Hinter dem Schloss, einem modernen Bau im Renaissancestil, dehnte sich eine Rasenfläche mit vereinzelten Gruppen von Gästen, die beim Plaudern gelegentlich auflachend die Schultern zurückwarfen. Ein Kiesweg lief in Windungen über die Wiese und mündete in die kalksteinerne Umfassung eines Swimmingpools. Dorthin schritt Vera, und indem sie das tat, wurde ihr bewusst, dass sie einen Fehler begangen hatte.
Dabei hatte sie sich schon den ganzen Tag über in einem Maße gefreut, wie sie sich zuletzt als Kind auf Weihnachten gefreut hatte, und auch der Gedanke daran, dass Weihnachten zu diesem Zeitpunkt nur noch vier Monate entfernt war, hatte ihre Laune nicht eintrüben können, jedenfalls nicht über die Maßen.
Nur jetzt, als es sozusagen Zeit für die Bescherung war, musste Vera feststellen, dass sie bei all ihrer Vorfreude, möglicherweise sogar wegen dieser Vorfreude einen wirklich fatalen Fehler gemacht hatte. Im Rückblick war sie nur mit sich selbst uneinig, wann genau er ihr unterlaufen war: in dem Augenblick, als sie feierlich die Pumps mit der roten Sohle aus dem Koffer gehoben hatte — oder bereits in dem Moment, in dem sie diese zum Totlachen hohen und zum Heulen teuren Schuhe erstanden hatte. Jetzt kam dazu noch die Scham, dass sie sich unter dem Eindruck einer Fernsehserie dazu hatte hinreißen lassen, die im Wesentlichen eine Satire auf die Behauptung gewesen war, dass Frauen ihres Alters das Lebensglück, zumal in New York, nicht anders als auf sehr hohen heels mit sehr roten Sohlen finden könnten. Selbstverständlich hatte Vera auch damals gewusst, was sie von so etwas zu halten hatte und was Alec von so etwas halten würde, das wusste sie erst recht. Aber dann hatte sie sich eines Tages, eines besonders frustrierenden Kliniktages, kurzerhand selbst damit beschenkt: Sie hatte sich die roten Sohlen zur Versöhnung mit dem Dasein gegönnt, so wie an anderen Tagen einen roten Wein, nur ohne das gleiche Maß an Gratifikation. Denn seitdem hatten diese Schuhe die meiste Zeit in jeweils einem hübschen kleinen Säckchen auf den angemessenen Anlass warten müssen. Viel zu selten hatte es mal einen gegeben, und jetzt, wo der Tag da war, der Vera am Morgen noch wie gemacht für diese Schuhe erschienen war, da wurde ihr am Nachmittag drastisch vor Augen geführt, dass nicht nur die Fernsehserie inzwischen sehr aus der Mode gekommen schien, sondern offensichtlich auch die darin propagierten Rezepte für das Leben. Denn Vera hatte einerseits zwar gewusst, andererseits aber trotzdem nicht in letzter Konsequenz bedacht, dass die Party, für die sie sich zurechtmachte, wesentlich eine Gartenparty sein würde.
Tafeln waren hier und da auf dem Rasen aufgebaut und mit weißen Tischdecken überworfen worden. Flaschen standen darauf, Eiskühler, Gläser. Junge Männer trugen gestärkte weiße Hemden, junge Frauen weiße Bluse. Krawatten verschwanden kurz unterhalb des Knotens mit einer bauchigen Windung in der Knopfleiste, um nicht in die Getränke zu hängen. Haare waren streng zurückgenommen und saßen als Dutt oder Pferdeschwanz auf den Hinterköpfen. Getränke wurden an den Tischen ausgegeben und auf Tabletts gereicht. Gäste in hellen Sommerkleidern, hellen Sommerhosen, hellen Sommersakkos nahmen aber fast ausschließlich das Wasser, mild sprudelndes Mineralwasser mit Gurkenschnitzen, Wassermelone oder geschälten Scheiben von der Blutorange in den Tiefen der bauchigen Gläser. Ihre sommerliche, allenfalls dezent feierliche Garderobe ließ Vera hoffnungslos overdressed aussehen.
