So selbstverständlich wie allen die Anwesenheit von Charlotte schon bald wurde, so beunruhigend empfand Stefanie das Ausbleiben ihres Kaunslers, der seine folgenden Visiten erst immer wieder verschoben und schließlich ganz abgesagt hatte. Am Ende beschloss sie, der Sache auf den Grund zu gehen und den Kaunsler dort zu suchen, wo er seine Stunden gab.
Sie regte an, dass Vera sie am folgenden Tag zu einem Yoga-Studio in der Stadt begleiten könnte, während die Männer vielleicht ins Gym oder zu Barry’s Bootcamp wollten … vielleicht sogar auch sollten. Richard verstand es so, wie es gemeint war: als Aufforderung, wieder ein bisschen in Form zu kommen. Er seufzte bei dem Gedanken an die Strapazen, die das bedeuten würde. Alec hatte bei der Vorstellung ebenfalls einen unwilligen Ausdruck auf dem Gesicht. Bei ihm genügten Gedanken an den Geist und den Geruch, der in den Männerumkleiden von Fitnessstudios herrschte. Vera hingegen erklärte kategorisch, kein Mensch kriege sie in ein Yoga-Studio. Wenn schon Sport, dann wollte sie sich auch bewegen. Sie machte den Gegenvorschlag, dass sie mit Richard ins Bootcamp ging. Dadurch blieb Richard nichts anderes übrig, als sich ebenfalls darauf zu freuen, und Alec sagte: »Dann komm ich eben mit zum Yoga.«
Aber ein Asana wie Parivrtta Ardha Chandrasana war für Alec nicht nur nicht so einfach auszusprechen, wie Stacy — so hieß die Yoga-Lehrerin — glauben machen wollte, es war ihr auch nicht so einfach nachzumachen: Alec begann mit dem gedrehten Dreieck und stellte die Beine etwa anderthalb Yards weit auseinander. Er setzte die linke Hand an die Außenseite des rechten Fußes, und den rechten Arm streckte er nach oben. Er blickte zum Boden, auf den es von seiner Stirn her hinuntertropfte. Dann beugte er leicht das rechte Knie, hob das linke Bein an, streckte es nach hinten, wobei die Vorstellung half, es gegen eine Wand zu stoßen, drückte dann auch das rechte Standbein wieder durch und versuchte, das Gleichgewicht zu finden. Seine dicke baumwollene Jogginghose wurde allmählich feucht. Ihm war ein Rätsel, wie Vera das nicht schweißtreibend genug finden konnte. Am Ende schob er den rechten Arm nach oben und schloss vor Schmerz die Augen, was aber nur noch weiter Aufmerksamkeit darauf lenkte, wie sehr sowohl Rectus als auch Transversus abdominis, Latissimus dorsi und Serratus anterior an die Grenze des Zerreißens in die Länge gestreckt wurden, während Biceps femoris, Obliquus externus sowie natürlich der Obliquus internus in ihrer Kontraktion zu flattern begannen wie Wäscheleinen im Wind.
Noch vier, noch drei, noch zwei Atemzüge, rief Stacy da vorne unter dem gewaltigen »OM« aus dekorativen Schriftzeichen in einem Kreis, das über ihnen an der Hallenwand prangte und Alec an das Logo eines Konzerns oder einer Partei denken ließ. Er hatte Fernsehberichte über asiatische Autohersteller vor Augen, die ihre Belegschaften zum Morgensport antreten ließen, und wenn er Stacy sah, musste er an die Schauspielerin Jane Fonda denken, die damals, als er selbst noch ein Schuljunge gewesen war, eine rhythmische Gymnastik in engen Leggins und dicken Stricksocken populär gemacht hatte, die sich Aerobic nannte. Die Discomusik, zu der damals geturnt wurde, hätte ihm jetzt besser gefallen und beim Durchhalten des Parivrtta Ardha Chandrasana auch mehr geholfen als die Musik, die Stacy laufen ließ, denn die kam ihm vor wie das beruhigend gemeinte Gezwitscher im Ruheraum einer Hotelsauna. Geblieben waren immerhin die hautengen Leggins. Seine eigene inzwischen vom Schweiß umfassend durchtränkte Baumwollhose hing wie ein Zusatzgewicht am ausgestreckten Bein, das er aus seiner Sicht vorbildlich hochhielt, auch wenn es von außen betrachtet fast schon den Boden berührte, als Stacy die Klasse endlich erlöste.
