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Beauvoir, Normandie, 9. September 1572

John Dee hat nichts gegen Pferde, doch dieses ist nicht nur mager, sondern hat überdies einen Rücken so schmal wie eine Nadel. Am Ende ist er froh, aus dem Sattel steigen zu dürfen. Er schirmt die Augen gegen die Abendsonne ab und späht nach Süden zu einem weit vor der Küste aufragenden Felsen – eine isolierte, einsame, uneinnehmbare Burg, aus der ganz oben eine Turmspitze hinauf zu Gott weist.

Mont-Saint-Michel, Eigentum des Kardinals von Lothringen.

Eine ganze Weile steht Dee da und sieht zu, wie die Flut hereinbricht. Er hat sich sagen lassen, dass das Wasser schneller steigt, als irgendein Pferd im Abendland laufen kann, und das Watt sich mit beängstigender Geschwindigkeit in eine Meereslandschaft verwandelt. Er beginnt zu frösteln und führt sein Ross längs des nördlichen Ufers eines frisch entstandenen Flusses weiter. Jetzt wünscht er sich, er wäre mit einem Boot gekommen.

»Ich mag es nicht, auf dem kürzesten Weg zu reisen«, hat er wenige Tage zuvor Walsingham erklärt, als sie im Hafen von Sandwich am Kai standen und verfolgten, wie sein Boot mit Wollballen für den Markt von Antwerpen beladen wurde.

Walsingham verdrehte die Augen. »Seid Ihr Euch da wirklich sicher, Dee? Ist Euch das etwa in einem Traum offenbart worden? Wir verwetten die Zukunft auf etwas, was Ihr im Schlaf gesehen habt?«

»Walsingham, Ihr werdet mir einfach vertrauen müssen«, antwortete Dee.

Das Geräusch, das Walsingham daraufhin von sich gab, war nicht geeignet, in den Buchstaben irgendeines Alphabets wiedergegeben zu werden.

»Nicht ich bin die Person, die Euch und Euren Träumen vertraut, Dee«, sagte er. »Es ist die Königin. Sie setzt auf all Eure Träume und Eingebungen. Na ja.«

»Und die haben mich noch nie im Stich gelassen«, erwiderte Dee, obwohl er sich keineswegs sicher war, dass das wirklich zutraf. Aber auf geradezu absurde Weise freute es ihn zu hören, dass Bess immer noch an ihn glaubte.

»Wir werden sehen«, meinte Walsingham. »Also, reist mit Gott. Wir werden ein Schiff entsenden, das Euch vor Nez Bayard in Empfang nehmen …«

»Ja, ja, Walsingham. Am Tag des Fests der Erhöhung des Heiligen Kreuzes, ich weiß. Ich werde das Feinste vom Feinsten erwarten: Jungfrauen, Schwäne, Samt und so weiter.«

Darauf knurrte Walsingham etwas Unverständliches. Und als das Boot endlich in Calais anlegte, schwang sich Dee eilig in einen Sattel, wedelte mit dem Pass, den Walsingham für ihn hatte fälschen lassen, und preschte so schnell wie möglich in Richtung Avranches. Falls sein Traum ihn in die Irre geführt hatte, dann war es wohl das Beste, den Fehler möglichst bald zu erkennen.

Nach fünftägigem Ritt auf den flinksten Pferden erreichte er – mit wund gescheuertem Gesäß und des ewigen gepökelten Hammelfleischs mehr als überdrüssig – das Lion d’Or.

»Seid Ihr ein Pilger, M’sieur?«, fragte der Wirt und schenkte ihm einen kräftigen Schuss Calvados ein.

»Das bin ich«, bestätigte Dee und bestellte gleich noch ein Glas.

Jetzt ist er wieder hier auf dem Marktplatz, die mit den Schuhbändern zusammengeschnürten Stiefel um den Hals gehängt, und wartet in der Morgendämmerung inmitten einer Gruppe von etwa zwanzig Wallfahrern, alle barfuß wie er. Ihr Fremdenführer, ein mürrischer Normanne mit Schnauzbart in der Farbe von nassem Stroh, Stiefeln aus Seehundleder und einem geölten Hut, erzählt ihnen, wie es zur Errichtung des Klosters kam, nachdem der Erzengel Michael dem Bischof von Avranches im Traum erschienen war.

»Der Bischof hat den Erzengel nicht ein Mal und auch nicht zwei Mal mit Missachtung gestraft, sondern drei Mal – bis der Gesandte des Himmels ihm ein Loch in die Stirn brannte. Danach hielt Bischof Aubert es für das Klügste, endlich zu gehorchen.«

So wurde die Abtei auf einem schroffen Felsen inmitten einer weiten Einöde aus schlammigem Sand und Wasser erbaut, wo Ebbe und Flut sehr, sehr schnell einsetzen und sich nie voraussagen lassen.

»Nach London ist das der tückischste Ort der Welt«, fährt der Fremdenführer fort. »Meistens steigt das Wasser auf das Dreifache der Größe eines Mannes, aber manchmal ist es sogar fünfmal so hoch. Es kommt schneller, als ein Pferd galoppiert, und es kann passieren, dass man in einem Moment noch glaubt, auf festem Boden zu stehen, die Stelle sich aber im nächsten blitzschnell in dünnflüssigen Schlamm verwandelt, man versinkt, und schon ist’s vorbei.«

Auch wenn einige nervös lachten, sei das überhaupt nicht lustig, warnt er.