Vera trug das dunkle Kleid, das sie bis zu diesem Nachmittag als ihr festlichstes, daher auch schönstes betrachtet hatte, hier nun aber am liebsten sofort ausgezogen und einem der Kellner auf das Tablett geknüllt hätte — wenn denn mal einer auch bei ihr vorbeigekommen wäre. Sie hatte ein leeres Champagnerglas in der Hand und wollte ein volles. Aber die Mädchen mit den Pferdeschwänzen und die Knaben mit den Knoten auf den Hinterköpfen bewegten sich wie auf Schienen in der Ferne an ihr vorbei. Sie hätte Alec bitten können, ihr ein Glas zu holen, aber sie biss sich lieber auf die Lippen, denn eigentlich, fand sie, hätte er das auch von allein bemerken können.
Selbst hingehen? Ging eben auch nicht. Weil Vera bei der Auswahl der Schuhe diesen einen Fehler gemacht hatte, der ihren Fehler bei der Auswahl des Kleides an Katastrophalität noch übertraf. Dass Stefanie im Gegensatz zu ihr Sandalen mit wuchtigen Keilabsätzen aus — was war das eigentlich: geflochtenes Stroh? — angezogen hatte: Das hätte ihr daheim schon zu denken geben sollen. »Hier sind wedges praktisch«, hatte Stefanie mit Anteilnahme in der Stimme gesagt, als sie angekommen waren, aber da nützte Vera das auch nichts mehr. Mit ihren Pfennigabsätzen kam sie auf dem Kies nicht voran, und auf dem weichen Rasen des Gartens sank sie ein. Wenn sie nicht, gestützt auf Alecs Arm, ganz auf den Ballen lief, drohte sie hintüberzukippen. Daher kam sie sich jetzt am steinernen Rand des Pools vor wie jemand, der auf einer Tretmine steht, stand mit zusammengebissenen Zähnen da und verabreichte sich innerlich Ohrfeigen dafür, für einen Opernball angezogen zu sein, während es in Wirklichkeit zu einem Charity-Empfang bei einem Unternehmer oder hedgy oder Kaufhauserben south of highway gegangen war, sie wusste nicht einmal, wer der Gastgeber war, am helllichten Nachmittag jedenfalls, so dass also leichte Sommersachen angemessen waren, die üblichen Etuikleider, luftige Röcke, weißes Leinen, hier und da üppig bepflanzte Hüte gegen die Sonne, aber ganz sicher kein Abendkleid und keine zwölf Zentimeter hohen Absätze, auf denen ihr das Laufen schon schwerfiel, wenn es auf solidem Parkett stattfinden sollte.
Ein Fotograf kam auf die Gruppe zugesteuert, die zusammengedrängt stehen geblieben war wie eine verängstigte Herde in fremder Umgebung, zwei Frauen, zwei Männer. »Was glaubt der, wer wir sind — ABBA?«, rief Vera, während der Fotograf bereits sein Bild machte und Stefanie sofort in die leicht zur Seite gedrehte Pose von Leuten geglitten war, die es gewohnt sind, auf roten Teppichen fotografiert zu werden. Richard hatte den Bauch eingezogen und ein ausdrücklich übertriebenes Haifischlächeln aufgesetzt. Alec schaute genauso ausdrücklich desinteressiert woandershin, dass er auf dem Bild am Ende vermutlich wieder am besten wegkommen würde. Und Vera wusste auch schon, für wen von ihnen das Gegenteil gelten würde. »Noch mal bitte«, rief sie und: »Ich hatte den Mund offen, das war leider nix.« Aber indem sie das rief, schien der Fotograf zu bemerken, dass sie tatsächlich nicht die war, für die er sie gehalten hatte. Er bellte: »Who are you?« Es klang wie ein Vorwurf. Er ließ sich die Namen in ein kleines Mikrofon an seiner Kamera sagen. Nachdem Richard seinen Namen vorsichtshalber buchstabiert hatte, mitsamt »V.« in der Mitte, buchstabierte auch Alec »S-C-R-O-O-G-E … Mc-D-U-C-K« in das Gerät, den amerikanischen Namen für Dagobert Duck. Vera verdrehte die Augen. Der Fotograf nahm es teilnahmslos hin, dann ging er weiter.
