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Mortlake, England, 2. September 1572

»John! Wach auf, John! An der Tür sind zwei Männer!«

Das ist seine Mutter. Und er weiß, dass zwei Männer vor der Tür stehen. Zwei Männer und ein Hund. Bill und Bob. Bob und Bill.

»Mach nicht auf, Mutter.«

Gibt es Ärger?, wird sie fragen.

Nur wenn du aufmachst, wird er antworten.

Er bindet seine Hose zu und verschnürt sein Wams, während seine Augen über die Regale schweifen und er überlegt, was er mitnehmen und was er zurücklassen soll. Seine Bücher – alle neunhundertzwölf? Oder seine Astrolabien, seine Weltkugeln, alle selbst gebauten Vorrichtungen und Instrumente?

Mach schnell! Mach schnell!

»Sie wollen mit dir sprechen, sagen sie.«

»Darauf wette ich.«

Seine Hand landet auf Mercators Globus. Es ist nicht zu erwarten, dass er seinen alten Freund so bald wiedersehen wird. Und wenn er ihn hier zurücklässt … Der Globus gehört zu genau der Sorte von Dingen, die irgendein Narr einschmelzen wird, um daraus ein Schmuckstück für einen noch größeren Narren anzufertigen. Also wickelt er ihn in ein Hemd, stopft ihn in seinen Reisesack und schleicht zum hinteren Fenster. Unmittelbar darunter befindet sich das Dach seiner Bibliothek.

Er steigt hinaus und balanciert, schwankend und mit weit ausgebreiteten Armen, über den First zum Giebel. Unter ihm rauscht der reichlich mit grünen Früchten behangene Apfelbaum. Von hier oben geht es gut fünf Fuß bis zur Krone hinunter.

Er wappnet sich. Es ist immer schmerzhafter, als er es sich vorstellt. Äpfel plumpsen zu Boden. Er will es ihnen schon nachtun, als der Hund, der sich neulich in Cambridge zwischen den Beinen geleckt hat, unten auftaucht.

Allmächtiger, was für ein hässliches Tier! Eines von der Sorte, die keinen Widerspruch duldet und kein Opfer aus den Fängen lässt. John weiß schon jetzt: Er wird seinen rechten Unterarm opfern und die Bestie mit der linken Faust erschlagen müssen.

Doch sein kurzes Zögern hat ihn Zeit gekostet, die er nicht hat. Prompt taucht nun auch noch Bill im Garten auf. Er hat ein blaues Auge und eine aufgeplatzte Oberlippe.

»John Dee«, sagt er, »Ihr seid verhaftet. Der Grund sind Eure Schulden bei Seinen Gnaden dem Bischof von Bath und Wells in Höhe von fünf Mark, acht Shilling und sechs Pence. Hinzu kommen zusätzliche Ausgaben.«

Zusätzliche Ausgaben? Dee klettert auf einen Ast. Er befindet sich zwar nur wenige Fuß über Bills Kopf, aber das genügt. Wenn er sich in die nächste Baumkrone retten kann, von dort in die übernächste und so weiter, bis er nahe genug am Fluss ist, kann er versuchen, die Beine in die Hand zu nehmen.

Können Hunde wie dieses Ungetüm hier schwimmen? Zuzutrauen wäre es ihm …

Sie beobachten einander.

Nun erscheint auch Bob. Er hat einen weiteren Hund dabei, einen von derselben Sorte. Weiß, aber mit derart kurzem Fell, dass die Haut rosa durchschimmert. Rote Augen und eine so lange Zunge, dass sie ihm wie ein Schal aus dem Maul hängt.

»Komm da runter, Dee!«, ruft Bob.

»Was hast du vor? Den Hund nach mir zu werfen?«

Die beiden kratzen sich am Kopf.

»Könnte ich machen«, meint Bob.

Es ist wirklich merkwürdig, hinunterzublicken und unter dem Geflecht von Zweigen den eigenen Schatten zu sehen.

Seine Mutter verfolgt die Szene von der Hintertür aus.

»Komm da runter, John!«, ruft sie. »Du verletzt dich noch!«

Bill und Bob stimmen ihr zu.

»Wenn ich runtersteige, werden die zwei für viel mehr Verletzungen sorgen!«

»Oh, aber das werden sie bestimmt nicht tun, nicht wahr, meine Herren?«

»Natürlich nicht.«

Doch selbstverständlich haben sie genau das vor. Darum verlagert John das Gewicht und schickt sich an, zum nächsten Baum hinüberzuklettern. In Momenten wie diesem wünscht er sich, er könnte fliegen wie ein Engel. Und er wünscht sich, seine Mutter ließe ihre Bäume nicht so säuberlich schneiden. Jedenfalls biegt sich der Zweig, auf dem er steht, langsam immer tiefer durch, dem wartenden Bob entgegen. Wie groß er ist! Beide Hunde knurren.

Dee überschlägt kurz seine Erfolgsaussichten, dann springt er. Doch sein Beutel, der Mercators Globus enthält, bleibt an einem Zweig hängen, und Dee wird wieder nach oben gezogen, ehe der Ast sich erneut biegt. Dee gerät unaufhaltsam ins Rutschen und kracht schließlich auf den Boden. Zuerst springen Männer und Hunde erschrocken auseinander, aber schon im nächsten Moment stürzen sie sich auf ihn. Ein Hund packt ihn am Handgelenk, der andere am Stiefel. Was für eine Kraft sie haben! Sie ziehen jeder in eine andere Richtung, als wäre er ein Knochen, um den sie sich balgen. Die zwei Männer sehen vergnügt zu.

»Komm jetzt, Dee«, brummt Bill, der ihn nun am anderen Fuß ergreift – demjenigen, an dem kein Hund hängt –, und beginnt, ihn in die Richtung des Gartentors zu schleifen. Was für eine komische Vorstellung, dass Königin Elizabeth einmal exakt hier stand …

Nun, das waren andere Zeiten.

Bob ruft seinen Hund zurück, der Dees Ärmel sofort loslässt. Der Arm tut fürchterlich weh, doch es fließt kein Blut.

»Wohin bringt Ihr ihn?«, ruft eine Stimme. Es ist nicht Dees Mutter.

»Ins Marshalsea«, antwortet Bill.

»Es tut mir leid, aber ich fürchte, ich bedarf seiner dringender als das Schuldner-Gefängnis«, fährt die Stimme fort, und nun blicken Dees Häscher auf.

