In ihrer kleinen Hütte gab es nur einen Raum, der nahezu komplett von dem Doppelbett ausgefüllt wurde, in dem sie alle schliefen, und einen handtuchgroßen Verschlag für das Bad. Nachdem sich Vera die Hände gewaschen hatte, stand sie mit der Zahnbürste im Mund lange im Türrahmen zwischen Bad-Verschlag und Hauptraum und schaute auf das Bett, auf dem Alec, ihr abgewandt, immer noch mit Vorlesen beschäftigt war.
Er hatte ein Kinderbuch von Erich Kästner ausgesucht, auf Deutsch. Es war also kein Wunder, dass es länger dauerte.
»Die Wohnung bestand aus zehn Zimmern und war so groß, dass Pünktchen, wenn sie nach dem Essen ins Kinderzimmer zurückkam, meist schon wieder Hunger hatte«, las Alec. »Wirklich?«, lachte Sarah. »So groß?«
Vera ließ den Blick durch den kleinen Raum gleiten, über die Wände aus weiß gestrichenen Holzlatten, die an einen Rahmen aus dickeren, ebenfalls weißen Balken genagelt waren. Die Architektur war simpel, aber nicht so ostentativ und geradezu kompliziert simpel wie die des großen Bungalows am oberen Ende der Wiese. Der große Bungalow war zwar alt, aber jedes seiner Details schrie, dass er modern war. Die Hütte für die Gäste war vermutlich viel jünger, hatte aber etwas Nostalgisches an sich. Der Raum sollte offensichtlich auch mit seiner Einrichtung die Unschuld von Kindheitserinnerungen ausstrahlen: Auf dem Nachtschränkchen das vergilbte Buch, war das ein Roman? Man konnte es nicht sagen, denn obendrauf stand eine flache Schale mit — was eigentlich? Gewürz? Duftzeug für die Nacht? Seegräser steckten darin. Auf Alecs Seite stand ein Einweckglas, aus dem die Blüte einer Hortensie ragte, jetzt farblos, jedoch beim Einfall der Sonnenstrahlen durch das Fenster hellblau mit Ausflügen ins Rosa. Sie fragte sich, ob Stefanie das so arrangiert hatte. Oder Richard. Oder ob sie das alles schon so übernommen hatten. Vielleicht ja tatsächlich Richard, beschied sie. Es war ihm zuzutrauen.
An eine Wand hatte Richard, oder wer auch immer es gewesen war, die Panzer von kleinen Krebsen geheftet, die dort jetzt wie prähistorische Fossilien wirkten. Direkt neben Vera waren an einen der dickeren Balken alte Postkarten genagelt. Fotos vom Hafen von Sag Harbor und vom Leuchtturm von Montauk. Eine Zeichnung, die eine Frau in Fünfzigerjahre-Badeanzug beim Kopfsprung in eine Tasse darstellte. »You’re still the cream in my coffee«, stand in schwungvoller Schrift darunter. Vera verzog den Mund.
Die Steckdose in der Wand schien über all das grenzenlos zu staunen. Vera fand, dass die Steckdosen Gesichter hatten, jedenfalls die amerikanischen. Die Steckdosen zu Hause waren Schweinenasen. Zwei große runde Löcher in einem Kreis. Die amerikanischen Steckdosen waren viel feiner: zwei schmale, aufrechte Schlitze für die staunenden Augen, darunter ein kleiner, rund offen stehender Mund. Bemerkenswert, dass manche Dinge in Amerika auch wiederum deutlich filigraner und verspielter waren als im zarten Europa, dachte sie.
»Nach dem Mittagessen kriegte Frau Direktor Pogge Migräne«, las Alec. »Migräne sind Kopfschmerzen, auch wenn man gar keine hat. Die dicke Berta musste im Schlafzimmer die Jalousien herunterlassen, damit es ganz dunkel wurde. Frau Pogge legte sich ins Bett und sagte zu Fräulein Andacht: ›Gehen Sie mit dem Kind spazieren und nehmen Sie den Hund mit! Ich brauche Ruhe. Und dass nichts passiert.‹«
Beinahe verwundert hielt er inne, weil aus dem Kissen gar keine Nachfrage zu dem Begriff Migräne kam: Sarah war eingeschlafen. Vera hatte kurz den Eindruck, Alec wollte trotzdem noch ein bisschen weiterlesen, nur so für sich selbst. Aber dann klappte er leise das Buch zu und stand auf.
Als er sich seinerseits die Zähne putzte, legte Vera den Arm um seinen Hals und sagte: »Was zum Teufel machen wir hier?«
»Sommern«, erwiderte Alec, so gut das mit einer schäumenden Bürste im Mund ging. Er spuckte aus und wiederholte: »Wir sommern in den Hamptons. Du hast dir das gewünscht.«
»Ja«, sagte Vera, aber sie schaute unglücklich. Sie wisse nicht, ob sie das durchhalte einen ganzen Monat, sagte sie dann. »Ich weiß nicht, ob ich mit dieser Art klarkomme. Wie kann man denn nur so werden?«
Alec nahm wieder die Bürste aus dem Mund und erklärte, als er Richard kennengelernt habe, habe der wasserstoffgelbe Haare gehabt und nichts ausgelassen. »Wirklich nichts. Der war offen für alles.« Für neue Dinge, neue Erfahrungen, neue Gesichter, für andere und anderes sei Richard offen gewesen, und dafür sei er ihm damals dankbar gewesen in seinen ersten Jahren in Berlin, sagte Alec. Denn das sei bei den Deutschen ja nun leider nicht immer so, gerade in Berlin, wo viele so eifersüchtig und verkniffen ihre Kieze und ihre Clubs und ihre Freundeskreise hüteten wie die deutschen Finanzminister ihr Geld. Deshalb lasse er auf Richard auch heute nichts kommen. »Der spielt jetzt hier Mr. Moneybags, um mich ein bisschen aufzuziehen«, erklärte Alec. Das könne er aber nicht ernst nehmen. Das müsse auch Vera nicht ernst nehmen.