Was hatte sie sich denn vorgestellt, fragte sich Vera und wusste selbstverständlich auch die Antwort: eine Party wie in Romanen und Filmen. Ein Anwesen hatte sie erwartet, das geschmückt war wie ein Weihnachtsbaum, Kleider wie Lametta, cremefarbene Anzüge, Männer unter duftig in die Stirn fallendem Haar, aus breiten Kinnladen Bonmots an Frauen in Paillettenkleidern richtend, Gelächter, verschütteten Champagner, fliegende Gläser, Streit, Tränen, Küsse, Rausch und Beschleunigung des Daseins. Sie wäre bereit gewesen, mit spitzen Schreien des Wiedersehens Frauen um den Hals zu fallen, deren Namen sie gar nicht kannte, solange die dabei Cocktailgläser in der Hand hielten. Stattdessen aber sah sie hier nun vor allem ältere Damen mit Wassergläsern, die groß genug waren, um nachts die dritten Zähne darin zu lagern. Sie sah Umarmungen, die jede Berührung vermieden. Sie sah sogar einen Mann, der sie an ihren mürrischen Schichtleiter aus der Park Slope Food Coop erinnerte, mit seinen Beuteljeans und Gesundheitsschuhen. Aber auch dass sie selbst hier jetzt, haha: stehen konnte, unterlief ihre eigenen Ansprüche an die Exklusivität der Veranstaltung. Dass die anderen drei sie nicht allein herumstehen ließen, war so gesehen eine Hilfe, aber ein Trost war es nicht.
Richard ging leicht in die Hocke, richtete sich wieder auf, ging wieder in die Hocke.
»Kniebeuge?«, fragte Vera.
»Bitte nicht reinspringen«, sagte Stefanie.
»Infinity Pool«, antwortete Richard mit zusammengekniffenen Augen. »Wenn du aus dieser Höhe schaust, geht das Blau vom Pool mit dem Blau vom Meer zusammen«, sagte er. »Wenn du dagegen von hier aus guckst«, und damit richtete er sich wieder auf, »hast du das Weißgelb der Düne dazwischen. Auch schön«, meinte er. »Aber das Blau vom Meer ist an der Brandung heller als das Blau vom Pool und hinten wiederum dunkler. Das Blau vom Himmel ist wiederum heller als das Blau von Meer und Pool zusammen — und gleichzeitig tiefer.«
Die anderen schauten ihn an. Was wollte Richard Mauler ihnen sagen?
»Drei Farben Blau. Drei Ebenen der Ferne«, erklärte er. »Drei Mal Unendlichkeit.« Richard Mauler wollte auch einmal zeigen, dass ihm romantisches Empfinden nicht fremd war.
»Pools sind nicht unendlich«, sagte Stefanie kühl. Und dann: »Richard, wir müssen.«
Vera bemerkte, dass Frau Tessen über die Wiese gewackelt kam, die alte Dame winkte, wollte mit Richard und Stefanie sprechen, wurde aber von Bekannten aufgehalten, mit denen sie Höflichkeiten austauschen musste. In diesem Moment hatte Stefanie Richard schon beim Arm genommen und führte ihn mit sanftem Druck in die entgegengesetzte Ecke des Gartens. Es sollte aussehen wie ein Paar, das flaniert. Tatsächlich sah es aus wie eine Verhaftung, befand Alec. Vera sah keinen Grund, ihm da zu widersprechen.
Ihr fiel nur auf, dass sie Lust hatte, Alec zu widersprechen, ganz einfach aus Prinzip: seinem Ton, der ganzen Haltung. Es ging ihr auf die Nerven, wie er neben ihr stand und in feindseliger Begeisterung die Leute musterte, statt ihr ein neues Glas Champagner zu holen. Es ging ihr allerdings auch auf die Nerven, dass sie ihn damit zwar beauftragen könnte und dann sicher auch beliefert werden würde. Aber das war nicht das, was sie unter Aufmerksamkeit verstand und brauchte. So köchelte Vera auf den heißen Steinen am Pool in ihrer eigenen Wahrnehmung vorerst weiter vor sich hin, während Alec an den Fronten seines inneren Erlebens in ganz eigene Kämpfe verwickelt, konkret nämlich mit der Frage beschäftigt war, wie das eigentlich wäre, wenn er stattdessen jetzt mit Charlotte hier stünde.