Viele Pilger seien gestorben – ertrunken oder von flüssigem Sand in die Tiefe gezogen worden. Das sei auch der Grund, warum die Besucher ihn dafür bezahlen müssten, dass er sie durchs Watt zu dem Felsen führe, der mit der Abtei das ganze Gebiet beherrsche, so weit das Auge reiche.

»Wer es auch nur einen Augenblick zu früh versucht, ertrinkt. Wer es einen Moment zu spät versucht, ertrinkt.«

In der Morgendämmerung brechen sie auf; die Esel verbreiten einen strengen Geruch. Nebelschwaden treiben im Wind, und Dee fröstelt. Ihm ist nicht wohl. Er treibt seinen Esel an.

»Ist der Abbé da?«, fragt er und deutet mit dem Kinn in Richtung des hinter Nebelschwaden verborgenen Felsens.

»Natürlich«, bestätigt der Fremdenführer.

»Sonst noch jemand?«

»Meine Schwester. Sie hat sehr viel zu tun.«

Er dehnt das Wort sehr zu einem seeeeehr. Arbeitet sie dort als Köchin? Als Hure? Dee hofft, dass sie besser aussieht als ihr Bruder. Natürlich tut sie das, etwas anderes ist praktisch nicht möglich. Doch was bedeutet das schon?

Sie reiten über flaches Marschland. Hohes Gras biegt sich in der salzigen Brise. Dee hört zwar Möwen schreien, aber nicht die üblichen Laute des Meeres. Dann, endlich, lassen sie den Nebel hinter sich und erreichen das Watt. Und schließlich erblickt er am Ende des langen Dammweges den Mont-Saint-Michel selbst. Bei bestimmten Lichtverhältnissen wirkt er magisch, doch heute Morgen erscheint er beängstigend. Eine Vielzahl von Turmspitzen aus grauem Granit, geschützt von einer furchterregenden Burgmauer, reckt sich Gott entgegen.

Mont-Saint-Michel ist die einzige Burg in der Normandie, die den englischen Armeen unter König Henry V. nicht zum Opfer gefallen ist, und wer das Bauwerk vor sich sieht, wundert sich nicht darüber. Doch der Fremdenführer widmet seine ganze Aufmerksamkeit der riesigen Sandfläche um die Burg herum, die bei Ebbe zum Vorschein kommt.

Einer der französischen Pilger – der am wenigsten fromme Teilnehmer, der, wie Dee vermutet, wohl nur eine Frau beeindrucken will – erkundigt sich, ob es zutrifft, dass König Louis auf der Insel ein Gefängnis bauen ließ.

Der Fremdenführer bestätigt das.

»Wie ich gehört habe, soll es dort ein Verlies geben, das bei Flut überschwemmt wird«, raunt der Pilger in einem Ton, als wäre der Tower im Vergleich dazu ein Palast.

»Gewiss«, sagt der Führer. »Und außerdem einen eisernen Käfig, dessen Größe man dem jeweiligen Gefangenen anpassen kann. Wenn mir nun alle im Gänsemarsch folgen würden … und bitte nicht stehen bleiben.«

Sie reiten weit hinaus über verschlammten Sand. Zwei, vielleicht drei Bogenschüsse weiter südlich sehen sie das Meer schimmern.

Wie bedrohlich es wirkt, denkt Dee.

Hinter ihm sind alle verstummt. Vielleicht ist es der Anblick, der sie überwältigt hat, oder sie denken gerade an ihre kalten Füße und die Gefahren des Treibsands um sie herum.

Sie reiten weiter, bis sie das äußere Burgtor erreichen, das von fünf Soldaten mit Stahlhelm und Umhang bewacht wird. Aus einer Kohlenpfanne, an der sie sich wärmen, steigt schwarzer Rauch auf, so viel, dass Dee ihre Farben für einen Moment nicht sehen kann. Wenn sie nicht zu de Guise gehören, hat er seinen Traum falsch gedeutet. Er wappnet sich für die Erkenntnis, dass er sich getäuscht hat und unverrichteter Dinge den ganzen Weg über den Sand zurückreiten muss, bevor die Flut kommt. In dem Fall wären all die Mühen der letzten zwei Wochen umsonst gewesen, und er hätte seine Zeit verschwendet. Zeit, die er nicht hat. Er spürt, wie sein Herz vor Anspannung einen Schlag aussetzt.

Dann endlich bewegt sich einer der Soldaten. Sein Umhang öffnet sich. Farben kommen keine zum Vorschein, denn er trägt einen Brustharnisch.

Hoffnung keimt in Dee auf. Wer legt denn schon einen Brustpanzer an, bloß um einen einfachen Geistlichen zu schützen?

Doch nun taucht ein zweiter Mann auf, und der trägt keinen Umhang. Sein Wams ist senffarben und pflaumenblau gestreift, die Farben von de Guise.

Dee lässt alle Luft in einer Dampfwolke entweichen.

Er hatte recht: Der Kardinal ist in der Gegend.

Aber ist auch Isobel Cochet hier?

