Es war das vorletzte Wochenende vor dem Labour Day, am Ende des Sommers. Schon eine Woche später würden alle wieder zurückmüssen in die City, in ihre Berufe, in ihren Alltag, die Kinder würden in neue Schulklassen kommen, die Eltern neue WhatsApp-Gruppen mit neuen anderen Eltern aufmachen und nach Taxis winken und auf U-Bahnen warten und abends wieder viel zu spät erst aus den Büros kommen, before long würden sie Kürbisse kaufen und Gesichter reinschnitzen und dann Truthähne zersägen und sich Happy Hanukkah wünschen oder Merry Christmas, und dann wäre es das gewesen. Aber noch war Sommer. Noch war August. Und gerade weil alle Partys so weit abgefeiert waren für die Saison, hatten Stefanie und Richard es tatsächlich hinbekommen, noch eine ganze Reihe von Leuten zu interessieren für eine letzte Erfahrung am Ende des Sommers, eine »experience«. Das Wording, das der Kaunsler ihnen nahegelegt hatte, war: ein thing.
Das klang auf Englisch angemessen jugendlich, und auf Deutsch klang es angemessen alt und mystisch. Er hatte da einen der Kommentare von Alec einfach aufgegriffen und den Sarkasmus weggelassen. Alec hatte etwas von dem Philosophen Martin Heidegger erzählt, das keiner verstand, irgendetwas von germanischen Versammlungsrunden und dem Sein der Dinge, und der Kaunsler hatte froh in die Hände geklatscht und »Danke« gerufen, und deshalb war das jetzt so.
Dafür, dass er die ganze Veranstaltung nur als einen Witz begreifen konnte, musste Alec feststellen, dass dieser Witz erstaunlich ernst genommen wurde in den Hamptons. Er musste mit ansehen, wie an jenem Freitagabend zum Teil sogar Leute auf das Grundstück kamen, von denen Richard behauptete, dass die zum Teil noch nie weiter als hundert Fuß north of highway gewesen seien in ihrem Leben. Sogar Corey Flannagan war gekommen, der Eviction Lawyer, und diesmal hatte er nicht einmal einen Auftrag von Mrs. Tessen dafür, wie er bekannt gab, als er Richard jovial auf die Schulter schlug und dann Vera ein Paar hohe Schuhe überreichte, die bei seiner Party liegen geblieben waren.
Alec registrierte, dass auch Ray gekommen war, der Adlatus von Angus, und er erfuhr, dass Angus finanziell an diesem Abend beteiligt sei, aus Sympathie und Neugier, selbst jedoch aus der Ferne grüßen lasse. Er nahm etliche Frauen und Männer wahr, die dem Habitus nach häufiger zu Veranstaltungen dieser Art gingen, freundlich sich begrüßende Retreat-Profis in bequemen, weiten Trainingsanzügen und Kaftanen, und er sah auch ein paar von den sogenannten Trustafarians, denen Charlotte in den Discos von Montauk Bescheid gesagt haben musste, bedürfnislos aussehende junge Männer, die sich in ihrer heiligen Suche nach dem Richtigen und Wahren im Leben auch von ihrer Herkunft aus News Yorks Geldadel nicht beirren ließen. Nicht einmal die zeigten jene Art von höflicher Herablassung, die Alec von solchen Leuten erwartet hätte. Stattdessen herrschte im Geschnatter des Ankommens offenbar genuine Neugier und Vorfreude auf das …thing.