Er konnte sich Charlotte in diesem Ambiente gar nicht vorstellen, es sei denn als eine von den Angestellten. In seinem Tagtraum würde Charlotte eine Flasche und zwei Gläser von der Bar nehmen und ihn in der gleichen Weise die Düne hochziehen wie damals ihre Treppe. Als er sich zwang, denselben Gedankengang vorsichtig wieder zurückzuwandern bis zu der Frau, mit der er in Wirklichkeit hier war, und dabei wieder an den Tischen mit den Flaschen und den Gläsern vorbeikam, fragte er sich, ob er noch einen Drink organisieren sollte. Aber dann wiederum schien ihm Vera im Moment gar keinen zu wollen. In der Art und Weise, wie sie ihr leeres Glas hielt, nämlich mit der Öffnung nach unten, schien ihm ein Statement zu liegen. Außerdem fand er das auf einmal auch würdelos, sich in der Hitze des Nachmittags volllaufen zu lassen, bloß weil es ging, bloß weil sich die Tische unter den Flaschen ganz buchstäblich bogen, bloß weil ein Überangebot herrschte, das johlend nach Nachfragern schrie. So blieb auch Alec einfach noch eine Weile so stehen: Wenn Vera hier jetzt stehen wollte, dann bitte schön. Seine Gedanken kreisten um den Begriff »jemandem beistehen«.
Immer mal wieder ergab es sich, dass andere Paare vorbeikamen, »Hi« riefen und manchmal sogar »How do you like the party?«, bevor sie winkend weiterschlenderten, ohne so zu tun, als ob sie Wert auf eine Beantwortung dieser Frage legten. Vera lächelte sich dann durch das Wort »amazing«, weil das zu gehobenen Mundwinkeln zwang, und Alec sagte jedes Mal »awesome«, weil sich das auch mit fast geschlossenem Mund sagen ließ.
Schließlich reichte es Vera. Mit einem Mal bückte sie sich, riss ihre Schuhe von den Füßen und hängte sie dem überraschten Alec in die Hände. Dann marschierte sie barfuß auf den nächsten Kellner zu und nahm sich zwei Gläser, die sie beide selber hinunterstürzte. Schließlich fingerte sie ihre Zigaretten aus der Handtasche. Es war das erste Mal, dass sie wieder offen vor Alec rauchte.
Der seufzte und nahm sich ebenfalls eine.
»That’s the spirit!«, rief ihnen ein Mann aus einem Rollstuhl zu. Der Mann hatte ein Bärtchen, das Vera an das von Charlie Chaplin erinnerte, nur saß es bei ihm unter dem Mund statt darüber und war genauso weiß wie der Anzug und die Caesarenfrisur, die dem Mann auf dem Kopf saß. »Grün gestrichener Beton wäre für uns beide besser, was?« Der Alte deutete auf den Rasen und lachte.
»Ich bin Angus«, sagte der Mann. »Und das ist Ray.« Dabei zeigte er auf einen jungen Mann hinter seinen Rollstuhl, groß, muskulös und in engen roten Turnhosen.
»Hi«, sagte Ray mit einem Blick, der in weite Fernen gerichtet schien.
»Couldn’t we be friends … please?«, fragte der alte Mann und hielt seine rechte Hand nach oben. Als Vera gerührt Angus’ Hand ergriff, hatte sie das Gefühl, in ein Stück Weißbrot zu greifen. Alec befand hinterher: reine Machtgeste. Lasches, druckloses Handgeben sei immer eine Machtgeste. Aber auch er sagte »What’s up?« und bemühte sich um einen freundlichen Ton.
»Wo kommen Sie her, schönes Paar«, wollte der Alte wissen, als er Veras Akzent bemerkte.
»Ber…«, setzte Alec an.
»—rroooklyn«, übertönte ihn Vera.
»Ah«, sagte Angus und schaute amüsiert. »Und was machen Sie in Be-rooklyn?«
Vera zögerte. Sie war sich nicht sicher, ob »Ärztin« in dieser Welt hier eine satisfaktionsfähige Antwort war. In diesem Moment kam ihr allerdings schon Alec zuvor und behauptete, er sei Berater. Zuvor habe er in Berlin Philosophie studiert, jetzt arbeite er in New York als Berater. »Business consultant«, sagte er ernst. »Verstehe«, lachte Angus. »Sie erzählen mächtigen Männern gegen Geld, was für Idioten sie sind.«
Alec wollte etwas erwidern, aber Vera legte ihm die Hand auf den Arm. Sie fand sein Benehmen albern. »Und Sie?«, fragte sie Angus. »Hier aus der Nachbarschaft?« Dabei winkte sie unbestimmt mit der Hand in die Umgebung.