Die Soldaten sind so gelangweilt, dass selbst die Gruppe Barfußpilger ihr Interesse weckt. Sie beobachten die Wallfahrer dabei, wie sie vor dem Tor von ihren Eseln steigen. Dee, der es versteht, sich älter zu stellen, als er ist, hält sich, einer Eingebung folgend, nahe bei zwei Frauen aus Angoulême und schreitet hinter ihnen durch das Tor in einen Innenhof. Dort halten sich noch mehr Männer mit Stahlhelmen auf. Bisher hat er zehn gezählt, alle in den Farben von de Guise.

Der Fremdenführer fordert die Pilger auf, es bei kurzen Gebeten zu belassen und sich nach höchstens drei Stunden wieder am Tor einzufinden, wenn sie sicher zurückkehren wollen.

»Wer länger bleibt, muss die ganze Nacht hier verbringen.«

Der Führer gesellt sich zu der ersten Gruppe von Soldaten und sieht, verdrießlich an den Enden seines Schnurrbarts kauend, den Pilgern dabei zu, wie sie ein weiteres Tor passieren, an dem noch einmal fünf oder sechs Soldaten postiert sind. Auf der anderen Seite kauern sich die Pilger nieder und beginnen, auf den Knien rutschend, den langen Aufstieg. Vorbei an dicht beieinanderstehenden Häusern windet sich die Straße schlangenförmig um den Berg. Das Kopfsteinpflaster ist holprig, aber sauber. Noch mehr Soldaten sind hier postiert. Sie und eine Handvoll Bedienstete der Abtei, die hier ihre Arbeit verrichten, machen den Pilgern mürrisch Platz. Inmitten dieser Schar kommt Dee sich reichlich albern vor, dankt aber Gott dafür, dass sich wenigstens keine Flagellanten darunter befinden, die sich selbst auf den Rücken peitschen, bis es blutet. Walsingham hätte das gefallen.

Über mehrere Treppen und vorbei an allen möglichen Gebäuden führt die Straße sie bergauf. Je höher sie kommen, desto mehr nähert er sich der Gefahrenzone, und natürlich wird das Quartier des Abbés ganz oben sein. Vermutlich wird dort auch Isobel Cochet gefangen gehalten, denn wie Walsingham sagt, ist sie von sehr angenehmer Erscheinung. Wahrscheinlich haben sie die junge Frau in ein Verlies mit vergittertem Fenster gesperrt, von wo aus es steil nach unten zum Meer geht. Und sicher hat die Tür ein Guckloch.

Während sie auf Knien um eine Ecke rutschen, hört Dee ein Kratzgeräusch und hebt unwillkürlich den Kopf. Über ein Gewinde wird ein mit Essensvorräten beladenes Gestell längs der senkrechten Burgmauer in die Höhe gehievt. Das Prinzip erinnert ihn an eine Vorrichtung, die er einst für ein Theaterstück in Cambridge ersann, als sie den Flug eines Käfers darstellten. Nur springt hier der Hebemechanismus sofort ins Auge. Das Gestell hängt an einem armdicken Seil, das oben durch eine Rolle läuft. Wie wird das System wohl bedient?

Je mehr sie sich der Kirche nähern, desto inbrünstiger werden die Gebete der Pilger. Dee ist bestimmt schon tausend Schritt auf Knien gerutscht, und die Haut hängt ihm in Fetzen herunter, doch er glaubt jetzt zu begreifen, wie die Insel angelegt ist. Er lässt sich von den Pilgern hinter ihm einholen, bedankt sich für ihren Zuspruch, lehnt aber ihre Hilfsangebote ab. Endlich ist keiner mehr hinter ihm, und er kann sich davonstehlen.

Vor ihm führt eine Treppe nach links, während es rechts in einen übel riechenden Durchgang geht. Am Fuß der Treppe hält Dee inne. Vorsichtig schiebt er die blutenden Füße in die Schuhe. Seine Knie fühlen sich an wie rohe Eier. Dann richtet er sich auf, krempelt den Hut um, sodass er an ein Barett erinnert, und wendet den Mantel.

Mit einem Schlag ist er Père Dee.

Er folgt dem Durchgang in einen Innenhof, durchquert ihn und verlässt ihn auf der anderen Seite. Ein weiterer Hof und eine andere Treppe führen ihn zu der Straße, die er gerade entlanggekrochen ist. O ja, er weiß, von wem die Blutstropfen im Staub stammen …

Zielstrebig stapft er weiter, als ginge er einfach nur seinem Beruf als Seelsorger nach. Die Leute nicken ihm zu und grüßen höflich. Zu guter Letzt überholt er seine Pilgergruppe und segnet sie flüchtig, bevor er findet, was er gesucht hat: einen Buchhändler. Der heruntergekommene, blasse Bursche trägt einen sehr dunklen Bart, der seine Wangenknochen zur Gänze bedeckt, und ist gerade dabei, seinen Stand unter einem Torbogen aufzubauen. Er führt in seinem Sortiment Traktate für Pilger und dazu einige Jakobsmuscheln für diejenigen, die so tun wollen, als wären sie auf dem Weg nach Santiago de Compostela. Dee verwickelt ihn in eine schwachsinnige Fachsimpelei über die Qualität seiner Bücher – die in jeder Hinsicht erbärmlich sind.