Unten am Fluss schaukeln zwei Boote mit an Bord gezogenen Rudern auf den Wellen und stupsen sacht gegen das Ufer. In jedem sitzen Männer, deren Äußeres es unklug erscheinen lässt, Streit mit ihnen zu suchen.

Am Bug des ersten befindet sich ein Herr, der in einen edlen schwarzen Umhang gehüllt ist.

»Würdet Ihr ihn bitte loslassen?«

Das ist keine Frage, und selbst Bill und Bob wissen, wann Widerspruch keinen Zweck hat, auch wenn es sie noch so sehr danach drängt.

Dee blinzelt in die Sonne. Er kennt diese Stimme, sagt aber nichts.

»Er gehört uns«, protestiert Bill.

»Er ist Untertan Ihrer Majestät, der Königin«, hält ihm die Stimme vor. »Und ich erhebe in Ihrem Namen Anspruch auf diese Person. Jetzt lasst ihn los, oder ich erschieße erst Eure Hunde und dann Euch.«

Einer nach dem anderen lassen sie von Dees Gliedern ab.

Er setzt sich auf, betastet seine Rippen und verwünscht seinen Sturz.

»Fehlt dir was, John?«

»Nein, Mutter.«

»Ihr werdet für ihn zahlen müssen«, fordert Bill. »Fünf Mark, acht Shilling und sechs Pence.«

»Hinzu kommen zusätzliche Ausgaben«, ergänzt Bob.

Francis Walsingham schüttelt den Kopf. »Das werdet Ihr vom Schatzamt einfordern müssen.«

»Ich glaube, ich würde lieber diesen zwei Gentlemen ins Gefängnis folgen, wenn es Euch nichts ausmacht, Master Walsingham«, sagt Dee.

»Ihr tut, was Euch befohlen wird!«, knurrt Walsingham mit vor Zorn verzerrtem Gesicht.

Bill und Bob, ihre Hunde und seine Mutter sehen zu, wie John Dee zu Master Walsingham ins Boot klettert und sich auf der Ruderbank neben einem Mann niederlässt. Es wird sich herausstellen, dass es sich bei ihm um Robert Beale, Walsinghams rechte Hand, handelt.

Die Ruderer stoßen sich vom Ufer ab und lenken das Boot ostwärts in Richtung London. Es wird wenig gesprochen, Dee tut der Arm weh, und in seinem Stiefel prangt ein Loch. Es ist schwül an diesem Morgen. Über den Fluss treiben Nebelschwaden, Überbleibsel des gestrigen Regens.

Nach vielleicht einer Stunde legt das Boot an den Stufen unterhalb des Towers an. Unwillkürlich überläuft Dee ein Schauer.

»Es gibt nichts zu befürchten, Dee.« Beale lächelt. Er scheint es tatsächlich so zu meinen.

»Noch nicht«, ergänzt Walsingham mit einem gequälten Grinsen.

Er muss Probleme mit den Zähnen haben, denkt Dee.

In Begleitung von fünf Hellebardieren gehen sie am Tower vorbei und die Seething Lane hinunter.

»Was soll das alles, Walsingham?«, fragt Dee.

Sie sind in Walsinghams merkwürdigem Garten angelangt. Hier wachsen kniehohe Hecken, allesamt in geometrischen Mustern angeordnet, die für Dee keinen Sinn ergeben. Er weiß zwar, dass er sich einigermaßen beeindruckt zeigen sollte, aber da er auf seinen Reisen durch Europa schon einiges gesehen hat, ist er es nicht.

Walsingham eröffnet das Gespräch mit dem Eingeständnis, dass sie früher vielleicht nicht immer eine Meinung waren und er zumindest eine Teilschuld an Dees momentaner Notlage trägt, schlägt dann aber vor, dass sie die Vergangenheit hinter sich lassen.

»Warum?«

Nach vielen Umschweifen erklärt Walsingham zu guter Letzt, wie er an das Da-Silva-Dokument gelangt ist, nur um es bald danach zu verlieren.

Als er von der Straße von Anian hört, drängt Dee, mit Leib und Seele Kartograf, auf Auskünfte über ihre geografische Lage und zieht einen sperrigen Gegenstand aus seinem Sack.

»Habt Ihr immer einen Globus dabei, wohin Ihr auch reist?«

»Zeigt sie mir einfach«, fordert Dee.

Aber das kann Walsingham nicht.

»Die betreffende Seite war verschlüsselt«, erklärt er.

»Und Ihr habt sie verloren? Alle schwärmen von Eurer Klugheit und Vorsicht, Walsingham, aber ich kenne Euch seit jeher als einen elenden Narren. Wisst Ihr überhaupt, wie wertvoll dieses Wissen ist? Die Nordwestpassage! Bei Jesus Christus, das hätte die Rettung unseres Landes bedeuten können! Wir hätten den Würgegriff des Papstes um die christliche Welt durchbrechen können! Und Ihr habt das Dokument verloren! Verratet mir nur eines: Warum lässt die Königin Euch überhaupt noch atmen? Euer Kopf hätte längst als Futter für die Krähen auf dieser Brücke über die Themse aufgespießt werden sollen, auch wenn er ein noch so karges Mahl abgäbe! Allmächtiger, wie konntet Ihr nur?«

»Das war nicht geplant, Dee!«, blafft Walsingham. »Ich hatte nicht die Absicht, es stehlen zu lassen.«

»Und was gedenkt Ihr jetzt zu tun?«

Einen Moment lang herrscht Stille. Sie sagt mehr als tausend Worte.

Dee lächelt.

»So«, sagt er schließlich. »Ihr braucht also meine Hilfe.«

Vorübergehend ist Walsingham aus dem Konzept gebracht. Dennoch ist er dankbar.

»Ja«, gibt er zu.

Fast wäre Dee in Lachen ausgebrochen.

Wie lange hat dieses Eingeständnis auf sich warten lassen?, fragt er sich, und unwillkürlich denkt er an sein letztes Gespräch mit Walsingham.

Es fand statt, nachdem Walsingham sich daran beteiligt hatte, Dees Ansehen als Berater der Königin auf den Gebieten der Astrologie und der Astronomie zu ruinieren, nur weil Dee nachgesagt wurde, er sei ein Zauberer, einer, der Magie ausübe. Dee erklärte ihm damals, dass er keineswegs Magie anwende, sondern eine Technik.