»Hier aus der Nachbarschaft«, bestätigte Angus und wedelte ebenso unbestimmt mit der Hand. »Wie wundervoll. Dann kennen Sie alle hier«, rief Vera. »Sind viele hedgies da?«
Angus kannte den Begriff nicht. Vera musste ihn erklären, es war ihr unangenehm. Aber Angus lachte herzlich. »Wir sagen eigentlich eher hedgefund manager oder hedgefund guy, aber hedgy ist wirklich viel treffender«, lobte er Vera. Er sah bei einem raschen Blick durch den Garten vielleicht zwei oder drei. »Dort hinten stehen aber die Rechtsanwälte der hedgies«, sagte er: »Die sind ja eigentlich noch mächtiger, nicht? Und dort deren Ärzte. Immer alle unter sich, ulkig, oder?«
»Ja«, sagte Vera. Jetzt hätte sie sich gern selbst als Ärztin zu erkennen gegeben, tat es dann aber doch nicht. Sie fragte stattdessen, ob Angus den Gastgeber kenne, sie seien nur mitgenommen worden, wüssten im Grunde gar nicht, bei wem sie hier seien, was gefeiert werde, Charity habe sie gehört, jedoch: wofür? Angus amüsierte sich anscheinend grenzenlos. Dann bemerkte er, dass der Hausherr zur Kaste der Anwälte gehöre und mit solchen Veranstaltungen zugunsten der Krebsforschung Ablass zahle für die Sünden seiner Profession. Auch erzähle man, die Frau sei ihm davongelaufen. »Manche macht ihr Business einsam. Vielleicht will er das Haus gelegentlich ein bisschen füllen.«
Angus zeigte auf der anderen Seite des Pools auf einen Strohhut: »Den da müssten Sie eigentlich fragen. Dort steht der Mann, der mit Büchern darüber reich geworden ist, wer die Leute sind, die in den Hamptons wohnen, und seit wann und warum und mit welchem Geld.«
»Wie der Gotha«, bemerkte Alec.
»Pardon?«, sagte Angus und legte die Hand hinters Ohr.
»So heißt in Europa das Adelsverzeichnis.«
Angus lachte, als hätte er seit Jahrzehnten keinen köstlicheren Kommentar mehr gehört. Vera war auch das unangenehm. Sie sprach daher nun schnell einen Satz, den sie in solchen Situationen oft gehört hatte. Sie fragte: »So, how do you guys know each other?« Sie erschrak selbst ein wenig vor der Indiskretion dieser Frage. Aber da kicherte Angus schon wieder. »Wir? Aus der Rehab.«
»Entziehungskur?« Alec hob die Augenbrauen.
»Oh yes!«, lachte Angus, Er wandte sich um und sagte: »Jetzt sei so gut, Ray, und hol unseren Freunden und mir mal einen Drink. Gin and Tonic am besten. Gin and Tonic ist doch recht?« Und als Ray, ohne ein Wort zu erwidern, davongegangen war: »Keine Sorge, bei Raymond sind Drinks in sicheren Händen.«
Vera wollte wissen, wie er das meine. Und Angus rasselte ihr schulterzuckend ein paar Stichworte herunter: Computerspiele, Hacken, Programmieren, von einem Start-up zum nächsten, LSD für die Kreativität, eine Überdosis Magic Mushrooms beim Burning Man Festival, Sucht-Therapien, Therapie-Sucht, Therapie von der Therapie-Sucht. Inzwischen sei Ray allenfalls noch süchtig nach Kraftsport, und Angus beschäftigte sich als Risikokapitalgeber — schon weil das Warten auf die Profite in diesem Bereich einem Geduldsspiel gleichkam im Vergleich zu den schnellen Kicks des Daytrading, denen er früher ein wenig, nun ja, verfallen gewesen sei. »Oft kommt bei meinen Investments inzwischen auch gar nichts zurück«, sagte er. »Offen gesagt sogar in neun von zehn Fällen: die reine Stille, das Nichts, Nirwana. Auch sehr schön, sehr heilsam«, lachte Angus.
