Der Kaunsler erschien nun auch an den folgenden Tagen nahezu mit der gleichen Regelmäßigkeit wie Charlotte. Oft lagen jetzt sechs Erwachsene am Pool. Richard sah es so: Der Hofstaat auf der Mauler Mansion, wie er seinen Bungalow manchmal nannte, umfasste nun eben auch eine Amme und einen Beichtvater. Vera hätte auf beides lieber verzichtet, aber was sollte sie machen als nichtzahlender Gast. Alec hingegen verfolgte beides mit einer Art von zoologischem Interesse. Er machte sich fortwährend begeistert Notizen, denn das alles schien seinem Buch sowohl Wendungen ins Heute wie ins Überzeitliche hinzuzufügen. Aber er gab dem Kaunsler keinen Anhaltspunkt, ihn einzeln so ins Gebet zu nehmen wie Richard. Alec bestätigte einfach fast immer, was der Kaunsler sagte, hatte es schon anderswo einmal so ähnlich gelesen, konnte teilweise sogar die Stellen benennen. Der Kaunsler pries »nonduale« Erfahrungen und die Empfindung der »Oneness« mit dem Universum, Alec hielt einen Vortrag über die seiner Ansicht nach eher öden Denktraditionen des Monismus. Der Kaunsler offenbarte, dass die Büsche am Gartenrand in Wahrheit Götter seien, und Alec erging sich in Ausführungen zu Wurzeln und Wucherungen des Pantheismus. Der Kaunsler mahnte Stefanie zu noch radikaleren Fastenkuren als bisher, um, wie er es nannte, die »Schlacken« aus dem Körper zu jagen, kombiniert mit der reinigenden Einnahme von Eigenurin; die Kinder kreischten bei der Vorstellung mit wohligem Ekel auf, Vera bemerkte kühl, dass sie das nicht tun würde, weil der Urin selbst bereits die Aufgabe habe, Überflüssiges auszuspülen, und Alec war geradezu hingerissen davon, dass ausgerechnet, wie er nun wiederum ausführte, zivilisations- und technikkritische Denkmuster zu der bemerkenswert mechanistischen Vorstellung vom menschlichen Körper als Hochofen geführt hätten.
Dem Kaunsler schien das zwar nicht zu behagen, aber mehr, als dass er keinen Notar brauche für seine Lehren, sagte er dazu nicht. Denn auch wenn Alecs Fußnoten seinen eigenen Verlautbarungen die Originalität prophetischer Verkündigungen nehmen mochten, so unterfütterten sie sie doch mit einer Art historischer Beglaubigung. Insofern konnte er Alec beinahe dankbar sein für seine Besserwissereien. Nur manchmal forderte er ihn auf, diese Dinge nicht nur zu lesen, sondern zu wissen, zu fühlen, sie von ihrer Innenseite her anzuschauen und nicht immer nur von außen. Er sei doch viel zu intelligent, um sich mit Archäologie zufriedenzugeben, sagte er Alec, den Blick auf seine Stirn gerichtet. Sein Atem sei allerdings zu flach, attestierte er ihm. Er konnte ihn nicht hören oder sehen. Atmete Alec überhaupt? Dem Kaunsler gelang es jedenfalls nicht, sich mit ihm zu synchronisieren. Alec bemerkte und genoss das.
Wenn auf einer Skala der möglichen Einstellungen gegenüber dem Kaunsler Stefanies pfingstliche Begeisterung einen Wert von 10 repräsentierte, dann hatte sich Richard wegen der Sache mit den Autos und auch dem Familienfrieden zuliebe allmählich in Richtung einer friedlichen 5 bewegt. Vera fand, dass der Mann immerhin weniger missionarisch agierte als seine Jüngerin Stefanie, daher: 4. Alecs geradezu wissenschaftliche Faszination für das Phänomen, mit dem er es hier zu tun bekommen hatte, ließ ihn zwischen 2 und bis zu 8 oszillieren. Stabil im Minus-Bereich dieser Skala hielt sich nur Charlotte, die den Mann konstant und unverblümt immer nur mit dem englischen Begriff »the creep« anredete: »The creep is here again, everybody«, »Hat den creep schon wieder eine Biene gestochen?«, »Die Bienen waren doch die Idee von dem creep, oder etwa nicht?«.
Stefanie hatte sie erst zur Rede stellen wollen, aber der Kaunsler hatte das unterbunden. Da sprächen Traumata, denen nicht mit Geboten der Höflichkeit beizukommen sei, erklärte er ihr. Da warte tiefere Arbeit. Seitdem schien auch Stefanie die Ausfälligkeiten Charlottes nicht nur hinzunehmen, sondern regelrecht zu goutieren, so als prädestinierten die sie für besonders dramatische Läuterungen und Erweckungserlebnisse.