»Es gibt eine göttliche Kraft, die nur von Ihm beherrscht wird«, ließ er Walsingham wissen. »Sie dreht die Planeten, sorgt dafür, dass die Sonne auf- und untergeht, und auch für die Gezeiten. Unsere Ahnen wussten um diese Kraft, und sie verstanden es auch, darauf zurückzugreifen. Wir hingegen haben diese Kenntnisse verloren. Das Einzige, was uns geblieben ist, sind Ahnungslosigkeit und Aberglaube, was uns zu einer leichten Beute macht. Mit genügend Zeit und Geld könnte ich das verschollene dritte Buch von Johannes Trithemius’ Steganographia finden und mit seiner Hilfe jenes Wissen um die göttliche Macht bergen und nutzbar machen.«

Bei Walsingham kam er mit diesem Gerede nicht weit. Er beschied ihn kurz und bündig, dass die Königin keinen Bedarf an Gefährten von Höllenhunden oder Beschwörern von verdammten Geistern habe. Und dann eilte ihm auch noch dieser Dummkopf von Sir Thomas Smith zu Hilfe, mit dem Dee über die so jämmerliche wie gefährliche Kolonie in Irland gestritten hatte, die damals sein ganzes Geld und alles, was er sich noch von der Königin leihen mochte, wie ein Schwamm aufsaugte. Dabei hätte die Königin viel mehr davon gehabt, wenn sie ihr Geld woanders ausgegeben hätte, genauer gesagt: in der Neuen Welt. Dort liege die Zukunft, schloss Dee, nicht in Irland.

Das hat ihm Sir Thomas Smith nie verziehen.

Und was den unglückseligen Ärger mit dem Earl of Leicester betrifft, nun, der war unvermeidlich. Der Mann trug ja sogar ein Kettenhemd, weil so viele Leute ihn töten wollten!

Wie auch immer, am Ende wurde Dee hinausgeworfen und kehrte gedemütigt und mit leeren Händen zurück, ohne Aussicht, der Königin je wieder unter die Augen treten zu dürfen. Das dachte er zumindest.

Außerdem glaubte er, dass er keinem dieser Männer je ihre Machenschaften vergeben würde. Dennoch steht jetzt auf einmal Walsingham vor ihm und bittet ihn um Hilfe. Und obwohl er das eigentlich nicht wollte, schenkt Dee ihm sein Ohr und seine Zeit.

Dafür werde ich dich einen hohen Preis zahlen lassen, denkt Dee.

»Ich werde Gemächer benötigen«, beginnt er. »Darüber hinaus müssen all meine Bücher aus Mortlake zu mir gebracht werden, dazu meine Instrumente: mein Astrolabium und meine Kreuzstäbe, und zwar alle drei. Ich werde mich auch mit Gelehrten in der Ferne beratschlagen müssen, mit Männern wie …«

Doch jetzt greift Walsingham nach Dees Arm, als wolle er einen Freund vor einer Blamage bewahren.

»Nein«, sagt er, »hört mir zu. Es ist nicht diese Art von Hilfe, die ich benötige.«

Jetzt ist Dee derjenige, dem der Wind aus den Segeln genommen wurde. »Ihr braucht mich nicht, um die Nordwestpassage zu finden?«

»Nein, ich benötige Euch bei der Suche nach den verschollenen Seiten. Ich bin darauf angewiesen, dass Ihr sie für mich zurückholt.«

Dee starrt ihn ungläubig an. »Ich soll losziehen und sie zurückholen? Soll ich sie etwa stehlen

»Ja.« Walsingham nickt. »Ihr habt Zugang zu Bereichen der Welt, die mir verschlossen sind. Darum brauche ich Euch.«

Dee ist froh, dass einzig und allein Beale von seinen närrischen Hoffnungen auf eine verspätete Anerkennung weiß. Walsingham, der Dees Gesichtsausdruck ignoriert, fährt indessen fort. Er erzählt ihm, wie da Silvas gebündelte Blätter einem Spion namens Fellowes, den er wie einen Sohn geliebt hat, entwendet wurden, und berichtet auch von Mistress Cochet, die ihn ermordete.

»Und ausgerechnet sie war meine beste und klügste Agentin.« Er seufzt. »Von überwältigender Schönheit, mit einem für eine Frau ungewöhnlich scharfen Verstand und darüber hinaus noch vielen anderen Fähigkeiten.«

Worin diese bestehen, lässt er offen. Dee hört ohnehin kaum hin.

Gleichwohl plappert Walsingham munter drauflos, als glaube er, Dees Hilfsangebot würde noch gelten. So erzählt er ihm von der englischen Akademie in Reims und von seiner Theorie, dass der Bischof von Reims, Kardinal de Guise, Isobel dazu gezwungen haben könnte, so zu handeln, wie sie es getan hat. Derselbe de Guise, dem so sehr am »gegenseitigen Austausch des menschlichen Geistes« gelegen ist.

Dee schweigt. Er wünscht sich von Herzen, allein zu sein. Eine Zelle im Marshalsea käme ihm durchaus gelegen.

»Ich glaube, dass das Dokument jetzt dort ist«, fasst Walsingham seinen Bericht zusammen. »Ich glaube, dass Ihr es beim Kardinal finden werdet. Da Ihr einige Zeit bei Bischof Bonner verbracht habt, seid Ihr für Eure Sympathien für die Katholiken bekannt. Ihr könnt bei ihnen ein und aus gehen und versteht es, die richtigen Fragen zu stellen.« Jetzt erst bemerkt er Dees Entsetzen. »Was ist mit Euch?«

»Nein«, erklärt Dee. »Nein, das werde ich nicht tun. Eure Schmutzarbeit übernehme ich nicht, Master Walsingham. Die müsst Ihr selbst erledigen.«

»Aber … Dr. Dee …«

Es folgt eine Sturzflut von Versprechungen: Geld für mehr Bücher; Geld für die Gründung der Staatsbibliothek, die Dee schon immer wollte; Geld für die Finanzierung der Grabungen in den Welsh Marshes an der Grenze zu Wales, wo Dee den vergrabenen Schatz von König Arthur vermutet; ein Amt am Trinity College in Dublin. Darauf folgen die Appelle: an seine Güte, an seinen Patriotismus, an seine reformistischen Überzeugungen.

Nichts davon kann Dee erweichen.

»Nein, Master Walsingham. Ich will nicht so tun, als wünschte ich mir nicht, Ihr hättet da Silvas Karten nicht an die Spanier verloren und England müsste nicht den Verlust eines solchen Vorteils beklagen. Aber Ihr verdient es, dafür gehängt zu werden, und ich werde keinen Finger rühren, um Euch zu retten. Dafür werdet Ihr schon einen anderen Narren finden müssen.«

Walsingham lässt den Kopf hängen. Er weiß, dass Dee nicht unrecht hat und dass es wirklich keinen Grund gibt, warum er sein Leben für ihn aufs Spiel setzen sollte.