»Was war denn zuletzt der zehnte Fall«, wollt Vera wissen.
»Cannabis«, antwortete Angus unverblümt.
Etliche Bundesstaaten hatten Cannabis für den medizinischen Gebrauch legalisiert, und Angus ging davon aus, dass es am Ende kommen werde wie in Colorado, wo das Gras auch als Genussmittel frei erhältlich war, so wie Alkohol und Zigaretten, gesellschaftlich inzwischen vielleicht sogar akzeptierter als Zigaretten.
Alec erklärte, er würde seinen Kunden eher Investments in die Gefängnisse von benachbarten Staaten wie Utah empfehlen, wo schwarze Kids für ein paar Gramm Cannabis noch heute bis an ihr Lebensende weggesperrt würden.
Angus schaute ihn einen Moment lang von unten her aufmerksam an, dann schüttelte er den Kopf, kicherte wieder und sagte: »Wie dumm, nicht wahr? Der Bedarf nach Transzendenz schafft sich am Ende überall seinen Markt.«
Ray kam mit den Getränken wieder.
»Die Transzendenz?«, lachte Alec.
»Oder wie würden Sie das nennen? Hatten Sie nicht Philosophie studiert? Transzendenz, Überwindung dieser Welt, darin liegt doch das Geschäft. Sehen Sie, das Cannabis-Öl, das wir herstellen, ist mehr oder weniger das gleiche Zeug, aus dem das Christentum entstanden ist. Was heißt der Name Christus noch mal übersetzt, professore?«
»Der Gesalbte«, antwortete Alec.
»Und womit wurde der Gesalbte gesalbt? Mit einer strammen Dosis Cannabis in Olivenöl! Das haben Biochemiker herausgefunden.« Er ließ die Worte ein wenig wirken. »Kein Wunder, dass man dann übers Wasser laufen kann«, sagte Vera. »Kein Wunder, dass es zu Wundern kam«, bestätigte Angus. »All die Geschichten mit den Lahmen und Kranken und den praktisch schon Toten, die der wieder auf Trab gebracht hat: Das können wir mit Cannabis auch.«
»Zwischen Dealer und Healer ist ja auch nur ein Buchstabe Unterschied«, bemerkte Alec.
»Mein Mann arbeitet an einem Buch darüber, warum Jesus aussah wie ein Hippie«, sagte Vera. »Sofern ihm seine Beratertätigkeit die Zeit dafür lässt.«
Angus nippte an seinem Glas. »Sie klingen ein wenig skeptisch, mein Freund«, wandte er sich dann an Alec. »Aber schauen Sie mal, was für eine weltumspannende Macht daraus geworden ist. Die Hälfte der Amerikaner glaubt an Dämonen. Die katholische Kirche kommt mit den Exorzismen kaum hinterher.«
Alec sagte etwas von »Mittelalter«. Angus tat, als habe er nicht recht gehört. »Das ist vielmehr die Zukunft, junger Mann!« Sie stritten ein wenig. Alec kam nicht umhin, eine Lanze für die Rationalität zu brechen, für die Werte der Aufklärung und der Säkularisierung. Er hatte kurz Sorge, er könnte dabei aus der Rolle fallen. Aber dann wiederum hangelte er sich einigermaßen an Locke, Smith und Mill entlang, an der ganzen einsilbigen Riege von Namen, die ihm immer vorgekommen waren wie das Türschild einer Anwaltskanzlei, seit sie ihm in der Highschool als die grundlegenden Theoretiker der angelsächsischen Wirtschafts- und Lebensweise nahegelegt worden waren. Angus wischte das alles mit einer Handbewegung aus der Luft. »These, Antithese, Synthese«, rief er lachend und hackte bei jedem Wort ein Stück höher mit der Hand in die Luft, wie um Alec zu verdeutlichen, dass er ebenfalls einmal auf einer höheren Schule gewesen war. »Sie müssen die Dinge nur zusammenbringen«, sagte er. »Diese Welt ist abgegrast, jetzt müssen Sie in die Welten dahinter schauen! Dort liegen Ihre Märkte. Was glauben Sie, wie viele der Leute hier vor Geschäftsabschlüssen ein Medium befragen. Selbst hedgies. Wissen Sie, was Sie Ihren Kunden empfehlen sollten: Glaskugeln!«
Alec schaute gequält.