»Es ist wirklich ein Vergnügen, solche Gespräche zu führen«, flötet er, »vor allem, wenn man aus Paris kommt.«

»Seid Ihr mit dem Kardinal angereist?«, erkundigt sich der Buchhändler.

Statt direkt darauf zu antworten, erklärt Dee, dass er gerade auf der Insel eingetroffen ist. »Auf Befehl meines Herrn.«

»Sind die Gerüchte wahr, dass der Kardinal auf eine spanische Flotte wartet?«, will der Buchhändler wissen. »Einer von den hohen Herren aus Spanien hat mir das erzählt.«

»Ah, das müsste Señor …«

»Kein Señor, ein Padre. Wie Ihr. Padre Adán.«

»Padre Adán? Ich wusste gar nicht, dass er so ein Bücherwurm ist.«

»O doch, Pater«, versichert ihm der Buchhändler. »Er ist hinter Werken über verborgene Schriften her, die er Steganografien nannte. Das Wort stammt aus dem Griechischen, wisst Ihr? Leider fand er mein Angebot für seinen esoterischen Geschmack zu bescheiden.« Der Mann stößt ein schrilles, nervöses Lachen aus.

Dee lächelt zufrieden. Langsam scheint er der Sache näher zu kommen.

»Und wo könnte ich diesen Padre Adán finden?«

»Er ist zu Gast im Quartier des Abbé, er und der Kardinal.«

Der Buchhändler deutet nach oben. Dee dreht sich um. Über sich sieht er ein hübsches Steingebäude, dessen massives Portal von zwei weiteren Hellebardenträgern in senffarbener und pflaumenblauer Uniform sowie einem Jagdhund mit lockigem Fell bewacht wird.

»Ich könnte mir vorstellen, dass er ohnehin zu beschäftigt ist, um sich irgendwelchen Studien zu widmen«, bemerkt Dee.

Der Buchhändler zeigt keine Regung.

»Mit der Engländerin vielleicht?«, fragt Dee.

Der Buchhändler schüttelt den Kopf. Von einer Engländerin hat er offenbar noch nie etwas gehört.

»Die Begleitung des Kardinals?«

Wieder ein Nein. Dee zögert einen Moment lang, dann kauft er mit Walsinghams Geld ein Buch, einen großen schweren Psalter mit einem Messingverschluss, der besser aussieht, als er ist, aber gerade darauf kommt es ihm an. Er macht sich nicht die Mühe, um den Preis zu feilschen.

Eine spanische Flotte. Ein Priester mit einem frisch entdeckten Interesse an Kryptografie. Aber keine Informationen über Isobel Cochet? In seinem Kopf schwirrt es wie in einem Bienenstock.

Er hat sich schon ein Stück entfernt, als der Buchhändler ihm nachruft: »Ach, Pater! Sie ist keine Engländerin. Sie ist Französin! Aus Eurer Stadt, Pater. Aus Paris!«

Dee hebt den Arm zu einer freundlichen Abschiedsgeste.

Weiter vorne befinden sich die Gemächer des Abbé. Der sich langsam nähernde Dee wird von den gelangweilten Wächtern und deren durchaus intelligent wirkendem Hund beobachtet. Dee nimmt seine Kappe ab. Er spricht die Wächter mit »Herren« an und zeigt ihnen das Buch, das er für Padre Adán gekauft habe.

»Ein sehr erbauliches Werk«, versichert er ihnen. »Padre Adán wartet schon darauf.«

Er spricht Französisch mit schwerem venezianischem Akzent, doch diese Mühe hätte er sich bei den zwei Männern und dem Hund sparen können – sie starren ihn mit ausdruckslosen Augen an. Flugrost hat sich an ihren Helmen und Brustplatten festgesetzt, und ihre nicht von Handschuhen geschützten Hände, die die Hellebarden umfassen, sind grob. Sie müssen es hassen, hier zu sein. Der Hund knurrt leise.

»Er ist in der Messe«, erklärt einer der Wächter.

»Ich weiß, Herr. Ich wollte es nur als Geschenk für ihn abgeben. Als kleine Überraschung.«

Dee bringt es fertig, sehr alt und unglücklich auszusehen. Kurz und gut, die Wächter lassen ihn passieren, und gleich darauf spaziert er durch den Empfangsraum des Abbé, wo ein Bediensteter gerade die festgetretenen Binsen auf dem Boden auflockert. Dee erspäht einen niedrigen Tisch mit einer Karaffe und einem Spiegel darauf. Darunter hat sich ein weiterer kleiner Hund zusammengerollt und schläft.

Dee nimmt eine straffere Haltung an, als er dem Diener erzählt, der Kardinal habe ihn gebeten, der Französin dieses Buch zu bringen.

»Um ihr zurück auf den Weg der Rechtschaffenheit zu verhelfen«, sagt er mit einem einfältigen Lächeln.

Der Diener glotzt ihn verständnislos an. »Die Französin? Hier werdet Ihr sie nicht finden.«

»Nicht? Ich … Oh, dann muss ein Irrtum vorliegen. Wo ist sie denn?«

Der Diener starrt ihn an, als wäre er schwachsinnig.

»Hinter Schloss und Riegel«, belehrt er ihn schließlich. »Wo sie auch hingehört.«

Himmel, denkt Dee.

»Entschuldigt bitte, Herr.« Er weicht zurück.