»Aber für die Königin? Für Eure Königin?«

Das bringt Dee für einen Moment durcheinander. Was weiß Walsingham? Was glaubt Walsingham zu wissen? Dann fasst er sich wieder.

»Das hat nichts mit ihr zu tun«, sagt er. »Setzt Eure Suche woanders fort. Mich könnt Ihr jetzt heimbringen. Oder … halt. Jetzt verstehe ich. Ins Marshalsea. Ich hätte es mir denken können. Trotzdem vielen Dank dafür, dass Ihr mich vor einer zweifellos unangenehmen Reise mit meinen Häscher-Freunden und ihren Hunden bewahrt habt.«

»Leider geht es nicht ins Marshalsea, Dr. Dee. Nicht für Euch.«

Dee blickt skeptisch drein, doch Walsinghams Gesicht ist rot angelaufen und verrät feste Entschlossenheit.

Die Wärter zeigen sich fast verständnisvoll, als sie Dee abführen. Es geht die Seething Lane hinunter und vorbei an den gepflegten Häusern der Ratsherren hinaus zu der freien Fläche vor dem Graben des Towers. Als sie die Brücke zum Byward Tower überqueren, beginnt Dee sich zu sträuben, aber es nützt nichts. Schneller, als man ein Vaterunser beten könnte, wird er die Stufen zum Beauchamp Tower hinaufgezerrt und in seine alte Zelle mit der vertrauten Aussicht gestoßen. Wenn er will, kann er den Blick auf die Mauer des White Tower und das dazugehörige Schafott genießen. Dann wird auch schon die Tür zugeknallt, der Schlüssel dreht sich, und Dunkelheit senkt sich über Dee.

»Oh, Scheiße«, stöhnt er, presst die Augen zu und ballt die Hände zu Fäusten. Mit dem Rücken zur Wand sitzt er da und wartet.

Vor vielen Jahren ist er schon einmal hier gewesen. Die Rhythmen dieses Ortes sind für ihn nichts Neues: das Läuten der Glocken; der Knall, mit dem die Türen zufallen; das Klappern der Absätze, wenn die Wärter vorbeimarschieren; das trostlose Krächzen der Raben im Wehrturm. Er weiß, wann das Essen kommt, wann die Eimer geleert werden; er weiß, wann die Beamten der Königin ihre Runde beginnen und wann er sich die Ohren zuhalten muss, um die Schreie der anderen auszusperren.

Wenigstens sind seine Hände nicht gefesselt.

Wenn er seinen Globus hätte behalten dürfen, könnte er ihn jetzt gründlich studieren, doch ohne ihn kann er auf nichts als seinen eigenen Verstand zurückgreifen. Er versucht, die Zeit zum Nachdenken zu nutzen, aber bald wird ihm klar, dass er ohne Stift und Papier nur vor sich hin träumt.

Walsingham kommt ihm in den Sinn. Was er, Dee, ihm gesagt hat, war nur zur Hälfte wahr. Dass jeder Walsingham als klugen und besonnenen Menschen kennt, trifft immerhin zu. Was nicht stimmte, war die Behauptung, Dee hätte ihn niemals für einen Dummkopf gehalten.

Wie auch immer, Walsingham ist klug, und das lässt den Verlust der Da-Silva-Dokumente nur umso verwunderlicher erscheinen. Eine solche Katastrophe passt einfach nicht zu ihm.

Hätten sie die Papiere doch nur! Wenn englische Seefahrer wie Frobisher, Hawkins oder sogar Drake eine Route durch die Straße von Anian fänden, könnten sie vielleicht Cathay erreichen und jene Länder erobern, so wie die Spanier Neu-Spanien unterworfen haben. Unermesslicher Reichtum würde von dort zurückfließen und die Schatztruhen Englands füllen. Dann wäre genug Geld vorhanden, um mehr Kriegsschiffe zu bezahlen, als Hawkins sich das in seinen kühnsten Träumen ausmalen konnte. Schiffe bemannt mit hervorragend ausgebildeten Seeleuten, denen es ein Leichtes wäre, die spanischen Galeonen zu vertreiben. Darüber hinaus bliebe genug für die Errichtung jener Bibliothek übrig, für die John seinerzeit die Königin gewinnen wollte.

Das viele Geld würde England in sämtlichen wichtigen Wissenschaften für immer einen Vorsprung vor all den anderen Mächten sichern: Astrologie und Astronomie, Navigation, Mechanik, Bergbau und natürlich Alchemie. England würde seinen Platz in der Neuen Welt einnehmen und die eigenen Werte und Moralbegriffe gegen die überkommenen Vorstellungen der dementen Papisten durchsetzen. Mit der Zeit würde dann auch die reformierte Religion vergehen, und die Menschen würden wieder lernen, die Weisheit der Ahnen zu verstehen und durch Selbsterkenntnis zu Gott vorzudringen.

Doch er will sich nicht länger mit Walsinghams Unfähigkeit befassen. Er weiß, dass man sich auf diese Weise selbst in den Wahnsinn treiben kann – auch ohne dass man einen Menschen auf die Streckbank oder das Rad spannt, wie sie es im Wakefield Tower gerne tun. Da denkt er lieber an seine Freunde in Deutschland und Holland und an jenen dritten Band von Johannes Trithemius’ Steganographia, der es ihm, wenn er ihn nur wiederfinden könnte, gestatten würde, mit einer ganzen Reihe von Männern Verbindung aufzunehmen: mit Gerardus Mercator, dessen große Karte die ungefähre Lage der Straße von Anian zeigt, oder mit dem inzwischen verstorbenen Gemma Frisius, der sich große Verdienste in der Landvermessung mithilfe der Winkelbestimmung erworben hat. Was würden wohl Männer wie sie mit da Silvas Behauptung, er habe die Nordwestpassage entdeckt, anfangen?

Zu guter Letzt schläft er endlich ein – oder zumindest glaubt das sein Wärter, als er durch das Guckloch späht. Tatsächlich befindet sich Dee jedoch in einem Zustand erleuchteten Wachseins, in dem es ihm gelingt, vergangene und bisweilen auch zukünftige Geschehnisse in der Gegenwart zu erleben. Soeben träumt er von den Ereignissen, die vor über fünfzehn Jahren unter Königin Mary zu seiner ersten Einkerkerung in dieser Anstalt geführt haben. Damals hatte er gerade seine Studien in den Niederlanden beendet und war soeben nach England zurückgekehrt.

