Schon wieder saß Richard Mauler mit jemandem im Auto, schon wieder erklärte er durch die Windschutzscheibe die Welt. Erwies er sich damit als die Sorte von Mann, die der Denker Baudrillard meinte, als er das Automobil den Ort genannt hat, an dem der Familienvater der Industriemoderne sich am heimischsten und sichersten fühlt, auf halbem Weg zwischen den Zumutungen der Arbeit sowie denen, die zu Hause auf ihn warteten? Alec behauptete das. Aber Richard fand, Alec könne ihn mal mit diesem Bo Trilliart. Den habe er sich nur aus den Fingern gesogen, um Charlotte zu beeindrucken, und die habe nicht einmal Notiz davon genommen. Während er dies sagte, hatte er Alec mit der Rückseite seiner rechten Hand ein paarmal auf den Brustkorb geklopft, bevor er losgefahren war.
Außerdem saß diesmal gar nicht Alec auf dem Beifahrersitz, sondern Vera.
Sie mussten beide für einen Tag zurück in die Stadt, Richard wegen eines Gesprächs mit seinen Banken, und Vera, um das Problem mit ihren Airbnb-Gästen zu lösen, bevor ihr selber gekündigt wurde. Es war auch nicht der Mercedes, den hatte Richard dagelassen, mitsamt der Parkgenehmigung, damit die Zurückbleibenden an den Strand fahren konnten. Vera und er saßen im Dodge. Es war Vera peinlich gewesen, in dem wirklich sehr roten, sehr breitmäuligen Muscle Car Platz nehmen zu sollen: Die beiden Lufthutzen auf der Motorhaube kamen ihr vor wie die Nüstern eines Gorillas, die Scheinwerfer, die bei anderen Autos an Kulleraugen erinnern konnten, saßen hier wie tropfende Fangzähne am Rande des Rachens … Entschuldigend hatte sie aus dem Beifahrerfenster geschaut, als Richard den Motor im Leerlauf schon mal aufheulen lassen und den winkenden Rest der Truppe schließlich in einer Wolke aus Rauch und Staub versenkt hatte. Aber schon wenige Kurven später begann sie allmählich die Hand vom Nothaltegriff über ihrer Tür wieder zu lösen. Sie wurde von diesem Monstrum weder zur Seite geblinkt noch überfahren, stattdessen saß sie drin wie aufgefressen und wurde allmählich, Meile für Meile, von dem Wagen verdaut: Gemessen an dem Gebrüll vorne unter der Motorhaube, ließ es sich ganz gemütlich sitzen hier drin, das musste sie zugeben, und Richard fuhr gerne, also fuhr er auch sicher. Sie fragte sich nur, was Stefanie dazu sagte, sie konnte sich nicht vorstellen, wie es Stefanie ging, wenn sie an ihrer Stelle in diesem Sitz saß. Aber Richard tat so, als verstünde er die Frage gar nicht, als frage er sich, was es da zu fragen gebe. Stefanie habe gewissermaßen von ihm verlangt, den Wagen zu kaufen. »Stefanie wollte, dass du in so einer Angeberkarre zum Bioladen fährst?« Vera musste lachen. Die Einkaufsliste, die Richard überreicht bekommen hatte, war ähnlich lang wie die Liste an Vorwürfen über die Untermieter, die Vera von ihrer Landlady Giovanna übermittelt worden war.
Richard fand das eher konsequent: beides hochpreisig, beides elitär. Er selbst weigere sich nur, in die, wie er sie nannte, »sektiererischen Rumpelbuden« zu gehen, die auf dem Ostzipfel von Long Island jene Dinge anboten, die Stefanies Ansprüchen genügten und alle entweder etwas mit »Green« oder »Earth« oder »Nature« im Namen hatten. Richard sagte, er ertrage den »rechthaberischen Geruch« solcher Läden nicht, die »aggressive Sanftmütigkeit« des Personals schlage ihm auf das Gemüt. Lieber fuhr er all the way back into the city und kaufte in einem der großen Bio-Supermärkte ein, »sogar bei Whole Foods«, obwohl für sein Dafürhalten die Sachen bei Trader Joe’s genauso gut seien. Im wirklichen Leben fand er Trader Joe’s sogar besser, auf jeden Fall günstiger.