Sie lobte, dass dieses Asana entgifte wie kaum ein anderes, abgesehen vom Parivrtta Utkatasana, das ähnlich schwer auszusprechen und ähnlich schwer zu machen war.
Stefanie weigerte sich, überhaupt irgendetwas mitzumachen.
Sie weigerte sich, sagte sie, Stacys Autorität als Lehrerin anzuerkennen.
Wo der Kaunsler stecke, hatte sie gleich beim Reinkommen gefragt, entgeistert, dass sie statt seiner diese Stacy vorfinden musste. Aber der Kaunsler und das Yoga-Studio hatten beschlossen, getrennte Wege zu gehen. So hatte das Stacy formuliert. Auf die scharfe Nachfrage von Stefanie, warum sie das beschlossen hatten, war nur etwas Vages von unterschiedlichen Vorstellungen zu erfahren gewesen.
Was das heißen solle. Stefanie war für ihre Verhältnisse beinahe laut geworden, und Stacy hatte sich mit einem entschlossenen Hieb auf einen Gong vor ihr in den Beginn ihrer Stunde gerettet.
Währenddessen setzten Richard und Vera ihre Füße ein wenig eingeschüchtert auf die Laufbänder von Barry’s Bootcamp am Montauk Highway in Southampton. Dunkel war es in dem kleinen Raum, bewegliche Discoscheinwerfer schüttelten ihre Lichtstrahlen wie aus der Gießkanne herum. »Schade eigentlich«, sagte Richard, »um das schöne Wetter da draußen.«
Ihr Trainer hieß auf Englisch so, wie sie sich auf Deutsch fühlten, seit sie den Raum betreten hatten: Matt.
Matt hatte einen breiten Kiefer mit scharf ins Kinn gehauenem Grübchen und eine breite, seitlich über den Rumpf ausgreifende Brust, dafür war sein Becken so schmal, als hätte er es seit der Kindheit mit Bandagen eingeschnürt. Er kam in den Raum gesprungen wie auf eine Bühne. Solche wie Matt, erklärte Richard, kamen immer aus Ohio oder Nebraska. Man treffe sie eigentlich eher in Los Angeles, als Kellner in Restaurants, wo sie die Zeit bis zur Karriere beim Film überbrückten, oder eben als Trainer in Barry’s Bootcamp, einer Kette aus Hollywood, deren Gründer, mutmaßlich hieß er Barry, von Richard zum Genie erklärt wurde: Hatte nicht genug Platz für ein richtiges Fitnessstudio, hat er halt alles schwarz gestrichen und die Lichtorgel einer Disco reingebaut. Es gab eine Reihe mit Laufbändern, es gab eine Reihe Matten mit Steppbrettern, und vor allem gab es Matt. Das Konzept war, nicht wie bei anderen Sportstudios, die sich Bootcamp nannten, einen Trainer hinzustellen, der so tat, als sei er ein Militärausbilder, indem er die Leute anschreit, er werde ihnen den Hintern aufreißen, was er am Ende aber gar nicht könne, erklärte Richard, weil sie nicht seine Untergebenen sind, sondern seine Kunden. Das Konzept bei Barry’s Bootcamp war, Trainingsziel und Antreiber in eins zu setzen und der Kundschaft einen von antiken Bildhauern handgemeißelten Adonis hinzustellen, der exakt das war, was die Männer hier werden und die Frauen haben wollten. So jedenfalls sah das Richard.