Es war ihm gelungen, den jungen König Edward als Gönner zu gewinnen, was ihm gestattete, die Ursache für die Gezeiten sowie die Bewegungen der Himmelskörper zu studieren. Schon damals hatte er sich zusammen mit seinem Freund Gerolamo Cardano durch die Erstellung von Horoskopen für Personen, deren Geburtsdaten ihnen bekannt waren, einen gewissen Namen gemacht.

Zu denjenigen, deren Sternenkonstellation Dee errechnete, gehörte auch die junge Prinzessin Elizabeth.

Damals musste sie als uneheliche Halbschwester des Königs ein Dasein in einem merkwürdigen Schwebezustand fern des Hofes fristen. Doch aufgrund einer Verkettung von Verpflichtungen, die verschiedene Leute anderen gegenüber hatten, wurde Dee zu ihr nach Woodstock gerufen. Nach allem, was er über sie gehört hatte, fand er sich höchst neugierig bei ihr ein. Zu diesem Anlass trug er seinen Gelehrtentalar und einen nagelneuen Kragen. Zunächst überwältigte ihn ihre ätherische Schönheit gepaart mit ihrer zierlichen Gestalt. Wie ihr Vater hatte sie feuerrotes Haar, und ihre Haut war so blass, dass man fast hindurchsehen konnte. Doch das Beeindruckendste an ihr waren ihr scharfer Verstand und ihr klarer Blick.

Mein Gott, dachte er, welch ein Geist!

Sie war in einer angespannten Situation aufgewachsen, und ihre Zwangslage blieb gefährlich. Doch während andere sich vielleicht in ein angenehmes Leben im Überfluss gestürzt hätten, um sich über ihre Abgeschiedenheit hinwegzutrösten, betäubte Elizabeth ihren Schmerz mit dem Erwerb von Wissen. Von dem Moment an, da Dee sich zum ersten Mal vor ihr verneigte, bis zu dem Tag, an dem er sich rückwärtsgehend aus ihren Gemächern entfernte, hörte sie nicht auf, ihn mit Fragen zu bedrängen. Sie hungerte nach allem, was er ihr zu jedwedem Wissensgebiet sagen konnte, und so fing es an: ein Schreibsystem, das ohne Buchstaben auskam; Kenntnis über die Verstärkung der Schleusentore in Antwerpen; Vertrautheit mit Heilkräutern, die die Römer beim Grenzwall am nördlichen Rand ihres Reichs gepflanzt hatten; eine Vorrichtung zum Bewegen schwerer Lasten unter Zuhilfenahme von Hebeln und Flaschenzügen; flugunfähige Vögel auf bestimmten Inseln vor der Küste Afrikas.

Vor allem war sie fasziniert von seinem Astrolabium und sämtlichen Aspekten der Astronomie, der Astrologie und des Hellsehens. Darum war es nur natürlich, dass er ihr anbot, ihr ein Horoskop zu erstellen. Sie sei unter dem Sternkreiszeichen der Jungfrau geboren, erklärte er ihr, ein Schutzengel in jeder Hinsicht, praktisch veranlagt und arbeitsam, anspruchsvoll, misstrauisch gegenüber feurigen Gefühlsbekundungen, auch wenn Letzteres nicht wirklich zutraf.

Außerdem verhieß die Konstellation, dass sie wahrscheinlich das Leben einer alten Jungfer führen werde.

»Ärgert Euch das?«, fragte er.

Sie genehmigte sich einen Mundvoll von dem gebratenen Schwan, den man ihnen zum Abendessen aufgetragen hatte.

»Wir werden sehen«, sagte sie.

Damals war sie achtzehn, sechs Jahre jünger als er, doch jegliche Anwandlungen, ihre körperliche Nähe zu suchen, wurden im Keim erstickt, sobald er daran dachte, was ihre Schwester mit ihm anstellen würde, sollte er seiner Sehnsucht nachgeben. So hielt er sich zurück und gab sich alle Mühe, die Prinzessin zu mäßigen und in eine Richtung zu lenken, von der er annahm, dass sie eines Tages von großem Nutzen sein würde.

Aber für wen und inwiefern?

Zunächst war Gerolamo Cardano aufgefordert worden, dem König, Elizabeths Bruder, ein Horoskop zu erstellen, denn der König war ein kränkliches Kind, und die Deutung seiner Sternenkonstellation sollte seinen Ärzten helfen, den richtigen Behandlungsweg zu wählen. Cardano weissagte, dass der Junge von einer schweren Krankheit bedroht werde – was jeder, der Augen im Kopf hatte, sehen konnte –, aber durchaus ein hohes Alter erreichen könne, wenn er sie überstehe. Nur überstand er sie nicht und war eine Woche später tot.

Cardano floh aus dem Land. Wie ihm das rechtzeitig gelingen konnte, hat Dee nie verstanden.

Obwohl manche ihr Möglichstes taten, um das zu verhindern, bestieg seine Halbschwester Mary den Thron und begann, die religiösen Reformen ihrer Vorgänger rückgängig zu machen.

Ein paar Monate lang war alles gut.

Königin Mary berief sogar Dee als ihren astrologischen Berater an den Hof, und in dieser Eigenschaft erstellte er ihr ein persönliches Horoskop: Sonne im Zeichen der Fische, Mond in dem der Jungfrau, Mars im Steinbock. Sie war entschlossen, kalt und tüchtig, dabei bisweilen ungestüm, wenn es daran ging, Pläne in die Tat umzusetzen. Diese Eigenschaften beschönigte er ihr gegenüber ein wenig. Um ihre Fähigkeit zu lieben, war es schlecht bestellt, und Kinder sah er nicht. Letztere Details behielt er wohlweislich für sich.

Doch dann beging er einen Fehler.

Prinzessin Elizabeth bat ihn, die Vorhersage für ihre Schwester sehen zu dürfen, und er zeigte sie ihr.

Was konnte das schon schaden? Nichts, dachte er. Oder vielmehr: Er dachte überhaupt nicht. Elizabeth war einfach auch daran interessiert – wie an so gut wie allem.

Nur kam das nicht allen am Hof so vor. Gerüchte verbreiteten sich, und bald hieß es, Dee verfolge finstere Absichten: Er habe Kinder verhext; er habe eine Frau mit einem Zauber belegt; er schmiede Pläne, die Königin zu ermorden und Prinzessin Elizabeth auf den Thron zu setzen.