Doch der Diener hat Verdacht geschöpft. »Wartet.«

Dee drückt ihm das schwere Buch in die Hände, fährt herum und stürzt aus dem Raum, jagt an den Wächtern vorbei die Treppe hinunter. Himmel, das Verlies! Dort halten sie Isobel gefangen.

Draußen begegnet er erneut den Pilgern, die den Aufstieg fast geschafft haben. Er weicht zum Stand des Buchhändlers aus und lässt sie vorbeirutschen. Über ihm ist nun der Diener des Abbé herausgekommen und spricht mit den gelangweilten Wächtern und deren Hund. Allgemeines Schulterzucken – es ist ja nichts geschehen. Und da der Diener immerhin ein Buch bekommen hat, lässt man die Angelegenheit einfach auf sich beruhen.

Obwohl er gerade erst angekommen ist, hat der Buchhändler schon wieder begonnen, seine Waren einzupacken.

»Sieht nach einem Regenschauer aus«, erklärt er. »In dieser Gegend kann man sich einfach nie sicher sein.«

Dee bekundet sein Mitgefühl und kauft dem Mann noch ein Werk ab, ein schlecht gebundenes Pamphlet über die ewige Natur der Dreifaltigkeit.

»Wenn etwas von guter Qualität ist, merkt man das eben«, stellt der Buchhändler fest.

Und man merkt es, wenn Papier einfach bloß dick ist. Dee wartet, bis die Pilger vorbeigezogen sind, ehe er den Rückweg antritt. Als er an einer offenen Tür vorbeikommt, hört er von drinnen ein merkwürdiges Knirschen. Er kann der Versuchung nicht widerstehen und wagt sich hinein.

Auf dem Boden sitzen zwei Wachmänner und schauen einem wild aussehenden Mann mit entblößtem Oberkörper zu, der in einer Tretmühle läuft, als wäre er auf der Flucht vor einer nahenden Flut. Von der Nabe des Laufrads führt ein Seil durch eine Türöffnung, die den Blick auf die Salzmarsch und mehrere niedrige Dächer in der Ferne eröffnet. Neben dem Türpfosten steht ein weiterer Wächter. Dieser verfolgt, wie eine an das Tau geknotete hölzerne Plattform sich langsam nach oben bewegt. Die Plattform ist mit dem Kadaver eines Schafs und einem Sack Rüben beladen.

»Was willst du?«, fragt einer der Wächter Dee. »Es auch mal mit dem Laufrad probieren?«

Seine Hakenbüchse macht ihn offenbar zu einem wahren Maulhelden.

Dee zieht sich zurück und setzt seinen Abstieg fort, bis er an einer Ecke auf einen Soldaten stößt, der ein Stück Brot verspeist.

Dee spricht ihn an und erkundigt sich nach seinem Leutnant.

Als der Soldat wortlos Richtung Straße weist, fragt Dee, ob er ihn zu seinem Vorgesetzten führen kann.

Nach einem langen Augenblick gelangt der Mann zu dem Schluss, dass er das wohl muss.

Gemeinsam marschieren sie los. Dass der Soldat ihn nicht verdächtig findet, verleiht Dee neue Kräfte, und bald überholen sie die langsam vor sich hin rutschenden Pilger. Der Soldat ermutigt sie, sich ein bisschen schneller zu bewegen.

»Ihr versäumt sonst noch die Messe!«

In der Wachstube, die sich vor dem Haus des Abbé befindet, sitzt der Leutnant am Tisch und verspeist eine Zwiebel. Er ist sichtlich nicht in der Stimmung, diesem unbekannten Père zuzuhören, der sich darüber beklagt, dass ein Teil der Wachen sich betrunken habe und um Geld würfele.

»Außerdem haben sie eine Frau dabei«, lässt ihn Dee wissen.

»Eine Frau?« Jetzt ist der Leutnant auf den Beinen. »Bringt mich zu ihnen!«, fordert er.

So führt Dee ihn den Weg hinunter bis zum Fuß der Stufen von vorhin. Das zusammengerollte Pamphlet hält er weiter in festem Griff.

In diesem Moment läuten die Glocken der Abteikirche zur Messe. Fast genauso laut flattern die Möwen auf.

»Putain!«, schimpft der Soldat, als Vogelkot auf seine Schulter platscht.

Der Rest ist ein Kinderspiel. Während der Mann noch versucht, den Schmutz wegzuwischen, reagiert Dee blitzschnell. Er schleudert ihn in eine dunkle Ecke und drischt ihm die Handkante gegen das Kiefergelenk, exakt unterhalb des Ohrs. Ein heftiger Schmerz durchzuckt Dees Hand, doch zumindest sackt der Mann sofort in die Knie. Es ist, als hätte er keine Knochen mehr, und Dee fängt ihn auf. Sanft lässt er ihn dann zu Boden gleiten und schleift ihn zu einer Zisterne. Er hat keine Ahnung, wie lange der Mann bewusstlos bleiben wird. Eine Stunde? Einen Tag? Egal. Eilig zieht er ihm den Mantel aus und setzt sich dessen Hut auf. Passt gar nicht mal so schlecht.

Gleich darauf tritt Leutnant Dee aus dem Schatten.