»Schluss mit dem Geschwatze«, rief Matt und klatschte in seine großen, muskulösen Hände. »Let’s — get — crackin’!«, rief er, immer noch klatschend, und wandelte mit großen, federnden Schritten durch den Raum. Die Gruppe auf den Laufbändern stellte bitte für die erste Minute eine Geschwindigkeit von 3,9 miles per hour ein, die Gruppe auf den Matten begann mit Sit-ups. Im Minutentakt wurden die Geschwindigkeiten von Matt nach oben gesetzt: 8, 11, 13 Meilen pro Stunde …
»Go!«, schrie Matt. »Gogogogo-goooo!« Dann klatschte er wieder laut vor dem Körper in die Hände, wobei seine Oberarmmuskulatur vorteilhaft zur Geltung kam. Die Gruppe auf den Laufbändern durfte jetzt wieder runterschalten. Aber nicht wieder bis runter auf 3,9 sagte er zu Richard, sondern auf 5,4. Matt sah alles, auch die kleinsten Schummeleien. Dabei gab er gleichzeitig der Gruppe, die währenddessen die Bauchmuskelübungen auf den Matten zu machen hatte, ihre Kommandos: ein General, der gleich zwei Armeen zu befehligen hatte. Wieder auf 8. Und dann wieder auf 11, wer kann, 13. Die eigentliche Perfidie, fand Vera, bestand darin, dass die Laufbänder allesamt an einem Spiegel aufgestellt waren. Matt befahl ihnen, in den Spiegel zu schauen, sich in die Augen zu blicken. Er fragte: »Siehst du da jemanden, der es in sich hat? Siehst du da jemanden, der gleich noch einmal 60 Sekunden auf höchstem Tempo gehen kann?«
Sie sahen so jemanden, wenn sie ehrlich waren, nicht.
»Doch!«, schrie Matt. »Ihr seht, dass es in euch steckt.«
Mit einem Satz sprang er zwischen Richard und Vera, stand mit den Füßen auf den unbeweglichen Rahmen der Laufbänder und predigte den Schmerz, während er sich nun auch selbst im Spiegel betrachtete. Den Schmerz predigte Matt. Den Schmerz lobte er. Den Schmerz feierte er, indem er seine Zähne bleckte, als wolle er sich von ihrer makellosen, sandgestrahlten Weißheit überzeugen.
»Ohne Schmerz gibt es nichts«, rief er. »Nichts im Sport. Nichts im Beruf. Nichts in der Liebe.« Er war also, vermerkte Vera, auch noch ein Eheberater, der Matt. Den beiden Deutschen blieb nichts anderes übrig, als auf Höhe seiner Schultern im Takt ihrer Schritte mit dem Kopf dazu zu nicken. Sie gaben sich Mühe, in ihren eigenen Spiegelbildern etwas Ermutigenderes zu sehen als zwei Untote, die mit verschleiertem Blick auf sie zugetaumelt kamen.
Mit Herzen, die ihnen bis in die Kehle hoch schlugen, freuten sie sich jetzt geradezu darauf, gleich auf die Matten wechseln zu dürfen, um sich dort wieder ein wenig zu erholen, bei Rumpfbeugen und Liegestützen und Klappmessern, und wie derlei Übungen zu ihrer Schulzeit geheißen hatten, als noch Männer in Trainingsanzügen mit Trillerpfeifen das Sagen hatten.
Aber noch trieb Matt sie auf dem Laufband an. Auf der Tretmühle. Während das Band unter ihr gnadenlos ihre Füße bewegte, dachte Vera mit leerem Blick immer wieder das Wort treadmill, und sie dachte daran, dass das Wort auf Deutsch als Tretmühle, allerdings auch als Hamsterrad zu übersetzen war.
Noch mal von 8 auf 11, rief Matt. »Wer will und kann: 13.«
Richard stellte auf der Konsole seines Laufbands die Geschwindigkeitsstufe 14 ein. Als das Band entsprechend beschleunigte, konnte er nicht mehr mithalten. Ihm fehlte die Kraft. Seine Beine flogen nach hinten weg, sein Oberkörper sackte nach unten, sein Kinn schlug auf, schließlich entsorgte das Band Richard Maulers Leib mit einem dumpfen pflump aus der Maschine …
»Nix passiert«, rief Richard, nachdem er sich mit Matts Hilfe wieder aufgerappelt hatte. »Nix passiert«, rief er. Als ob nicht alle soeben genau das Gegenteil gesehen hätten.