Wenn Stefanie und der Kaunsler durch die Büsche strichen, um die Pflanzungen zu inspizieren oder ihre Gymnastikübungen zu machen, dann erzählte Charlotte den anderen im Flüsterton, dass der Yoga-creep bis vor wenigen Jahren ein Marketing-creep gewesen sei, mit kahl geschorenem Kopf und runden Brillengläsern und Hosenträgern und bunter Fliege. Sie erzählte, dass der creep einen gewissen Ruf habe in den Hamptons, wenn Stefanie nicht in Hörweite war und der Kaunsler wieder in seinem Tesla saß, um bei anderen Klienten zu weilen und zu wirken. Und als er an einem der folgenden Tage wieder auftauchte, sprach sie ihn offen darauf an, wie die Geschäfte eigentlich liefen hier draußen, seit man das alles eigentlich nicht mehr machen könne.
»Was kann man alles eigentlich nicht mehr machen?«, wurde sie gefragt.
Daraufhin tat Charlotte so, als habe sie es mit Leuten zu tun, die hier draußen ganze Revolutionen verschlafen haben, so wie einst der gute Rip van Winkle. »Hallo?«, rief sie in der Art von pubertierenden Töchtern, die nicht glauben können, was ihre Eltern alles nicht wissen. »Yoga, nur mal so zum Beispiel?«
Die anderen hatten in der Tat noch nicht vernommen, dass man Yoga »nicht mehr machen könne«. Ihrem Eindruck nach machten es eher immer mehr Leute.
»In Ohio vielleicht«, erklärte Charlotte. »Oder in Europa.« Aber in New York und in Los Angeles mehrten sich einerseits die Proteste gegen sexuelle Belästigungen durch die Yoga dudes mit ihren hochgesteckten Duttfrisuren. Auf der anderen Seite protestierten indische Yogi und Studentenverbände gegen die kulturelle Enteignung durch white people, middle aged und middle class in zu engen Fetisch-Outfits, erklärte Charlotte und hob die Hände, als wollte sie sagen: Damit war es das für die Sache, aus, vorbei, nicht mehr zu retten.
Der Kaunsler wollte das nicht sofort kommentieren. Er bat Charlotte, erst einmal weiterzusprechen. Man musste jungen Menschen beim Entwickeln ihrer Gedankengänge Raum lassen. Was hatte sie noch vorzubringen?
Die halluzinogenen Meditationsmittelchen aus den Wüsten und Regenwäldern Lateinamerikas, die ein paar Jahre lang wildly in Mode gewesen waren unter den wohlhabenderen ihrer Freunde in Manhattan, waren Charlotte zufolge ebenfalls zu einem Problem geworden: »Cultural appropriation, Flugscham, you name it.«
Stefanie hatte hier entschieden etwas einzuwenden. Aber der Kaunsler legte ihr sanft die Hand auf den Arm und schüttelte den Kopf. Dann schaute er Charlotte an und schenkte ihr den beglückten Blick eines Lehrers, der durch flankierende Schweigsamkeit dem Schüler geholfen hat, ganz von selbst auf dem Pfad der Erkenntnis voranzukommen. »Sie hat vollkommen recht«, verkündete er. Es breche ein neues Zeitalter an. Die Dinge wandelten sich. Eine Zeit der Reinheit ziehe auf. Die Ära des Synkretismus gehe vorüber. Noch sei die Welt voll von falschen Propheten und Scharlatanen, von Figuren, die wahllos östliche Heilslehren mit südlichen Ritualen vermengten, um damit die Spiritualitätsbedürfnisse eines westlichen Publikums zu bedienen, dem die eigenen religiösen Traditionen zu fad geworden waren. Das sei wie mit dem Essen, predigte er, Kobe-Rind und Erdbeeren im Winter …
Vera konnte ihm nicht mehr folgen. Es machte sie auch nervös, dass der Mann während seiner Ausführungen immerzu am Beckenrand auf und nieder schritt.
Sie lehnte sich auf ihrer Liege zu Alec hin, der neben ihr, die Augen geschlossen, in der Sonne briet, und bat ihn, er solle ihr erklären, was Synkretismus ist. Alec sagte aber ebenfalls, das sei wie mit dem Essen. Das sei wie mit dem »Bavarian Beergarten« bei ihnen in Brooklyn um die Ecke, wo die Mexikaner in der Küche Jalapeño ans Sauerkraut taten. Genau das sei aber doch das Reizende daran, befand Vera. Anders als so sei ein Bavarian Beergarten gar nicht auszuhalten. Deswegen doch Amerika: Schmelztiegel, Salad Bowl und so weiter.