Vera fand Trader Joe’s »okay«, mochte aber noch lieber Fairway, vor allem den großen Fairway unten in Red Hook am alten Hafen von New York, wo ihr die Augen so übergegangen waren wie zuletzt nach dem Mauerfall in ihrem ersten Westberliner Edeka: »Zwei, drei, vier Regalmeter Brokkoli, die so drapiert sind, dass man meint, man fliegt über den Regenwald.«
Draußen flog währenddessen trockener Mischwald am Fenster vorbei, und Vera musste kurz daran denken, dass die transportablen Klimaanlagen, wenn sie nicht korrekt eingesetzt waren, durch ihr Getropfe das Holz ihrer Fenster aufquellen ließen, und ihre Fenster waren immer noch Giovannas Fenster, und aufgequollene Fenster gehörten noch nicht einmal zu den vielen Dingen, die Giovanna in ihren Beschwerden bemängelt hatte. Richard war währenddessen immer noch mit seiner Einkaufsliste beschäftigt. Nicht, dass er geizig wäre, hörte sie ihn sagen, das wisse ja hoffentlich jeder, nur ein bisschen wirtschaftlich müsse man ja auch mal denken.
Vera bestätigte ihm, dass er nicht geizig war. Sie gab ihm ebenfalls recht darin, dass man ein bisschen wirtschaftlich denken müsse.
Er zahle, erklärte Richard, manchmal sogar gerne auch Apothekenpreise für seine Äpfel, wenn die sanft mit Wasserdampf beregnet werden und zusätzlich noch mit Violinkonzerten von Vivaldi wie bei Dean & DeLuca auf dem Broadway.
Vera sah bei diesen Worten die transportablen Klimaanlagen, die bei längerem Betrieb durch das Geruckel in ihrem Inneren durchaus auch von allein verrutschen konnten, sehr deutlich die Fensterbretter ihrer Brooklyner Wohnung beregnen.
In dem Union Market bei ihr in Park Slope würden die Äpfel zusätzlich zum Wasserdampf mit Jazz beregnet, sagte sie, Jazz von der Sorte, wie Richard sie möge.
Die Kette der Union Markets kannte Richard gar nicht, die würde er sich merken, rief er, zumal Dean & DeLuca, wie er höre, wohl ein bisschen aus dem Tritt gekommen sei zuletzt: Die mit Vivaldi beregneten Äpfel schienen sich nicht mehr zu rechnen; die offensichtlich mit Diplomen in Olivenöl-Studien, Schinkenkunde und Brotkonsistenz ausgestatteten Fachberater waren vermutlich zu kostspielig geworden.
Vera rief: »Brot-Konsistenz?« Und: »Are you kidding me?« Brot sei wirklich das Einzige, was bei ihr Heimweh nach Deutschland auslöse. Brote in Amerika seien von ihrer Konsistenz allesamt wie Gummi, erklärte sie, egal, wie teuer, und egal, wie vielversprechend von außen. »Die springen wieder hoch, wenn du die fallen lässt.«
Sie lachten, während sie in den Montauk Highway einbogen, woraufhin Richard, nur um es mal vorzuführen, kurz dermaßen beschleunigte, dass Veras Kopf gegen die Nackenstütze gepresst wurde. Anschließend berichtete Richard von einer Portion Sushi, die Stefanie einmal in einem Bio-Supermarkt in Venice, Kalifornien, erstanden habe: »Aus braunem Reis. Und der Lachs obendrauf sah aus, als wäre er aus Mohrrüben.«
Er sprach von dem beseelten Lächeln, mit dem die Leute dort, erleuchteten Jüngern gleich, durch die Regalreihen nicht gelaufen, sondern geschwebt seien, und zwar auf die strengen Engel an der Kasse zu, wo sie mit wütender Freude Summen bezahlt hätten, mit denen ein Ablasshändler täglich einen neuen Petersdom finanzieren könne. »Verrückt«, schloss Richard.
Gut und schön, befand Vera, nachdem sie sich ihre zerdrückte Frisur wieder einigermaßen gerichtet hatte. Gut und schön sei das, sagte sie, entschlossen, sich auf jedes Thema der Welt einzulassen, solange es sie einen Moment ablenkte von ihrer Vermieterin und ihrer Wohnung. Es sei aber nichts gegen das messianische Bewusstsein der Leute in der Park Slope Food Coop. Kannte Richard die berühmte Park Slope Food Coop?
»So eine Art DDR-Konsum?«, johlte der. »Nur in Brooklyn?«