Am Abend dieses Tages, nachdem Charlotte mit einem engagierten Auftritt zum Einstand die beiden Kinder so müde bekommen hatte, auf dem Trampolin und beim Versteckenspielen, dass sie ohne Zetern ins Bett fanden, las sie im Bungalow noch eine Gutenachtgeschichte auf Französisch vor, die Scott nicht verstand, während Sarah in der Gästehütte von Alec ein weiteres Kapitel über Frau Direktor Pogge und ihre dicke Berta vorgetragen bekam, und die anderen noch eine Weile auf der Terrasse sitzen blieben.
Stefanie drängte Vera so lange, ihr Unwohlsein zu artikulieren, bis die zugab, ganz generell den Gedanken nicht leiden zu können, Personal um sich herum zu haben, nicht der Kosten wegen, sondern wegen der Privatsphäre. Sie schob es auf ihre Herkunft, wo es staatliche Dienstleister gegeben hatte, Kinderkrippen, Kindergärten, Großwäschereien, aber nur wenige Leute, die sich Kindermädchen oder Putzfrauen hielten.
Sie hatte einmal eine Putzfrau engagiert, und dann aus Scham selber alles bereits so aufgeräumt, dass die Frau, aus El Salvador übrigens und hochinteressant, gar nicht mehr gebraucht wurde.
Weil Richard ihr heute den Rotwein aufgemacht hatte, den Stefanie ihr gestern nicht ausschenken wollte, war Vera nun in Fahrt und erzählte den beiden auch, wie Alec in seiner Ehre als Geistesarbeiter gekränkt gewesen sei, als Vera, müde und gereizt vom Dienst in der Klinik, gemeint hatte, ein Putzmann täte es für sie auch: Sie könne Alec gern fünfzehn Dollar in die Hosentasche schieben, wenn er einmal den Staubsauger in die Hand nähme für ein Stündchen, wo er ohnehin den ganzen Tag zu Hause sei.
Stefanie nickte wie ein Psychoanalytiker neben der Patientencouch und machte sich tatsächlich Notizen. Am Ende lautete ihr Rat: »Akzeptier, liebe Vera, doch einfach, dass du dich fühlst, wie du dich fühlst.«
Als sie Alec über die Wiese kommen sahen, wechselten sie das Thema. Und als kurz darauf auch Charlotte wieder zu ihnen stieß, sich ebenfalls ein Glas einschenkte, hinsetzte und eine Zigarette ansteckte, sagte Vera für eine ganze Weile gar nichts mehr.
Pock-pock-pock-pollock pockerte es leise aus Alecs Telefon, denn um Richard und einem weiteren Abend mit Jazz zuvorzukommen, hatte er elektronische Musik herausgesucht, die aus fernen Nächten in Berlin herüberzuwehen schien und sie von damals reden ließ, von den Neunzigern und den Nullerjahren, von Tanzveranstaltungen in Industrieruinen, Clubs ohne Toilettentüren, vom Konsum inhaltlich fragwürdiger Drogen unter hygienisch fragwürdigen Umständen. Als Vera anmerkte, dass sie ihre Berliner Nächte vornehmlich über Fachbüchern und bei Nachtdiensten verbracht habe, ließ Richard sie im Tonfall eines Veteranen wissen, dass das Kokain, das einem damals verkauft wurde, schlimmstenfalls aus dem Kalk bestanden habe, den die Dealer direkt im Club von der Wand gekratzt hätten, und im besten Fall aus Aspirin.
Das brachte ihn auf den Gedanken, just for the fun of it, ein paar Aspirin-Tabletten zu zerbröseln und durch die Nase zu ziehen. Vielleicht würde man sich fühlen wie früher. Ganz sicher würde man das Aspirin ohnehin brauchen, wenn er jetzt noch eine Flasche holen ging, denn der Merlot von diesem Hollywood-Regisseur war »ganz schön schön, oder?«.
»Sind wir jetzt in dem Alter, wo wir Weine schön nennen?«, fragte Alec. »Nicht mehr gut oder köstlich, sondern: schön?«
Richard sagte, Alec solle die Klappe halten, und ging noch eine Flasche holen, während Stefanie wusste, dass die Leute in Berlin immer noch in unvorstellbaren Ausmaßen Kokain nähmen, nur inzwischen nicht mehr in den Clubs, sondern, älter geworden, in den Restaurants, nach dem Essen, zum Teil vor dem Essen oder anstelle des Essens. Sie sprach von bestürzenden Begegnungen mit »weißhaarigen Ravern und Ü-vierzig-Girlies«, die dort mit leuchtenden Nasenlöchern auf einen einquasselten. Dankbar sollten sie alle sich bewusst machen, noch einmal davongekommen zu sein.
