Vielleicht, schrieb er ihr später, hätten sie doch noch ein bisschen länger auf den Uber-Fahrer warten sollen, dessen Auto-Symbol so zum Verrücktwerden stockend über den Bildschirm des Telefons gekrochen war, stehen blieb, es sich anders zu überlegen schien, zwischenzeitlich ganz verschwand, so dass sie die Bestellung schließlich storniert hatten. Vielleicht hätten sie ihr einfach ein ganz normales Taxi aus dem Ort rufen sollen. Und vielleicht hätte er nicht den Abstecher zum Reservat der Shinnecock Nation vorschlagen sollen, als Alec sie schließlich in Richards Mercedes nach Hause fuhr. Aber immerhin war Charlotte es gewesen, die ihre Füße auf das Armaturenbrett gelegt und, den Arm aus dem Fenster, nach Zigaretten verlangt hatte. Der Abdruck ihrer Zehen an der Windschutzscheibe war noch zu sehen, als sie ausgestiegen waren und zu den Hütten rüberliefen, die über und über mit bunter Tabakreklame bepflastert waren: ein Zeichenwald, wie es ihn in Amerika kaum noch irgendwo zu sehen gab, seit er weitgehend weggerodet worden war von Gesundheitspolitikern und Nichtraucherkampagnen. Charlotte bezeichnete den Ort begeistert als ein »Heterotop«, und Alec tat ihr den Gefallen, den französischen Denker zu kennen, von dem dieser Begriff stammte. Vielleicht hätte er ihr nicht anschließend auf den Kopf zusagen sollen, dass sie ganz einfach eine Schweizerin war, die lieber eine Pariserin sein wollte. Denn das schien sie zu provozieren, vermutlich weil etwas daran nicht ganz falsch war. Und vielleicht hätte er auch nicht vorschlagen sollen, in der sonderbaren Sports Bar, die dem Reservat gegenüberlag, einen Kaffee zu trinken zu den Zigaretten. Aber er hatte nun einmal das Gefühl, dafür verantwortlich zu sein, dass weder Sarah noch Scott, noch vor allem Stefanie Rauch in Richards Auto riechen musste, wenn sie morgen wieder alle zum Strand damit fahren würden. Und er hatte tatsächlich Lust auf einen Kaffee, denn unter Stefanies Regime bekam man ja keinen im Bungalow. Lust auf einen klassischen Filterkaffee hatte Alec auf einmal: amerikanisch dünn, aber in der Glaskanne auf der Kaffeemaschine über Stunden zu einer Art Motoröl eingekocht, das er in kleinen Schlucken aus einem dickwandigen Pott schlürfen würde, nachdem er sich draußen vor der Tür der Bar eine Zigarette angesteckt hatte.
Charlotte orderte aber ein Bier, denn um die Uhrzeit trinke sie doch keinen Kaffee mehr, sie hatte Feierabend, und es war Zeit für ein after work beer.
Er erinnerte sie daran, dass sie mit einem Bier in der Hand nicht rausgehen konnte zum Rauchen, und sie sagte, dass er sich da mal auf was gefasst machen könne. Denn es stimmte zwar, dass man drinnen nicht rauchen durfte und draußen kein Bier trinken, aber sie versuchte dieses rigide Entweder-oder dadurch in ein Sowohl-als-auch zu verwandeln, dass sie sich genau auf die Türschwelle stellte, das Bier in der rechten Hand befand sich drin, die Zigarette in der linken draußen, und ihr Kopf mit den zur Hälfte hochgesteckten, zur Hälfte in dicken Spiralen herunterhängenden Haaren wanderte auf ihrem gestreckten Hals mal zur einen und mal zur anderen Seite, während sie erzählte, dass sie sich mit ihren Euro-Freundinnen hier in Amerika manchmal auf die Eröffnungspartys im Museum of Modern Art schlich und sie dann im Museumsgarten kleine Wetten abschlossen, wie viele Züge sie schafften, bevor einer der Ordner sie aufforderte, die Zigaretten auszumachen.