Charlotte hatte Mühe, die wegen so viel Besuchs aufgekratzten Kinder in die Gästehütte zu verfrachten, wo sie die Nacht über auf sie aufpassen sollte. Stefanie erlaubte ihr, als pädagogische Notmaßnahme ausnahmsweise auf dem Telefon Slapstick-Videos aus dem Internet vorzuführen. Auch sonst waren bisher eherne Prinzipien mit Entschiedenheit zur Seite geräumt worden für dieses Ereignis. Nicht nur war der von allerlei Kraut dekorativ zugewachsene alte Bretterzaun zur Straße hin weggerissen worden, um Parkplätze zu gewinnen. Auch das Bienenhotel hatte, leider, doch wieder verschwinden müssen, weil Ray eine Bienenallergie hatte, die ihm im Zweifel das Leben kosten konnte, wie es hieß, aber dass Ray kommen konnte, war wichtig, wegen Angus, also wegen Geld. Stefanie hatte das verstanden. Sie hatte jedenfalls tapfer erklärt, dass sie es, natürlich, verstehe. Aber in Wahrheit war etwas sehr Elementares zerbrochen in ihr, als sie Richard und den Kaunsler mit chemischem Insektenspray in ihren geliebten Gebüschen am Gartenrand hantieren sehen musste.
Wann immer Alec mit der Frage konfrontiert war, was genau dann passiert sei, und mit dieser Frage sollte er häufig konfrontiert werden, am allerhäufigsten von sich selbst: Dann lautete die Antwort, die er guten Gewissens geben konnte, dass ihm alle schon sonderbar geläutert vorkamen, bevor sie von dem Kräutersud, den der Kaunsler angesetzt hatte, überhaupt genippt hatten.
Richard erschien ihm wie frisch verliebt in seine Stefanie, die tatsächlich mit einem Selbstbewusstsein die Veranstaltung dirigierte, das sie alle an ihr lange so nicht mehr gesehen hatten. Nicht, dass die hauchende Achtsamkeits-Stefanie wieder verschwunden wäre, sie schien nur jetzt gleichsam erst ein Skelett erhalten zu haben. »Die klackert mit einer Zielstrebigkeit durch den Raum, als wäre sie der CEO von einem Stahlkonzern auf dem Weg zur Vorstandssitzung«, hörte er Richard zu ihm sagen. »Diese Härte!«, hörte er Richard schwärmen. »Die sagenhafte, kompromisslose Härte auf einmal.« Der Kaunsler sei ganz offensichtlich jeden der vielen, vielen Dollars wert gewesen. Am Anfang hatte Richard das für groben Unfug gehalten, dieses Gerede von Auflösung, von Überwindung des Egos und so weiter. Jetzt durfte er sehen: Ihr Ego war vielmehr eindrucksvoll gestählt aus der ganzen Sache hervorgegangen. In dem Maße, wie sich Richard für die neue Härte und Zielstrebigkeit seiner Frau begeisterte, schien er selber von Minute zu Minute weicher zu werden. Nicht, dass der majestätische Hohlkreuz-Richard mit den Krummsäbelbeinen in den Bootsschuhen sich vor Alecs Augen plötzlich aufgelöst hätte, er schien nur etwas Luft aus sich herausgelassen zu haben. Er erkundigte sich bei Alec nach dem Tagesablauf eines stay-at-home dads. »Wenn meins nicht funktioniert hat, vielleicht funktioniert im wirklichen Leben ja ihres«, hörte er ihn sagen. Er habe überhaupt kein Problem damit, daheimzubleiben und Scott Football beizubringen.
Alec hörte, wie der Kaunsler um etwas mehr Ruhe bat, er rede doch gerade. Und er fragte sich, wann er jemals jemanden dermaßen laaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaangatmig reden gehört haahaha… Er musste niesen. War er allergisch?
»Pssst!«, machte es ärgerlich aus der Runde.