Im Palast der Prinzessin platzierte Spione meldeten der Königin, dass er und die Prinzessin über das Horoskop der Herrscherin gesprochen hatten, und binnen einer Woche wurde er im Garten des Hampton Court Palace von Häschern ergriffen, gefesselt auf ein Boot verfrachtet und die Themse hinunter zum Tower gefahren. Seine Gemächer wurden versiegelt und durchsucht, und danach wurden die wildesten Anschuldigungen erhoben: Er würde Höllenhunde sowie die Geister Verdammter herbeibeschwören und habe am Hofstaat der Königin nichts zu suchen.

Auf diese Weise wurde sein Ruf zerstört, wenn auch nicht sein Körper, wie es bei so vielen anderen geschah, die auf der Streckbank gefoltert und dann verbrannt wurden. Doch endlose Wochen lang wurde Dee über seine Absichten und Gepflogenheiten verhört und in verschiedenen Kerkern in und um London herum eingesperrt, vor allem aber im Palast des Bischofs und eine sonderbare Woche lang hier, in dieser Zelle im Beauchamp Tower.

Seine Eingeweide verflüssigten sich, als sie ihn zum ersten Mal bei Nachteinbruch hierherbrachten und über ihm eine Glocke dröhnte.

»Ich bin kein Verräter!«

»Schön.«

In jener Nacht betete er bis zum Morgengrauen, und als der Aufseher ihn fand, lag er noch immer auf den Knien.

»Ich dachte immer, du seist gottlos.«

»Im Beauchamp Tower ist das keiner«, entgegnete Dee. »Außerdem ist die Sache viel komplizierter.«

An diesem Tag führten sie ihn wieder zum Gerichtshof, wo ihn mehrere Richter und Geistliche ins Kreuzverhör nahmen. Bei jeder Frage fürchtete er um sein Leben, denn er hatte bereits vom Fluss aus gesehen, wie sich der Himmel über dem Norden der Stadt vom Rauch der Scheiterhaufen verdunkelte, auf denen die Märtyrer brannten. Die Luft schien angesichts ihrer Qualen förmlich zu knistern.

Am zweiten Tag seiner Gefangenschaft sah Dee sie dann wieder – Elizabeth. Sie wanderte auf der Mauer zwischen dem Bell Tower und dem Beauchamp Tower hin und her. Sie war dunkel gekleidet und wirkte kränklich, aber es war unverkennbar sie. Er verneigte sich vor ihr, so gut es seine Handfesseln eben zuließen, und auch seine Wächter – es waren vier – zeigten ein gewisses Verständnis für die Notlage der Prinzessin. Zwar war es auf ihren Wunsch zurückzuführen, dass er ihr die Zukunft der Königin gezeigt hatte, aber das war nicht der Grund für ihre Einkerkerung. Vielmehr hatte Elizabeth den Rebellenführer Thomas Wyatt bei seiner Revolte gegen die Hochzeit von Königin Mary mit Philipp von Spanien unterstützt.

Elizabeth erkannte Dee und beobachtete, wie er wieder in seinen Kerker abgeführt wurde. Dabei hob sie zum Zeichen ihrer Anteilnahme eine Faust.

Kaum war die Tür seiner Zelle wieder hinter ihm ins Schloss gefallen, eilte Dee zum Fenster, durch das er einen guten Blick auf die Mauer hatte, wenn er den Kopf nur weit genug durch die Öffnung zwängte. Elizabeth stand immer noch ganz oben.

»Mylady!«, rief er. »Mylady!«

Sie lächelte ihn an, Tränen der Freude in den Augen, weil er noch lebte. Und er wünschte sich nichts mehr, als eine Hand nach ihr ausstrecken zu können, nur um noch einmal ihre Fingerspitzen zu berühren, doch das sollte nicht sein.

Dennoch verbrachten sie, allen Widrigkeiten zum Trotz, manche Tage genauso wie in der Zeit vor der Gefangenschaft – mit langen Diskussionen und bisweilen auch Gelächter. So wurde eine Zeit, die die Hölle auf Erden hätte sein können, einigermaßen erträglich, weil Elizabeth von ihrem Posten auf der Mauer immer wieder nach ihm rief. Zwar galt sie als Gefangene, aber da sie nun einmal auch die Schwester der Königin war, drückten die Wächter in der Regel ein Auge zu.

»Dr. Dee! Dr. Dee!«

Die Stimme ist hartnäckig. Doch sie kommt nicht aus der Vergangenheit und auch nicht aus seinen Wachträumen, sondern aus der Gegenwart.

»Dr. Dee!«

Es ist eine Frauenstimme, eine, die er schon länger nicht mehr gehört hat, aber nicht vergessen kann. Seine Königin! Eingerahmt von den Türpfosten steht sie da, in einem dunkelblauen Leinenkleid mit hohem Kragen, das Haar unter einem juwelenbesetzten Netz.

Dee steht auf, klopft sich den Staub aus den Kleidern und verbeugt sich. »Eure Majestät.«

»Wir haben Euch doch nicht gestört?«, fragt sie und gestattet ihm, ihre Hand zu ergreifen und die Lippen auf die behandschuhten Knöchel zu pressen. Heute trägt sie vier Ringe: Einer ist mit einem Diamanten besetzt, zwei mit Rubinen und einer aus purem Gold. Sie riecht nach Myrrhe.

»Ich war gerade in diesem Moment dabei, dem Stein der Weisen auf die Spur zu kommen«, sagt er.

»Und dabei habt Ihr geschnarcht?«

»Eine List, um ungestört zu bleiben.«

»Habt Ihr denn Erfolg damit?«

»Keinen großen. Allerdings habe ich nicht mit Besuch gerechnet. Ich hätte einen Kuchen backen sollen.«

»Das hätte Uns gefallen.« Sie lächelt, wirkt dabei aber angespannt. »Es wäre sicher besser gewesen als das, was mich in Hill Hall erwartet.«

»In Hill Hall? Dort lebt Thomas Smith. Besucht Ihr ihn denn?«

»Ja.« Sie seufzt. »Ich muss mich den Menschen von Essex zeigen, wurde mir gesagt. Also geht es weiter nach Hill Hall. Wenn ich könnte, würde ich lieber hierbleiben.«

Das Gespräch stockt. Dee spürt, dass seine Augenbrauen nach oben wandern. »Ja?«

Elizabeth seufzt erneut. Sie fächelt sich mit einem nach Mädesüß duftenden Tuch Luft zu, um den üblen Gefängnisgestank zu vertreiben. Beschämt denkt Dee an den Eimer in der Ecke, der seinen Kot enthält. Die Königin durchquert indes die Zelle und schaut durch das Fenster über die Vorburg und das Schafott hinweg zur Kirche.