Die Straße ist nun gedrängt voll mit Männern und Frauen, die zum Gottesdienst eilen. Der Wächter, der Dee gerade eben zum Leutnant geführt hat, salutiert ihm jetzt. Dee folgt weiter dem von den Blutstropfen der Pilger gesäumten Weg und kehrt so in die Wachstube zurück. Dort trifft er nur noch einen Mann an, der auf einer Bank vor sich hin döst.

Dee schleicht durch den Raum zur Tür gegenüber und tritt in die Dunkelheit. Hinter sich zieht er die Tür zu. Es dauert eine Weile, bis seine Augen sich an die Finsternis gewöhnt haben. Ein mattes Glühen erhellt einen langen Flur. Dee wagt einen Schritt darauf zu und gerät sofort ins Taumeln, denn der Korridor hat ein unerwartetes Gefälle. Weiter vorne steht in einer Nische eine stark nach Fischöl riechende Laterne. Dee ergreift sie und leuchtet voran. Er hat sich das Schwert des Leutnants umgeschnallt, doch seine Hand ruht auf dem Griff des kürzeren Messers – nur für den Fall der Fälle. Der ranzige Fischölgeruch steigt ihm in die Nase und vereinigt sich mit einem kalten Luftzug.

Bald schon wird der Korridor eben. Graues Licht sickert durch eine Serie von vergitterten Eisentüren, die alle in den feuchten Felsen der Insel eingelassen sind. Dee geht daran vorbei. Dahinter sind Männer eingesperrt, die vor dem schwachen Lichtstrahl zurückweichen, sobald Dee sie anleuchtet. Sie sind mit Lumpen bekleidet und verbreiten einen ekelerregenden Gestank. Dee wünscht sich, er hätte Mädesüß gekauft, wie es die Königin getan hat. Er schüttelt sich vor Ekel. Und als ob das nicht genügen würde, kriecht ihm nun auch noch die Kälte bis in die Knochen.

»Mistress Cochet!«, ruft er. »Mistress Cochet?«

Statt einer Antwort bekommt er Flüche und unflätige Beschimpfungen zu hören, doch er marschiert weiter. Durch die Gitter einer Tür recken sich ihm Hände entgegen. Eine zahnlose Frau mit Haaren wie Rattenschwänze bietet sich ihm gegen etwas Brot an.

Er geht weiter.

Am Ende des Korridors befindet sich eine letzte Tür. Sie ist nicht verriegelt.

Dee hält die Laterne hoch, und beinahe erlischt die Flamme im Luftzug.

Das ist sie, denkt er, die Zelle mit dem Blick aufs Meer.

Die Stufen sind vom Seetang glitschig, grün verfärbt – und gefährlich. An der Wand ist ein eisernes Geländer angebracht. Dee hält sich daran fest.

»Mistress Cochet?«

Er hält die Lampe höher. Noch eine Stufe. Beim Ausatmen steigen Wolken vor seinem Mund auf – und das an einem Spätsommertag! Kälte und Angst setzen ihm zu, und die Mauern scheinen immer näher zu rücken. Ihre untere Hälfte ist von Seetang bedeckt, und jetzt kommen noch mehr Stufen. Er wagt sich hinunter.

Auf der letzten Stufe findet er sich vor einer weiteren Eisentür wieder. Der Seetang bedeckt hier nicht nur den Boden, sondern reicht bis knapp unter die Decke des Verlieses. Wenn man einen Menschen hier einsperrt, muss er bei Flut unweigerlich ertrinken. Welches Grauen einen Gefangenen packen muss, wenn das Wasser hereinbricht und immer höher steigt! Welche Grausamkeit – und das ganz ohne Folterknecht!

»Mistress Cochet?«

Keine Antwort.

Dee klammert sich an die feuchten, stark verrosteten Eisenstangen. »Mistress …«

Die Tür schwingt auf. Um nicht vollends das Gleichgewicht zu verlieren, hält er sich weiter daran fest. Jetzt erkennt er, dass das Fenster zum Meer ebenfalls vergittert und eine Flucht auf diesem Weg unmöglich ist. Dennoch ist das Verlies leer.

Niedergeschlagen kehrt Dee zurück, vorbei an den Zellen, wo die Gefangenen ihn erneut anflehen, sie zu befreien. Es ist wie in London, denkt er, wo alte Soldaten um Münzen betteln und man zugeben muss, dass man keine hat.

»Keine Schlüssel«, sagt er und zerdrückt vor ihren Augen seinen leeren Beutel. »Tut mir leid.«

Die Gefangenen heulen zum Steinerweichen, doch Dee muss den Gestank schleunigst hinter sich lassen. Ihm ist, als käme er aus tiefster Dunkelheit und bräuchte dringend Luft und Licht. Er stellt die Laterne zurück in eine Nische und marschiert erneut durch die Wachstube, wo ihn derselbe Soldat jetzt mit offenem Mund anglotzt.

Wortlos geht er hinaus und biegt nach links ab.

Der Leutnant ist offensichtlich noch nicht aufgewacht.

Wo steckt bloß Mistress Cochet?

Er wird diesen Pater Adán aufstöbern und ihm folgen müssen. Wo könnte er jetzt sein? Natürlich in der Messe.