Und er fragte sich, wann er eigentlich endlich the thing wirklich bekommen würde, bisher war ja nur Thing im Sinne von Redekreis. Wenn sie damals in Berlin, was gelegentlich vorgekommen war, Drogen bestellt hatten, hatten sie auch manchmal mit Dealern zu tun bekommen, die ein Redebedürfnis hatten, vielleicht weil sie einsam waren, vielleicht auch weil sie selbst von ihrer Ware naschten. Aber keiner, nicht mal der redseligste hatte deeermaaaaaaaßen …
Dann jedoch, mit einem Mal, begriff er, dass das in säuselndem Tonfall vorgetragene Gerede für alle anderen tatsächlich die Hauptsache zu sein schien. Sie saßen im Schneider- oder im sogenannten Lotussitz aufmerksam um den Kaunsler herum und lauschten ergeben einer langen Predigt über Sonne, Mond und Sterne, kosmische Strahlen, jahrtausendealte Moleküle und Baumstämme. »Die Pflanzen sind in uns, und wir sind in den Pflanzen. Wir sind der Tropfen, und wir sind gleichzeitig der Ozean.« Vieles kannte Alec inzwischen. Er fragte sich, ob der Kaunsler sich nicht manchmal langweilte mit sich selbst und seinen Lehren. Aber das schien nicht der Fall zu sein: Man musste dem Mann lassen, dass er den Dingen auch bei der hundertsten Wiederholung immer wieder eine Note von Dringlichkeit und Offenbarung zu verleihen verstand. Andererseits lasen die Menschen die Bibel auch immer wieder aufs Neue und langweilten sich dabei offensichtlich nicht.
»Also, wenn es wirklich etwas bringen soll, solltet ihr das komplette Paket machen«, hörte er den Kaunsler jetzt sagen, während Stefanie um die Leute herumtanzte und in kleinen Näpfchen Tee servierte. Für Alec sah es aus, als tanzte sie hier schon die Runen, die als therapeutische Überraschung eigentlich erst für den nächsten Mittag auf dem Programm standen. Andererseits war es recht eng mit all den Menschen in ihrem Bungalow, da ergaben sich solche Choreografien vielleicht auch ganz banal aus Platznot.
Der Kaunsler hatte angefangen, eine Art Speisekarte zu verlesen. Es klang für Alec wie in einem dieser teuren, eckigen Restaurants mit Regionalküche, die kurz vor seinem Weggang in Berlin beliebt geworden waren, Restaurants, in denen zum Beispiel lediglich »Hase« auf der Karte stand oder »Rübe« und sonst nichts, manchmal noch nicht mal ein Preis. Er hörte ihn von Alraune, Engelstrompete, Beifuß, Tollkirsche und Stechapfel »in einer bisher ungekannten Kombination« raunen. »Ihr werdet weitgehend frei von den meisten eurer Ängste und Neurosen sein«, versprach der Kaunsler, »an einem Ort der Klarheit, der sehr ungewöhnlich ist in unserer Welt, in unserem Alltagsleben. Diese Art von Klarheit ist nur nicht so einfach zu erlangen — und das« — hier machte er eine Pause, in der er allen reihum auf die Stirnen schaute: »Und das wird der Moment sein, in dem wir einen Schritt zurückgehen und an unseren neuronalen Netzwerken arbeiten.«
Erwartungsfrohes Gemurmel war aus der Runde zu hören.
»Wir werden sehr nah an unsere Gefühlszentren rankommen«, versprach der Kaunsler.
Das Gemurmel wurde stärker.
»Wir werden so tief reingehen, wie wir können, und wir werden alles rausfinden, was wir wissen müssen.«
Einige applaudierten.
»Wir werden tun, was immer wir müssen«, rief der Kaunsler über das Anschwellen der Lautstärke im Raum hinweg. »Aber am Anfang werden wir erst einmal alle Schichten und Hüllen und Panzer abwerfen. Lasst uns direkt damit anfangen. Lasst uns stark sein. Lasst uns mutig sein.«
Damit sprang er auf und schaute energisch im Raum umher.
Das Nächste, woran Alec sich erinnern konnte, waren die Worte »oder hier: Vera aus East Germany, die sich tief drinnen nach Romantik verzehrt, danach, einmal im Leben für jemanden die größte Liebe überhaupt zu sein …«
Er sah, wie unangenehm Vera das war. Er wusste auch, dass das etwas mit ihm zu tun hatte, aber er fühlte sich nicht in der Lage, darauf zu reagieren. Konnte es sein, dass er the thing bereits zu sich genommen hatte? Der Tee, der gereicht worden war, womöglich? Alec hatte dem feierlichen Gebaren, mit der das geschehen war, keine große Beachtung mehr geschenkt, weil die ganze Zeit schon so feierlich getan wurde von diesen Leuten: jede Begrüßung eine endlose Umarmung mit Schluchzen, Festhalten, Pressen, Streicheln, als gelte es für immer Abschied zu nehmen. Nun beschäftigte ihn mit einem Mal heftig die Mystik transgressiver Trinkrituale, von Dionysos angefangen bis hoch zu diesen Sekten, die selig Suizid begingen. Den Kindern, erinnerte er sich an entsprechende Zeitungsberichte, mischen sie das Gift halt in die Cola, den Babys spritzen sie es in die Gaumen.