»So«, sagt sie.

»So«, erwidert er.

»Es tut mir leid, dass ich Euch erneut in einer Notlage antreffe, John. Das war nicht meine Absicht.«

»Nicht? Hat also Master Walsingham wieder einmal seine Kompetenzen überschritten?«

Sie seufzt. »Er tut, was er tun muss.«

»Muss er mir unbedingt mit dem Tod drohen?«

»Hat er das getan?«, fragt sie mit einem vagen Lächeln zurück.

Dee murmelt eine unverständliche Antwort. Eigentlich nicht, nimmt er an.

»Mir hingegen wird mit dem Tod gedroht«, sagt Elizabeth. »Täglich.«

Mit einem Mal sieht Dee, dass sie gealtert ist. Ihre einst glänzende Haut ist dünner und trockener geworden und hat Risse bekommen. Unter den Augen hat sie Puder aufgetragen.

»Ihr seht wirklich müde aus, Bess«, murmelt er.

»Nennt mich nicht noch einmal so!«, faucht sie, Zornesfalten im Gesicht, und durchbohrt ihn mit ihrem Blick. Dieselben blauen Augen, mit denen sie ihn damals angesehen hat, als sie gemeinsam im Gefängnis eingesperrt waren und sie noch lange nicht Königin war.

»Gut, Ihr wirkt besorgt«, korrigiert er sich. »Eure Majestät.«

Sie funkelt ihn an. Einen Moment lang befürchtet er, sie verloren zu haben. Vielleicht sind sie einander zu fremd geworden, um gemeinsam über Scherze zu lachen. Um in die Rolle der Königin zu schlüpfen, musste sie ihr Wesen von Grund auf ändern.

Doch gerade als ihn Trauer und Angst zu überwältigen drohen, lächelt sie und stößt einen langen Seufzer aus.

»Es ist lange her, John.«

»Allerdings, Eure Majestät.«

Sie nickt. Ihre Augen huschen hin und her. Sie benetzt sich die Lippen.

»Es tut mir leid, dass ich erst in dieser Stunde meiner Not komme«, beginnt sie und verzichtet dabei auf jede majestätische Pose, sodass sie tatsächlich wieder mehr der Bess von früher gleicht, die er mit Beschreibungen des mythischen Reichs von Prester John ablenken konnte, in dem Milch und Honig flossen, Gift keinen Schaden anrichtete und es keine unerträglich laut quakenden Frösche gab. »Aber das Unheil hat seinen Lauf genommen, und jetzt sind dieses Land, unsere Nation und mein eigenes Leben bedroht. Natürlich hat Master Walsingham mir genau erklärt, welche Gefahr uns droht, und auch erwähnt, dass er mit seiner Bitte an Euch herangetreten ist, die Ihr als … unzureichend bezeichnet habt.«

Dee ist sich all dessen nur allzu schmerzhaft bewusst. Nun versucht er, Worte zu finden, die seine Verachtung für Walsingham deutlich machen, ohne dass er dabei schäbig oder rachsüchtig wirkt. Doch das ist ihm einfach nicht möglich, und natürlich ahnt Elizabeth die Antwort ohnehin schon.

»Ich weiß, Ihr habt gute Gründe, Master Walsingham abzulehnen und ihm zu misstrauen. Aber in dieser Angelegenheit mit Mistress Cochet gibt es eine Sache, die er Euch verschwiegen hat. Doch genau dieser Aspekt macht deutlich, warum er sie nicht als Gefahr für eine Maßnahme wahrgenommen hat, die unter anderen Bedingungen als Bravourstück eines jeden Agenten hätte gelten können.«

Dee hört ihr schweigend zu.

»Mistress Cochet, die Frau, die das Dokument stahl, hat eine Tochter, Rose. Das Mädchen ist ungefähr sechs Jahre alt, und der Vater ist tot. Er ist in Walsinghams – und darum meinen – Diensten gestorben. In jeder Hinsicht ist Rose für ihre Mutter einfach alles.«

Elizabeth – die gerade erst drei Winter alt war, als ihr Vater ihrer eigenen Mutter nur wenige Schritte von der Stelle entfernt, an der sie jetzt steht, den Kopf abschlagen ließ – wirkt bei diesen Worten so unendlich traurig, dass Dee sie am liebsten in den Arm nehmen würde.

Wie schlecht würde das wohl ausgehen?, fragt er sich.

Sehr schlecht, gibt er sich zur Antwort. Also wartet er darauf, dass sie zu Ende berichtet.

»Aber Rose ist entführt worden«, fährt die Königin fort.

Dee stutzt. »Tot?«

»Nein. Entführt. Von wem auch immer. Nach dem Raub der Dokumente hat Master Walsingham mehrere von seinen Leuten zu dem Mädchen entsandt und musste erfahren, dass Rose in derselben Nacht aus seinem Bett verschleppt worden war. Ihr Großvater, der irgendwo an der Südküste Bürgermeister ist – in Dover, glaube ich –, hoffte ursprünglich, sie würde einfach allein durch die Gegend streifen, und ließ nach ihr suchen, doch sie war nicht aufzufinden. Schließlich entdeckte man eine Nachricht.«

»Eine Nachricht? Wo? Und wo hat man das Kind überhaupt verschleppt?«

»In der Nähe von Sandwich. Dort wurde die Kleine immer untergebracht, wenn ihre Mutter für Master Walsingham arbeitete.«

Von Sandwich zur französischen Küste ist es nur ein Katzensprung.

»Was stand in dieser Nachricht?«

»Dass das Mädchen in Sicherheit sei, aber niemand etwas erfahren dürfe. Lediglich der Mutter solle man das Verschwinden der Kleinen bestätigen, wenn sie danach frage.«

»Wann war das?«

»Vor zwei Wochen.«

»Und hat die Mutter nach ihr gefragt?«

»Ja.«

Dee kratzt sich am Kinn.

Schlau, denkt er. Oder die Entführer haben einfach nur Glück. Oder vielleicht hätte Walsingham mehr für den Schutz der Kleinen tun sollen, wenn er schon ihre Mutter solchen Gefahren aussetzt. Wo führt das alles nur hin? Der Fehler liegt wohl darin, dass jemand dahintergekommen sein muss, für wen Isobel Cochet arbeitet. Aber wer könnte dieser Jemand sein? Wenn es gelänge, das herauszufinden, wüsste man, wer das Mädchen hat, und dann hätte man Klarheit darüber, wer ihre Mutter dazu gezwungen hat, die Da-Silva-Dokumente zu stehlen.