Dee schlüpft wieder in seine Rolle als M’sieur Dee und macht sich auf den Weg zur Abtei, die sich am höchsten Punkt des Mont-Saint-Michel befindet und deren Glocken immer noch läuten. Irgendwie landet er auf der Mauer, die rings um die Burg führt. Im Norden wird der Blick aufs Meer von einigen Landzungen umrahmt. Er gerät ins Sinnieren.

Welch eine merkwürdige Vorstellung, schießt es ihm durch den Kopf. Egal ob die spanische Flotte gerade über die Bucht von Biskaya segelt und Kurs auf sie nimmt oder nicht, weit draußen auf dem Meer sammeln sich die Urgewalten der Natur und bündeln all ihre Kräfte, um das Meerwasser zurückzuschicken, bis es sich wieder über den Damm wälzt und den Mont-Saint-Michel vom Festland abschneidet.

Er schätzt, dass er sich hier schon seit etwa einer Stunde aufhält.

Auf dem Weg durch den Ort verliert er in dem Gewirr von Gassen schnell die Orientierung. Manche Treppen enden vor verschlossenen Türen, und als er umkehrt, findet er sich irgendwo wieder, wo er noch nie gewesen ist.

Zu guter Letzt entdeckt er doch wieder eine breitere Straße, in der sich jetzt mehr Wächter tummeln. Dee bleibt gelassen und schreitet mit einem höflichen Gruß an ihnen vorbei. Jetzt kann er natürlich nicht mehr auf demselben Weg zurückgehen. Rings um ihn füllen sich die Straßen zunehmend mit Pilgern, Verkäufern und Fremdenführern, aber auch Soldaten, Priestern und Mönchen in schwarzen Kutten.

Irgendwann findet Dee sich in einem Kreuzgang wieder, dann gelangt er erneut ins Freie – und entdeckt endlich die Abtei vor sich. Inzwischen prasselt der Regen, getrieben von einem böigen Wind, auf ihn nieder. Die Tropfen sammeln sich an der Hutkrempe und klammern sich zitternd daran fest. Über die Mauern hinweg kann er das graue, sich in der Ferne wölbende Meer sehen, auf dessen Oberfläche die Gischt weiße Linien zeichnet. Bis die Flut kommt, hat er wohl noch ein bisschen Zeit, denkt er.

Die Pforten der Abteikirche sind bereits geschlossen, aber vielleicht vergibt man ja einem Nachzügler, wenn er lautlos und mit einer entschuldigenden Geste hereinkommt.

Schon beim Eintreten raubt ihm der Geruch von Weihrauch und nasser Wolle den Atem. Die Gerüche bringen schreckliche Kindheitserinnerungen mit sich. Sie erinnern ihn an Zeiten, als in der Messe von Tag zu Tag etwas anderes galt und einen das, woran man gestern noch geglaubt hatte, heute auf den Scheiterhaufen bringen konnte. Eine Zeit entsetzlicher Angst war das, da alle Gewissheiten über den Haufen geworfen wurden.

Ein Schauer kriecht durch seinen Körper, und er beißt in seine Hand, um einen aufsteigenden Schrei zu unterdrücken. Er darf sich nicht von seinen alten Ängsten überwältigen lassen!

Etwas gefasster sieht er sich um: Er befindet sich in einer sparsam geschmückten Kirche mit hoher Gewölbedecke und nackten, in die Höhe ragenden Säulen. Er bemerkt, wie er es tief in seinem Inneren bedauert, dass dieses Gotteshaus nicht mit der überladenen Ikonografie der papistischen Riten gefüllt ist.

Doch dafür hat er jetzt keine Zeit. Er ist auf der Suche nach Pater Adán oder, besser noch, Isobel Cochet persönlich. Sie darf doch sicher die Messe feiern, oder?

Langsam schreitet er das südliche Schiff hinunter. Die Kirche ist so voll, dass er den Altar nicht sehen kann, doch allmählich bahnt er sich seinen Weg dorthin. Er nimmt an, dass der Kardinal vorne und der spanische Priester nicht weit von ihm entfernt sein wird. Seine Pilger knien jetzt alle – und mit ihnen gut hundert Mönche und Priester in Gewändern aller Farben.

Ganz vorne erkennt er tatsächlich den Kardinal. Der Mann ist schon älter und blässlich, sein Gesicht strahlt etwas sehr Lebendiges aus. Dee fällt wieder ein, dass Walsingham ihn gern als den »Seelsorger ohne Seele« bezeichnet. Er trägt ein rotes Seidenhemd, ein weißes Messgewand sowie ein rotes Tonsurkäppchen, und sein Gesichtsausdruck ist der eines Mannes, der drauf und dran ist, eine lange Schachpartie gegen einen ebenbürtigen Gegner zu gewinnen. Oder stellt sich Dee das vielleicht nur so vor?

Neben ihm kniet jedenfalls der Abbé in burgunderroter Seide, ein zerbrechlicher Herr mit silberfarbenem Haar. Beide sind von Männern in senffarbenem und pflaumenblauem Samt umgeben, nur von Pater Adán und Isobel Cochet fehlt jede Spur.

Dee nimmt sich Zeit, um seinen Zug zu planen. Doch er weiß, er wird warten müssen, bis die Messe zu Ende ist und er dem Kardinal folgen kann. Immerhin schreitet der Gottesdienst zügig voran, schließlich müssen die Pilger zurück zu den am Fuß des Berges wartenden Eseln und das Festland erreichen, bevor das Wasser zu hoch steigt. Trotzdem scheint sich die Zeit endlos in die Länge zu ziehen, so wie es in der Messe ja immer der Fall ist.