»Oder Alec hier«, hörte er den Kaunsler sagen, »in dem es tief drinnen ganz heftig rumort. Der das aber niemals an seine verpanzerte Oberfläche lassen würde. Ganz süß. Wie so ein Jugendlicher. Verschossen und verschlossen.«
Alec schloss die Augen vor Pein. Von ferne hörte er, wie es jetzt um »den Corey« ging … Eviction Lawyer, Frau weg, Scham, Leben falsch? Der Kaunsler schien den harten Mann, den Alec auf der Party erlebt hatte, mit tröstenden Worten klein und weich machen zu wollen: Leute kommen, Leute müssten auch gehen, evictions seien auch nur eine Art von Reinigung, cleansing: »What goes around, comes around …«
Alec wurde ein wenig schlecht, aber nach einer Weile stellte sich eine sonderbare Euphorie ein. All das machte auf einmal in hellen Fanfaren Sinn. Der Schmerzkörper, die Krebskranken, die angeblich unbewusst sterben wollen, das Gerede vom Karma, all diese elaborierten Formen, »selber schuld, wenn es dir schlecht geht« zu sagen: Sie kamen ihm auf einmal vor wie eine strahlende Apotheose des Zynismus dieser Gesellschaftsordnung.
Er sah jetzt ganz klar, dass die Aufforderung, »offen« zu sein, im Kern »kritiklos« meinte und »Unterwerfung«. Und dass die Doktrin des »Zulassens« jeder Art von Hemmungslosigkeit und Gier in einer Weise die Bahnen brach, als hätten in Wahrheit immer schon die Ideologen des amerikanischen Unternehmerverbandes all die Reden geschrieben, die in den Kommunen derer gehalten wurden, die dem bösen, kalten Kapitalismus ihrer Väter den Finger zeigen wollten — damals um 1900 in Deutschland und der Schweiz und dann sechzig Jahre später bei ihm in Kalifornien. Der Weg von den Hippiekommunen bei San Francisco in die Ferienhäuser der Hamptons war rückblickend betrachtet von bestürzender Vorhersehbarkeit. Er hatte bisher immer schon vermutet, dass diese Fluchten aus der materiellen Welt ins Mystische und Metaphysische nicht zuletzt ein Wohlstandsphänomen waren. Es war ja kein Wunder, dass es in Deutschland auftaucht, als das junge Reich vor Reichtum brummt, und dann in den USA, als die den Krieg gewonnen haben und auch vor Reichtum brummen. Jetzt hatte er den Eindruck, dass es auch eine Frage der Zeitlichkeit war, eine Frage der Endlichkeit, der guten alten Angst vor dem Tod: Vielleicht, wer weiß, konnten nicht nur Menschen in eine Midlifecrisis geraten, sondern ganze Industriegesellschaften … Und das alles war zwar sicher noch nicht sehr konsistent, sondern Kraut und Rüben, wie man so sagt, das Ganze würde er noch einmal bei Tageslicht bedenken müssen. Aber irgendwo da, da war er sich sicher, war sein Thema. Und jetzt, in dieser Nacht, hatte er das Gefühl, dass er es einfach nur aufschreiben müsste, und dann hätte er das Buch, das er brauchte, um vielleicht doch noch was zu werden in Academia.
Das Gesicht von Angus unter seinem weißen Caesarenschopf tauchte vor seinen Augen auf, kicherte und verschwand wieder, und was er zurückließ, waren zwei Worte in Großbuchstaben, Serifenschrift, wie eingraviert auf ein Messingtürschild auf der Fifth Avenue. Alec las:
SPIRITUAL CAPITALISM