Charlotte war hin- und hergerissen zwischen den Unschulds-Erwartungen an eine Babysitterin einerseits und andererseits der typischen Kaputtheits-Sehnsucht einer Literaturstudentin aus grundbürgerlichen Verhältnissen. Am Ende erklärte sie dann lieber nicht, was sie selbst in dieser Beziehung alles schon hinter sich hatte. Aber sie erklärte den vier Älteren, was in dieser Hinsicht alles bereits als gestrig gelten müsse: MDMA, Kokain, LSD, selbst die ganzen Dschungeldrogen, derentwegen amerikanische Druffis bis vor ein paar Jahren noch in den Regenwald geflogen seien »wie andere nach Florida zum Spring-Break-Saufen …«. Nur und ausgerechnet das harte Heroin ließ sie gelten, nicht als desireable, aber als real. Immerhin gebe es eine handfeste Heroinepidemie unter Amerikas Landjugend. Unter den schwerreichen Trust Fund Kids an ihrer Ivy-League-Uni sei es allerdings ebenfalls wieder sehr populär.
»Die Schlaghose unter den Drogen«, stöhnte Richard.
Charlotte nahm es für die Dauer einer letzten Zigarette auf sich, dem alten Mann zu erklären, dass in den Modeboutiquen von Manhattan inzwischen wieder Sachen hingen, die selbst Janis Joplin zu blumig gefunden hätte. Dann rief Richard ihr ein Taxi.
Diese »beinahe noch Minderjährige« dürfe altklug von Rauschgiften daherreden, beschwerte sich Vera, als Charlotte weg war. Ihr als erwachsener Frau aber würden die Gläser in den Mund gezählt.
Das richtete sich nicht zuletzt an Alec, der immer unbehaglicher auf seinem Stuhl herumrutschte, je häufiger Vera zu ihrem Glas griff. Und er fühlte sich darin bestätigt, als Vera befand, dass es unterhaltsam sein könnte, wenn sie einmal erzählte, wie sie damals Alec gewollt und schließlich bekommen hatte, fern von Technoclubs, bei einer Podiumsdiskussion, den schönen, kritischen Amerikaner. Sie bezeichnete ihn als ihren Dean Reed.
Weder Stefanie noch Richard wusste, wer Dean Reed war, und Vera erzählte ihnen von einem anderen kommunistischen Amerikaner, den es nach Ostberlin verschlagen hatte, allerdings bereits in den Siebzigern. Der Mann habe gesungen, er habe in Filmen gespielt, aber vor allem habe er Haare gehabt: Haare wie die Nachmittagswellen da draußen am Atlantik. Solche Haare habe es im ganzen Ostblock nicht gegeben. Solche Haare habe es selbst in Westdeutschland nicht gegeben. So etwas kam nur aus Amerika, wie man auch an Alecs Locken sehen könne.
Richard schwenkte sein bauchiges Glas, als wäre der Wein darin ein Kreisel, den er in Bewegung halten musste. Stefanie hielt ihre Teetasse fest, als wäre die wiederum ein Ofen für die Hände. Beide nickten stumm.
Und Alec, dem wenig übrig blieb, als das alles irgendwie durchzustehen, Alec wurde nun von Vera gebeten, den Kopf zu senken, damit sie vorführen konnte, dass selbst diese Pracht ein Verfallsdatum habe. Vera wühlte in seinen Haaren und sagte schließlich triumphierend: »Da!«
»Was ist da?«, fragte Richard.
»Wird heller.«
Es sei hier draußen jetzt zu dunkel, um auf Alecs Kopf irgendetwas heller werden zu sehen, sagte Richard.
Alec durfte den Kopf wieder hochnehmen, und Vera fragte, ob Männer nie über ihre Haare redeten.
Sowohl Richard als auch Alec verneinte.
Es sei ihnen noch nicht in den Sinn gekommen. Warum auch?
»Weil sie ausfallen?«
Es stand ein Fragezeichen hinter diesem Satz. Hörbar war die Stimme nach oben gegangen, und zwar so, wie auch eine Messerklinge zur Spitze hin nach oben geht. Die Männer schwiegen. Es fiel ihnen nicht mehr ein, als mit den Schultern zu zucken.
Richard erklärte schließlich, er habe andere Sorgen, wirklich ganz andere. Aber Vera blieb unversöhnt. Ihre Ausführungen drehten sich um die Ungerechtigkeit des Alterns. Dass Männer weniger darunter zu leiden hatten, war empörend. Dass sie behaupteten, sich noch nicht einmal dafür zu interessieren, war noch empörender. »Ich werde mich umbringen«, verkündete sie, »wenn ich das erste weiße Haar entdecke.«
»Aber warum denn nur, liebe Vera?«, sagte Stefanie.
Über die »grauhaarigen Mütter von Park Slope« klagte Vera daraufhin und über den selbstgewissen Stolz, mit dem sie die Zeichen des Alters aus den Frisuren ragen ließen, als wären es heroisch im Rockkonzert des Lebens gerissene Saiten einer Gitarre, während sie mit ihren Kinderwagen über die Bürgersteige pflügten, dabei Chips aus Grünkohl in sich stopfend, schimpfte Vera, oder Kekse aus Quinoa. Sie fügte noch eine Verdammung von Picknicks im Park an »mit vom Wind herumgepustetem Plastikgeschirr«.
Was das mit grauen Haaren zu tun hatte, wollte Richard wissen.
Dass sie auf dem besten Weg seien, genauso zu werden, antwortete Vera.
»Wie zu werden?«
»Jugendlichendarsteller, die grau werden«, sagte Vera leiser.
Nachdenkliche Gesichter nickten ihr entgegen — nachdenkliche, aber auch ein wenig ratlose.