»Von mir aus können Sie auch bei dem bleiben, was mit den Augen zu sehen und mit den Händen zu greifen ist. Nehmen Sie den Rasen hier, der Ihrer Frau und mir so ein Ärgernis ist. Wissen Sie, wie viel in Amerika jedes Jahr für die Rasenpflege ausgegeben wird? 25 Milliarden Dollar. Nur weil wir diese Obsession mit makellos grünen Vorgärten haben. Ist das logisch? Ist das rational? Logisch und rational wäre es, Dünger und Rasenmäher zu verkaufen.«
Vera fiel ein, dass Stefanie eine Yoga-Matte von einem Designer besaß, die 400 Dollar gekostet hatte.
»Yoga-Matten!«, rief Angus begeistert. »Und Räucherkerzen!«
Er schwärmte von einer berühmten Schauspielerin, die einen Onlinehandel mit Produkten aufgebaut habe, die ihr andere in den sogenannten mittleren Jahren weltweit aus den Händen rissen: Duftwasser mit magischen Kristallen, vaginal einzuführende Wundereier, solche Sachen. Er selbst erwäge, massiv in Firmen zu investieren, deren Geschäftsfeld die Vergänglichkeit des Körpers, das Versprechen von Unsterblichkeit sei. Er erzählte von Ernährungsberatern, die DNA-Analysen mit Sternendeutung kreuzten, und von dem schönen, übrigens auch sehr lukrativen Trend, den Darm als alternatives Gehirn zu betrachten. »Das ist dann wie mit Tätowierten, die nach dem ersten Tattoo auch immer weitermachen müssen«, wandte er sich wieder an Alec. »Dann hört das erst auf, wenn alles voll ist. Und von innen ist so ein Körper ja noch einmal deutlich ergiebiger.« Er erzählte von einer Verhütungs-App, die Ray entwickelt habe und die nach dem Mondkalender funktionieren sollte. »Mit deren Hilfe sind allerdings in Schweden gleich 37 Frauen in einem Monat schwanger geworden.« Vera und Alec sahen Ray zum ersten Mal lächeln. »Irgendwie muss in Schweden der Mond anders gehen«, murmelte er.
»Die Algorithmen sind jetzt unser Kosmos«, bemerkte Alec.
Aber hier schüttelte Angus entschieden den Kopf. »Nicht mehr«, sagte er. »Unsere Einsen und Nullen gehören längst den Chinesen.« Er kicherte wieder. »Uns bleibt im Gegenzug aber deren Qi und Gong. Meditationen werden uns helfen, mit dem Verlust besser klarzukommen. Man muss loslassen können, nicht wahr?«
»Uns?«, fragte Alec.
»Dem Westen.«
»Wir gehen jetzt sozusagen in den Vorruhestand?«
»Wir haben jetzt mehr Zeit für unsere künstlerischen Interessen«, sagte Angus, »für Empathie, unsere Aura, letzte Dinge und so weiter. Alles andere können wir uns nebenbei bemerkt auch gar nicht mehr leisten.«
Dann bat er darum, ins Haus gerollt zu werden. Er musste ein Badezimmer aufsuchen nach all den Späßen. »Kommen Sie ruhig mit rein«, sagte er, »ich will Sie verschiedenen Leuten vorstellen.«
Vera sah, dass Frau Tessen sich aus ihren Gesprächen gelöst hatte. Sie winkte Vera zu. Vera winkte zurück. Und als sie sah, dass sich die alte Dame anschickte, zu ihr herüberzukommen, machte sie ihr Zeichen des Bedauerns, hängte sich bei Alec ein und ging dem Rollstuhl hinterher.
Was eigentlich mit seinen Beinen passiert sei, wollte Vera auf dem Weg nach drinnen wissen. Alec warf ihr einen Blick zu, dem sie einen Tadel an ihrer Direktheit, letztlich ihrem Trinkverhalten entnahm. Sie zuckte mit den Schultern. Währenddessen rief Angus, ohne sich umzudrehen, erst das Wort »Speed« und dann »Speed Bump«.
Dann verschwand sein Kichern im Inneren des Hauses.