oft bis in die Morgenstunden wach und versuche mit Atemübungen in den Schlaf zu finden, aber Richards Schnarchen, vor allem die eruptive Unregelmäßigkeit von Richards Schnarchen, verhindere dann, dass sie den erforderlichen Rhythmus finde.
Da Stefanie, während sie all das erzählte, keine Anstalten machte, den Wein zu holen, trank Vera Wasser. Dann steckte sie sich eine Zigarette an.
»Du als Ärztin«, sagte Stefanie.
»Ja, leider. Du musst es Alec nicht sagen.« Sie nahm einen tiefen Zug und ließ den Rauch aus den Nasenlöchern wieder austreten. »Wir wollten aufhören, wenn wir in Amerika sind. Er hat das irgendwie geschafft. Ich noch nicht.«
»Es ist aber ganz einfach. Ich habe das auch geschafft«, erklärte Stefanie. Jeder könne das schaffen. Der Ratgeber werde ihr helfen.
»Wer?«
Der Ratgeber, sagte Stefanie feierlich und so, als ob das alles keiner weiteren Erklärung bedürfte. Sie sagte es allerdings auf Englisch: »The Counselor.« Sie strahlte Vera zuversichtlich an.
»Der Kaunsler?«, sagte Vera, und das war zwar im ersten Moment nur ein Unfall, eine Spur zu viel Deutsch hatte sich in ihre Aussprache gemischt. Aber dabei sollte es auch in Zukunft bleiben, wenn von dem Mann die Rede war. Denn es war oft von ihm die Rede. Stefanie nickte feierlich. Der Kaunsler werde Vera auch helfen, ihren Schmerzkörper hinter sich zu lassen.
Vera schlug sich mit der Hand in den Nacken, wo eine Mücke allerdings ihr Werk schon getan hatte.
Stefanie verzog das Gesicht, als ob sie selbst den Schlag abbekommen hätte. Vera betrachtete den Blutfleck in ihrer Handfläche und bemerkte die Panik im Blick von Stefanie, dass sie die Hand als Nächstes am Stuhl, an der Tischdecke oder ihrer eigenen Jeans abwischen könnte. In der rechten Hand hatte sie eine Zigarette, an der linken Blut; beides war jetzt ein verblüffend großes Problem. Wohin damit? »Ich geh die Zigarette kurz irgendwo ausdrücken«, erklärte Vera, »dann können wir die vielleicht in die Mülltonne tun, oder? Wenn ich die auf die Straße werfe, verrottet die da ja nicht, richtig?«
»Das ist richtig«, sagte Stefanie.
»Und ich muss mir die Hände waschen und dann auch mal nach Alec und der Kleinen sehen. Ich glaube, ich …«
»Gute Nacht, liebe Vera«, sagte Stefanie und schob ihr die Untertasse ihres Teeglases als Aschenbecher hin. »Geh du nur. Alles ist gut.«
Vera summte der Kopf, während sie über die Wiese langsam nach unten schritt, wo am Grundstücksrand die Hütte für die Gäste stand.