Im Türrahmen der Sports Bar gegenüber vom Reservat dauerte es exakt zwei Züge, bis der Wirt angeschossen kam und — gar nicht unfreundlich, aber doch sehr bestimmt — klarmachte, dass das so nicht ginge, denn der Rauch zog rein in den Raum und störte. Dann musste sie das Bier eben, ohne zu rauchen, am Tresen austrinken, während sie vom Fernseher über der Bar mit den grellen Farben von Fox News angebrüllt wurden und von Ansagerinnen, die wie kandierte Äpfel aus dem Bild leuchteten, woraufhin Charlotte »Yes« rief, in ihrem französisch gefärbten Englisch: »Give me my news with a pair of tits and ass, please!«
Der Wirt schaltete um, kurz waren die vergleichsweise fahlen Farben des öffentlichen Fernsehens zu sehen, und eine Stimme sagte »Bikram has healed and helped tens of thousands of people at minimum — and it has also hurt and destroyed thousands of lives«, bevor der Wirt mit seiner Fernbedienung wieder umschaltete und dabei einen Wirtschaftskanal streifte (»… and other things that might have an impact on your portfolio …«), bevor er endlich fand, was er suchte, nämlich Baseball, einen Sport, dessen Regeln und Reiz Charlotte nie verstanden hatte und den sie sich jetzt ein für alle Mal von einem Amerikaner erklären lassen wollte.
Vielleicht hätte Alec daraufhin etwas anderes sagen sollen, als dass es beim Baseball wesentlich darum gehe, irgendwann nach Hause zu kommen, vorher allerdings einen großen Bogen durch die Welt zu machen. Aber dann wiederum waren ihm die kleinen Gesten nicht entgangen, die um den Finger gewickelten Locken, die plötzlich über den Kopf erhobenen Arme, um an der Frisur etwas festzustecken, solche Dinge. Vielleicht hätte er trotzdem nicht den Vorschlag machen müssen, den Bogen ihres Nachhausewegs noch bis zu dem Liquor Store in Hampton Bays hin auszudehnen, wo es, wie er zufällig wusste, tatsächlich Champagner (Frankreich!) dauerhaft im Sonderangebot gab. Allerdings fanden sie beide, dass es in jeder Hinsicht unangemessen war, wenn sich ein middle aged Familienvater mit einer sehr viel jüngeren Studentin, noch dazu der Sitterin seines Kindes, mit einer Flasche Champagner zum Rauchen ans Meer setzte. Und nachdem das voreinander geklärt war, taten sie genau das und redeten dort über Balzac. Denn Charlotte kannte natürlich die wesentlichen Romane, aber Alec erzählte ihr von einem Essay, in dem Balzac offensichtlich den Alkohol und die Zigaretten und auch den Kaffee, kurz alles, was Stefanie neuerdings ablehnte, zum Treibstoff der Modernität erklärt habe. Charlotte fand das »spannend« und pustete ihren Rauch ins Alecs Gesicht, worauf der keine Reaktion zeigte, außer umgehend zurückzupusten, und dann zitierte er einen bekannten deutschen Filmkritiker mit der Aussage, dass Zigarettenrauch im Kino einst auch dazu da gewesen sei, die Lücke zwischen zwei Menschen zu füllen. Sie kamen überein, dass sie mit ihren Rauchwolken immerhin dem nahe kommen müssten, was in der Welt von Stefanie und ihrem Ratgeber als Aura bezeichnet wurde. Sie lächelten ein wenig über diese Welt, aber wirklich nur ein wenig, denn irgendwann bemerkte Charlotte, ganz beiläufig, dass der Kaunsler tatsächlich ein creep sei. Er habe sich an ihr einmal zu schaffen gemacht, an ihrem Wurzelchakra, um genau zu sein, ganz zu Anfang des Sommers, bei einem Yoga-Retreat in Montauk, und das habe er »nicht so richtig hingekriegt«, erklärte Charlotte. Manche dort hätten ihn danach fertigmachen wollen, weil er nicht nur ein alter Sack sei, der sich an jungen Frauen vergriff, sondern auch weil er ein weißer alter Sack sei, der sich an indischer Spiritualität vergriff. »Cultural appropriation«, nickte Alec, denn irgendwie musste er sich zu dieser Offenbarung ja verhalten, und in seiner Verblüffung entschied er sich dafür, nicht über den Kaunsler überrascht zu sein, sondern vielmehr darüber, dass Studentinnen vom Schlage Charlottes überhaupt angezogen wurden von solchen Veranstaltungen zwischen all den WASPs hier draußen. Alec sprach mit der Herablassung des älteren Marxisten von den Kämpfen junger, sprachsensibler »social justice warriors«.
Gerade in deren Kreisen stünden »nichtwestliche Wissensweisen« allerdings besonders hoch im Kurs, erklärte ihm Charlotte. Sie schien stolz, ihm nun unter die Nase reiben zu können, was er offenbar alles nicht mehr mitbekam: Selbst die neuheidnischen »Wicca«-Kulte seien wieder en vogue unter den jungen Verächtern der alten, weißen Männer und ihrer Welt- und Wirtschaftsordnung. An der wissenschaftlichen Rehabilitation von Helena Blavatsky werde längst gearbeitet. Auch die abstrakte Malerei sei neuen Forschungen zufolge gar nicht von Kandinsky erfunden worden, sondern von einer Spiritistin aus Schweden.