Der Kaunsler mochte es nicht, wenn während seiner Predigten geschwatzt wurde, und hielt inne, bis er wieder die Aufmerksamkeit aller hatte. Gleichzeitig griff er Veras letzte Worte auf. »Woher kommen wir eigentlich? Was steckt in uns drin?« Und dann: »Richard, du zuerst!«
Alec staunte, dass sein eigentlich doch sehr eigensinniger Freund sich widerstandslos zu solchen Mitmachspielen bewegen ließ. Aber Richard Mauler, der sich eine Tüte Kartoffelchips aufgerissen hatte und sie im Mund krachen ließ, erklärte freimütig, er sei Berliner, so wie alle Maulers immer schon Berliner gewesen seien, sofern sie nicht »von sonst wo« kamen.
Vera hatte ihre Wurzeln einerseits »im Thüringischen«, andererseits hoffte sie, dass die vielen Auslassungen auf der mütterlichen Seite im sogenannten Ahnenpass ihres Großvaters aus der Nazizeit darauf hindeuteten, dass vielleicht doch irgendwann irgendwo bitte auch mal irgendwer nicht ganz so bedrückend kerndeutsch gewesen sein könnte. Dabei stand sie auf, ging an dem wie ein Bademeister dort Wache stehenden Kaunsler vorbei zum Beckenrand, köpfelte lang hinein und tauchte in einem Zug bis zum anderen Ende durch, als wolle sie etwas abwaschen.
Stefanie schließlich verkündete, sie sei auf dieser Welt gewissermaßen nur »auf Durchreise«. Denn sie war in Darmstadt geboren, was sie trotz der landschaftlichen Reize und der berühmten Jugendstilbauten dort als Zumutung empfand. Sie gehöre nicht wirklich auf diese Welt, beteuerte sie. Insofern sei das mit Darmstadt auch nicht wirklich von Bedeutung; es war nichts als eine Stelle der Erde, die zufällig ihr Fuß berührt hatte auf ihrem Weg durch die Zeiten. Sie schaute zu dem Kaunsler, der sie einst gelehrt hatte, die Dinge so zu sehen.
Aber der Kaunsler selbst sah die Dinge inzwischen ein bisschen anders. Er nahm nun auf Veras frei gewordener Liege Platz, im Schneidersitz, und schüttelte das Haupt. Im Lichte der neuen Manifestationen des Zeitwollens, sagte er, sei Herkunft womöglich doch wieder ein wenig relevanter. Zwar bestand auch er fraglos vor allem aus kosmischer Energie, aber seine aktuelle Inkarnation hatte offensichtlich aus Gründen bei Wien Form angenommen. Und das Stück Boden, auf den man da von der Vorhersehung gestellt worden sei, der sei offenbar doch von Bedeutung.
»It matters«, sagte er. »It really matters.« Und dann noch einmal: »It does matter.«
»There we go again«, seufzte Alec. Er sei ebenfalls zur Hälfte zum Hackenzusammenknallen deutsch, verkündete er dann. Zur anderen Hälfte allerdings dänisch, italienisch, jüdisch, schottisch, portugiesisch, persisch, kapmalayisch sowie, wenn er den Ergebnissen seiner Anfrage in den Gen-Labors von »Ancestry.com« glauben durfte, zu exakt 1,3 Prozent auch ostafrikanischen Ursprungs, weshalb es im Übrigen ab sofort auch nicht mehr in Ordnung sei, wenn Vera ihm dauernd in die Locken fasste.
Aber Vera, die, noch nass und kühl, an seinem Kopfende Platz genommen hatte, strich ihm selbst währenddessen selbstvergessen durch die Haare, weil die Worte »bei uns in Park Slope um die Ecke« und »italienisch« sie erstens daran erinnert hatten, dass ihre Vermieterin Jo jetzt dauernd bedrohliche Textnachrichten schrieb — und dass, zweitens, Jo nur deshalb Jo genannt wurde, weil sie eigentlich Giovanna hieß und eine der letzten Vertreterinnen der alten italienischen Familien Brooklyns in der Straße war. Natürlich hieß es, dass sie aus einer Mafia-Familie stamme. Und natürlich war Vera manchmal überzeugt, dass das stimmte. Vor allem dann, wenn Jo ihr in no uncertain terms mitteilte, dass Veras Airbnb-Mieter Ferkel seien, die den Müll nicht rausbrächten. Und wer ihr überhaupt erlaubt habe, die Wohnung über Airbnb unterzuvermieten. Sie jedenfalls nicht.
»Sorry«, sagte sie, während sie hochfuhr, zu dem irritiert innehaltenden Kaunsler. Alles das sei wirklich sehr interessant und spannend. »Aber ich habe gerade ein Problem, das mattert noch mehr.«