Betrübt schüttelt Elizabeth den Kopf. »Wir wissen viel zu wenig. Walsingham glaubt, dass der Kardinal von Lothringen, der Bischof von Reims, dahinterstecken könnte. Er ist der Onkel meiner schottischen Großcousine und hat viel zu gewinnen, wenn sie an meiner Stelle den Thron von England besteigt.«

»Richtig, Walsingham hat de Guise erwähnt.«

»Ihr kennt ihn?«

»Ein schlauer Fuchs. Walsingham und er sind aus demselben Holz geschnitzt – immer darauf aus, andere die Schmutzarbeit für sich erledigen zu lassen.«

»In diesem Fall besteht die Schmutzarbeit, die er im Auge hat, darin, mich mit der Hilfe Spaniens von meinem Thron zu jagen.«

Ein Hebel, denkt Dee. Ein Hebel, um eine schwere Last zu bewegen.

»Und wo ist er jetzt?«, fragt er. »In Reims?«

Elizabeth schüttelt den Kopf. »Walsingham ist in Verbindung mit jemandem an der englischen Akademie in Cambridge. Was den Kardinal betrifft: Er ist seit über einem Monat nicht mehr gesehen worden. Niemand weiß, wo er sein könnte.«

Das also ist das Problem, denkt Dee. Der alte Fuchs hat sich in seinen Bau verkrochen und seine Beute gleich mit hinuntergezogen. Sie werden erst wissen, wo er steckt, wenn er als Erzbischof von Canterbury wieder auftaucht.

Elizabeth reißt ihn aus seinen Gedanken. »Ihr habt einmal von einer Macht gesprochen, die im Kosmos wirkt und zwischen allen Dingen vermittelt. Von einer Kraft, die es schon immer gab und die von den Alten verstanden wurde, die wir heute aber Gott überlassen haben.«

Dee nickt. So verhält es sich mehr oder weniger.

»Ihr habt von einem deutschen Gelehrten gesprochen, der glaubte, dass es eines Tages möglich sein würde, diese Kraft wiederzuentdecken, und dass ein Mensch vielleicht ins Innere dieser Kraft gelangen und mit ihr verschmelzen könne. Sie wäre dann er und er sie, und so wäre er in der Lage, diese Kraft für seine eigenen Zwecke zu nutzen.«

Dee weiß schon, was sie als Nächstes fragen wird.

»Ich muss Euch enttäuschen, Bess … Eure Majestät, meine ich. Aber seit unseren Gesprächen in Woodstock habe ich über ein Jahrzehnt damit zugebracht, Bücher zu lesen, in denen von anderen Büchern die Rede ist, die angeblich den Schlüssel zu solchen Dingen enthalten. Aber obwohl ich das ganze Abendland nach diesen Werken abgesucht habe – von Krakau bis Cádiz, von Paris bis Posen –, bin ich nie fündig geworden. Allerdings bin ich nicht daran verzweifelt, denn wie Ihr wisst, bin ich von optimistischer Wesensart und habe nie die Hoffnung aufgegeben, sie eines Tages zu entdecken. Andererseits sehe ich keine Möglichkeit, irgendetwas zu erreichen, solange ich auf Master Walsinghams Befehl hin eingekerkert bin.«

Elizabeth ist sichtlich enttäuscht.

»Glaubt Ihr nicht, ich hätte die Welt nicht längst verändert, wenn ich dazu in der Lage wäre?«, setzt Dee sogleich nach. »Ist meine Gefangenschaft hier im Tower nicht der Beweis dafür, dass ich es nicht in der Hand habe, ihren Lauf zu beeinflussen? Wer, Bess, würde denn aus freien Stücken in einen alten Eimer scheißen?«

Jetzt bricht sie in Lachen aus, in ein trauriges Lachen. Ihre Hoffnung war närrisch, wie sie nun erkennt.

»Es gibt Schlimmeres«, erwidert sie.

Und er glaubt ihr aufs Wort, dass sie weiß, wovon sie spricht. O ja, sie kennt das alles aus eigener Erfahrung. Doch jetzt ist nicht der Zeitpunkt, darüber zu sprechen.

»Nicht, wenn der Eimer seit dem letzten Gast hier nicht geleert wurde«, scherzt er.

Sie wendet den Blick ab.

In diesem Moment läutet die Kirchenglocke. Elizabeth hat zu lange hier verweilt. Eilig zieht sie das Cape straffer um die Schultern.

»Ich war nicht so töricht, mir einzubilden, Ihr könntet den Lauf der Welt verändern«, erklärt sie. »Aber ich betrachte Euch immer als meine Augen, John. Als jemanden, der es vermag, auch in der Nacht klar zu sehen, während andere durchs Dunkel stolpern.«

Bei diesen Worten senkt er den Blick. Nun fällt es ihm wieder ein. Wie sie ihm einmal anvertraute, pflegte sie ihn schon in ihrer Jugend »ihre Augen« zu nennen: weil er so viel mehr von der Welt gesehen hatte als sie – damals zumindest – und weil sie geglaubt hat, er wisse, wie alles miteinander zusammenhängt. Nicht nur die Planeten und die Sterne, sondern auch die Männer und Frauen auf dieser Welt, die Wege der Macht und der Privilegien, deren Gebrauch und Missbrauch. Einmal hat er in einer törichten Anwandlung für sie ein Zeichen in die Wand seines Hauses geritzt, das sie symbolisieren sollte: zwei Augen und eine flache Hand mit nach unten zeigendem Daumen darüber, um sie vor der Sonne abzuschirmen. Das Ganze sah eher wie zwei Nullen und eine liegende Sieben aus. Wahrscheinlich ist es immer noch dort.

»Ich hoffte, Ihr würdet mir helfen, das, was verloren gegangen ist, zu bergen«, fährt sie fort, offenbar eingedenk ihrer damaligen Nähe. »Wenn nicht um Master Walsinghams willen, dann für Euer Land, und wenn nicht für Euer Land, dann für meines. Für mich.«

Einen schier endlosen, unbehaglichen Moment lang starrt sie ihn an, und Dee fehlen die Worte. Dann dreht sie sich abrupt um und geht.

Als sie weg ist, findet er seine Sprache wieder, doch da ist es schon zu spät, um all das ungeschehen zu machen, was er getan hat; um all das zu tun, was er versäumt hat.

In dieser Nacht träumt Dee von Fluten, die über weite Sandflächen hinwegspülen, von einem Berg, von einer läutenden Glocke und vom Erzengel Michael.

Am Morgen ruft er: »Holt Walsingham!«