Aber dann spürt, hört oder schmeckt er es. Irgendetwas stimmt an der Abtei nicht. An der Atmosphäre.

Dee verharrt regungslos, sein ganzer Körper ist in Alarmbereitschaft. Er war schon immer zugänglich für diese Art des Austauschs mit seiner Umgebung, auch wenn ihm noch der Begriff fehlt, um diese Erfahrung zu beschreiben. Dieser Zustand ist einem Wachtraum nicht unähnlich, doch er umfasst mehr. Es ist eine Verbindung mit der Welt in vier Dimensionen. Es ist das Wahrnehmen einer Botschaft, die zu verstehen man mehr benötigt als die üblichen zwanzig Sinne. Dee hat das Ganze noch nicht vollständig erfasst, ist sich aber schon seit Langem sicher, dass so etwas im Bereich des Möglichen liegt.

Jetzt weiß er, was er tun muss.

Die Krypta, was sonst?

Er wartet, bis die Messe beendet und der Segen erteilt ist. Die Gemeindemitglieder eilen hinaus, um wieder ihren Geschäften nachzugehen. Nach ihnen trotten auch die Mitglieder des Chors ins Freie, während der Priester und seine Messdiener die Kerzen ausblasen und den Altar aufräumen. Bis all das geschehen ist, verharrt Dee, im Verborgenen kniend und in seine privaten Gebete versunken. Als schließlich alle fertig sind und der letzte Schritt verhallt ist, zählt er noch sechzig Herzschläge, ehe er sich lautlos erhebt und ins südliche Querschiff huscht.

Bei einer Treppe angekommen steigt er leise hinab. Unten werden Kerzen angezündet, deren Wärme ihn gewissermaßen empfängt. Das tut auch ein Mann, ein kleiner Bursche mit dunklen Augen, der nicht mit ihm gerechnet hat.

Dee rennt die letzten Stufen hinunter. Eigentlich soll es eine Wiederholung seines Angriffs auf den Leutnant werden, doch diesmal bekommt er den anderen nicht zu fassen. Allerdings kippt der Mann nach hinten, fliegt die Treppe hinunter und prallt mit dem Hinterkopf auf dem Steinboden auf. Es klingt, als würde ein Ei zerbrechen.

Dee spürt den eigenen Herzschlag bis in die Zähne. Ein Brechreiz steigt in ihm auf. Das Leben eines Menschen zu beenden, wer immer es auch sein mag, hat etwas Schreckliches.

Aber was sieht er da? Der Mann hat eine Pistole, eine mit kurzem Lauf, wie sie Attentäter bevorzugen, unter dem Umhang verborgen. Er hätte Dee getötet, wäre dieser ihm nicht zuvorgekommen. Gut, der Zünder hat nicht geglüht – und wird das wahrscheinlich auch nie wieder tun –, aber dennoch gilt: Wer mit dem Tod handelt, muss auch kaufen.

Aber … Moment mal. Das ist doch ein Pfarrer! Also gut, dann ist es wohl Pater Adán.

Die Kerzen flackern in ihren Nischen, als wollten sie auf das Entschweben der unsterblichen Seele des Mannes hinweisen. Zugleich reißt Dees Verbindung mit seiner Umgebung, die er im Kirchenschiff noch intensiv wahrgenommen hat, abrupt ab. Aber irgendetwas liegt immer noch in der Luft. So etwas wie eine Ausstrahlung, als ginge etwas Besonderes von den Steinen aus.

Dee steht regungslos da und blickt sich um. Nichts. Nur das Flackern der Kerzen in ihren Nischen. Riesige Säulen aus glatt poliertem Marmor. Was für Meister ihre Erbauer waren!

Waren es die Toten, die zu ihm gesprochen haben? Die ihn hierher befahlen?

Das glaubt er eher nicht.

Dann hört er ein Knarren aus der Düsternis hinter den Säulen. Es erinnert ihn an die Laute an Bord eines Schiffes. Seile, über seinem Kopf.

Er huscht hinüber zu der im Schatten liegenden Seite und sucht Deckung hinter einer Säule. Sein Atem geht flach und stoßweise. Hier unten gibt es kaum Luft.

Schließlich hört er eine Stimme.

»Na gut, zeigt Euch.«

Eine Frau. Sie klingt irgendwie erstickt. Wieder kommt das Geräusch von oben. Er geht ganz um die Säule herum und wappnet sich für etwas, was er noch gar nicht erahnen kann.

Nichts.

»Hier oben.«

Jetzt erst bemerkt er, dass etwas in der Luft hängt. Etwa auf Manneshöhe schwebt ein großer Würfel über dem Boden. Es ist zu dunkel, um Einzelheiten zu erkennen.

Dee geht eine Kerze holen und kehrt damit zurück. Dass ihm heißes Wachs auf die Finger tropft, macht ihm nichts aus. Im Kerzenschein stellt sich heraus, dass der Würfel ein Käfig aus Eisenstäben ist, der von der Decke herabhängt. Und darin ist eine Frau gefangen.

Isobel Cochet.