»Und dabei ist Kandinsky schon Horror«, sagte Alec.
Er nahm ihr die Flasche aus der Hand.
»Hat mich ein bisschen gewundert, dass das jetzt so lange gedauert hat«, erklärte sie amüsiert, als sich dabei leicht ihre Finger berührten, worauf Alec sofort die Flasche wieder losließ: »Jetzt fühl ich mich gleich wie ein creep.« Sie konnten das nicht weiter diskutieren, weil die Flasche dabei umgefallen war, der schöne Champagner schäumend in den Sand lief und nicht mehr zu retten war.
Nachher, als sie wieder im Auto saßen, ließ Charlotte deshalb auch den Korken der zweiten Flasche, die Alec gekauft hatte (»zwei zum Preis von einer« hatte das Sonderangebot gelautet …), zum Fenster hinaus knallen. Sie erklärte, dass sie die moralischen Empfindlichkeiten ihrer Kommilitonen inhaltlich nachvollziehen konnte, nur nicht immer die Form, das schrille Pathos der Aufschreie und shitstorms.
Sie war also keine Parteigängerin des Ancien Régime, fasste Alec, die Rechte am Steuer, die Linke aus dem Wagenfenster hängend, die Sache so französisch wie möglich zusammen, aber der klassizistische Ernst der Empörung war demnach auch nicht ihres. Sie schaue eher ironisch drauf, bestätigte Charlotte und nahm einen Schluck aus der Flasche. Alec sagte, dann sei sie nach Lage der Dinge der klare Fall einer Romantikerin. »Oh«, sagte Charlotte und zündete sich eine Zigarette an. Denn das war inzwischen auch egal, befand Alec.
Vielleicht hätten sie es dabei belassen sollen. Vielleicht hätte er sie in Sag Harbor einfach absetzen sollen und sich verabschieden bis morgen. Denn es war schnell Nacht geworden, und die schiere Dauer dieses Nachhausebringens musste in sich schon Fragen aufwerfen inzwischen. Aber dann kamen sie an dem Haus von John Steinbeck vorbei, und Charlotte wollte endlich wissen, warum Alec behauptet hatte, dass der Mann Horror sei. Und Alec hatte gar keine Antwort darauf. Die Wahrheit war: Gegen Steinbeck, den wackeren Sozialisten, war im Grunde wenig zu sagen, am allerwenigsten von ihm. Er las ihn nur nicht besonders gern. Und so zuckte er nur mit den Schultern, was immerhin auch als eine Geste durchgehen konnte, mit der die Sache als etwas Selbsterklärendes dastand, etwas, was bei genauerem Nachdenken außer Frage stand. Und Charlotte hatte tatsächlich ihre eigene Theorie: »Der hat in seiner Hochzeitsnacht hier eine komplette Stunde lang telefoniert«, sagte sie. »Und zwar mit seiner Geliebten.« So viel zum Thema Romantik. Ihr musste niemand was vormachen. Und Alec zuckte wieder mit den Schultern.
Er zuckte sogar noch mit den Schultern, als sie vor ihrer Tür angekommen waren und er ihr erklärt hatte, dass sie die letzten Meter nun allein zurücklegen müsse, dass er sie schlecht noch bis an die Wohnungstür bringen könne, wie das am Ende aussehe, wie bei Steinbeck womöglich.
Aber Charlotte erklärte, ganz matter-of-factly und so als sprächen sie über ihre Hobbys, dass sie in dem Fall lieber die andere Frau gewesen wäre und gebundene Männer gelegentlich ganz praktisch fände, weil: keine Illusionen, der Sex sei entfesselter als in Beziehungen, und für die Beziehungen wiederum sei es am Ende eher stabilisierend, wenn ein bisschen Reue herrscht.
Das wäre so ein entsetzliches Klischee, befand er. Und da lachte sie, als hätte er etwas außergewöhnlich Dummes gesagt. Der Kapitalismus reproduziere nun einmal laufend alte Rollenbilder, dann bohrte sie ihm den Zeigefinger in die Brust und sagte, das sei ein Zitat von ihm.
Vielleicht hätte Alec darauf irgendetwas Gescheites antworten und dann wieder ins Auto steigen sollen. Aber ihm fiel wirklich nichts Gescheites mehr ein. Also zuckte er stumm mit den Schultern und blieb einfach nur stehen: Musste sie jetzt entscheiden.
Sie könnten ja so tun, als wäre es ihr letztes Mal, erklärte schließlich Charlotte, und dann zog sie ihn einfach hinter sich ins Haus.