»Ich meine nicht Richard. Ich meine Stefanie.«
»Ah«, machte Alec, als hätte er auf etwas Hartes gebissen.
»… Frau Direktor Pogge.«
»Was?«
»Die macht mich fertig«, erklärte Vera und schüttelte den Kopf.
»Die sorgt sich um die Umwelt und gesundes Essen. What’s not to like?«
»Gar kein Essen«, blaffte Vera. »Glaubst du, die spuckt ihr Essen heimlich wieder aus?«
Alec wollte sich das nicht vorstellen.
»Die läuft doch nicht rund«, sagte Vera.
Alec erwiderte, dass Stefanie vermutlich schon diese Formulierung viel zu mechanistisch sein dürfte, zu wenig naturhaft.
»Die lächelt unentwegt.«
»Ist doch nett.«
»Un-ent-wegt.«
»Buddha-Figuren lächeln auch unentwegt.«
»Amokläufer lächeln auch unentwegt. Erst: ›Mir geht es suuuper‹ und dann: rattattattatatt …«
Sie schoss mit ihrer Zeigefingerpistole auf ihr eben noch scheinheilig grinsendes Ebenbild im Spiegel.
Vera wollte auf einmal nicht mehr hier sommern. Sie wollte am liebsten nach Hause fahren. Sie halte keinen weiteren Tag aus mit jemandem, der unentwegt lächelt, es mache ihr Angst.
»Du musst deinen Schmerzkörper hinter dir lassen!«, hauchte sie den Spiegel an, Stefanies Tonfall imitierend. »Was soll das überhaupt heißen?«
Alec nahm sein Telefon und googelte. Er starrte eine Weile in das Licht aus seinem Bildschirm, dann erklang eine dürre Stimme und erzählte auf Englisch, aber mit Akzent, etwas von einem Energiewesen, das vom Menschen Besitz ergreife, dem »Painbody«, der Akkumulation aller schmerzhaften Erfahrungen im Leben.
»Wirkt wie ein Busfahrer von den Berliner Verkehrsbetrieben«, sagte Vera, denn der kleine Mann auf dem Bildschirm trug über seinem Oberhemd einen gemütlichen Pullunder.
Alec und Vera erfuhren, dass der Schmerzkörper grundsätzlich darauf dränge, weiteren Schmerz zu erfahren. Gefährlich werde dies, wenn zwei Schmerzkörper sich im Straßenverkehr begegneten. Wenn zwei Autos frontal zusammenstoßen, erklärte der Mann, dann liege das meistens daran, dass die jeweiligen Fahrer unbewusst den Unfall wollen.
»Ach«, sagte Vera.
»Der kommt aus Deutschland, lebt in Kanada und schreibt Bestseller«, las Alec vor. »›New York Times‹-Bestseller.«
»Dann nimm dir ein Beispiel«, sagte Vera und gähnte. Alec war es dadurch für einen Moment so, als wüsste seine Frau, dass sein eigenes Buchprojekt noch immer nicht wesentlich über eine uferlose Materialsammlung hinausgekommen war, die er eigentlich in diesem Urlaub endlich bändigen wollte. Aber nun kamen selbst hier dauernd neue Aspekte dazu, die damit in Beziehung gesetzt werden wollten, und Alec war entschlossen, lieber gründlich zu sein als eilig. Er beschloss, dass Vera nicht wissen konnte, dass er mit dem eigentlichen Schreiben noch gar nicht angefangen hatte.
Der Mann auf dem Video lachte lange über einen seiner eigenen Sätze. Sie schalteten ihn ab.
Alec erinnerte sie daran, dass sie, ob sie wollten oder nicht, bis Ende August weiter hier sommern mussten, weil ihre Brooklyner Wohnung vermietet war, über Airbnb. Und er erinnerte sie auch daran, dass das ihre Idee gewesen sei.
»Mist«, sagte Vera. Sie hatte dieses Thema tatsächlich für einen Augenblick verdrängt. Sie hatte jetzt allerdings auch nicht die Energie, Alec auseinanderzusetzen, dass irgendwer für die Miete sorgen müsse, wenn sie einen Monat unbezahlt frei nimmt …
Als sie im Bett lagen, zwischen sich Sarah, die sich unruhig hin und her warf, mal Alec ein Knie in den Rücken rammte und mal Vera, kamen ihr die dekorativen Krabbenpanzer an der Wand plötzlich vor wie eine Prozession von Kakerlaken, und sie hatte auf einmal Sorge, die Airbnb-Gäste, ein ansonsten ganz nettes Paar aus Irland, könnten vergessen, die Mülltonnen rauszustellen, oder sie zu spät rausstellen oder die falschen Mülltonnen an den falschen Tagen oder sie nicht wieder reinräumen oder sie zu spät wieder reinräumen. Sie sah schon die Strafzettel vom Sanitation Department im Briefkasten liegen, und sie sah das Gesicht ihrer Vermieterin Giovanna, genannt Jo, vor sich. Das niedliche Steckdosengesicht glich jetzt dem Gemälde »Der Schrei« von Edvard Munch.
Vera würde mehr als nur eine Atemmeditation brauchen, um unter diesen Umständen einzuschlafen. Außerdem störte sie der Lichtschein des Telefons, auf dessen Bildschirm Alec Weiteres über den Schmerzkörpermann in seinem Pullunder las und sich offensichtlich sehr dabei amüsierte.