Ein paar Wochen zuvor war Lieselotte achtzehn Jahre alt geworden. Tante Almut hatte eine Feier im Dornröschen arrangiert, einem hübschen Freiluftlokal am Leineufer mitten im Grünen, und auch Lottes Eltern waren gekommen. Sie sahen so friedfertig aus, wie sie da Arm in Arm die Allee hinaufspazierten. Es war das schönste Geschenk für Lotte an diesem Nachmittag.
Doch bereits am Kaffeetisch unter dem Schatten der grünen Bäume glich ihr Vater schon wieder einem Klotz, reglos vor seinem Stück Kuchen. Ein Kriegsmahnmal samt Streuselplunder, dachte Lotte, da hilft auch die ganze Sahne nichts. Mit stumpfen Blicken auf die Fähre am Leineufer machte er das kleine Fest, mit dem sie zugleich ihren erfolgreichen Abschluss feierten, schwer. Warum nur? Es war doch Friede seit sechs Jahren.
Muntere Familien setzten von einem Ufer zum anderen über und strömten zum Biergarten hinauf. Kreischend warfen Kinder Steine ins Wasser, Vögel flatterten auf und die Sonnenstrahlen glitzerten auf den Wellen. Doch all das konnte nichts ausrichten gegen die Schwermut ihres Vaters. So vermied es Lieselotte einfach, ihn anzusehen. Ihre Mutter gab sich Mühe, freundlich zu sein. Ab und an stahl sich ein dünnes Lächeln auf ihre Lippen. Zum Abschied strich sie flüchtig über die Gagatbrosche, die Lottes Überwurf verschloss. „Du bist wie sie“, murmelte sie leise und Lotte fragte nicht, ob sie damit ihre Großmutter oder den dunkel schimmernden Stein meinte. Angeheitert zahlte Winfried und sie gingen wieder auseinander.
Der Monat verflog und der Sommer entschlüpfte dem Frühling wie ein feuchtes Küken dem Ei. Nach einigen, unsicheren Gehversuchen plusterte schließlich der Juli sein Gefieder auf und stolperte in Richtung des Monats, in dem Lotte ihre schwarze Brosche und ihr Herz endgültig an Berta verlor. Noch immer wohnte sie bei den Brostels, noch immer half sie Almut im Haushalt und zahlte ihren monatlichen Obolus, von dem sie nicht ahnte, dass Onkel Winfried ihn schon jahrelang beiseitelegte und für sie ansparte. Seit Wochen war Lotte auf der Suche nach Arbeit gewesen und hatte einige Abendstunden an der Frauenfach- und Haushaltungsschule bekommen. Man schätzte ihre Arbeit dort sehr und bot ihr bei Bewährung Aussicht auf mehr. So war Lotte viel unterwegs.
Der späte Abend eines vorletzten Augusttages jedoch war für junge Frauen nicht geeignet, um sich an Häuserecken herumzudrücken oder gar draußen zu sitzen. Außerdem war Lotte noch immer nicht mündig. Ihren ganzen Mut hatte sie zusammengenommen, um sich an diesem Abend heimlich aus dem Haus zu schleichen. Vorbei an der Hellhörigkeit der Wände war sie durch das verräterisch hallende Treppenhaus geschlüpft, auf die schwach beleuchtete Straße hinaus. Erika, die Haushaltshilfe, war am Nachmittag wieder einmal unpässlich gewesen. Ein Kind erwartete sie entgegen den ständigen Munkeleien der Tante noch immer nicht, und so hatte Lotte Almut angeboten, den Rest des angelaufenen Silberbestecks zu putzen, selbst wenn es bis nach Mitternacht dauern sollte. Müde und dankbar wankte Almut in die Schlafkammer, wo der Onkel bereits sägte.
„Wenn es doch auch für dieses Übel eine Erfindung geben täte!“, seufzte sie matt. „Ich würde, ohne zu lamentieren, meinen Tauch-Condor opfern.“
Es war schon zweiundzwanzig Uhr, als Liselotte die Tür fast geräuschlos hinter sich zuzog. Eine gute halbe Stunde später harrte sie bereits vor der Windmühlendiele aus, einer gut gefüllten Kabarett-Kneipe nahe dem Herzen der Innenstadt Hannovers. Der Himmel war bedeckt. Kein Sternbild zu sehen. Hin und wieder riss ein Stückchen Himmel auf. Einmal zeigte sich sogar der Mond und dicht neben ihm ein heller Stern. Eine weiße Sommersprosse, dachte Lotte und versuchte ihre Aufregung im Zaum zu halten.
Durch die Fenster des Lokals hatte sie inmitten der Gäste Bertas Silhouette ausgemacht. So sehr hatte sie gehofft, dass Berta hier sein würde. Die Aufregung war nicht umsonst gewesen. Noch einmal äugte sie neugierig durch die Scheiben und sah, wie Berta lachte. Ihr Oberkörper bog sich nach hinten und der braune, volle Lockenkopf wirkte im Gegenlicht wie ein eigenständiges Wesen. Lediglich durch glänzende Spangen gebändigt, wippte er bei jeder ihrer temperamentvollen Bewegungen hin und her. So gelöst und befreit kam sie Lotte vor wie ein anderer Mensch. Sogar das Fräulein Dorn war anwesend. Die beiden Tischgäste neben Berta waren Lotte unbekannt. Mehr Gesichter konnte sie nicht erkennen. Hin und wieder jedoch schob sich ein blonder Pagenkopf dazwischen.
Frierend tänzelte Lotte von einem Bein auf das andere. In der Eile hatte sie ihre Jacke daheim gelassen. Sicher würde es noch eine Zeit dauern, bis die Damen zur Heimkehr aufbrächen. Ungeduldig nestelten ihre Finger an der kleinen Brosche am Kragen ihrer kunstseidenen Bluse. Wenn sie ausging, trug sie das Erbstück immer. Noch in der Dachkammer hatte sie den Stein auf Hochglanz poliert und sich an seinem samtigen Widerschein erfreut, dann erst kam das Silberbesteck an die Reihe. Seitdem waren über zwei Stunden verstrichen. Und eine davon drückte sie sich bereits auf der schmalen Gasse vor der Windmühlendiele herum. Zögernd beschloss Lieselotte ein weiteres Mal die Straße hinunterzugehen, nur ein kleines Stück in Richtung Oper, dorthin, wo früher einmal eine Windmühle gestanden hatte, nur ein paar Meter vielleicht, bis zur nächsten Häuserecke. Zielstrebig sollte es aussehen. Sie würde weiterhin so tun, als hätte sie es eilig, nach Hause zu kommen. Dennoch durfte sie sich nur so weit von der Diele entfernen, dass ihr nicht entging, wenn Berta hinaus und auf die Straße trat.
Es war nicht das erste Mal, dass sie ihrer ehemaligen Lehrerin heimlich nachstellte, aber noch nie hatte sie sich getraut, sie anzusprechen. Durch ihre diskreten Ausflüge wusste sie jedoch, dass Berta Habenicht an bestimmten Abenden – meist am fünften Tag der Woche – gern die Windmühlendiele aufsuchte. Sie würde es dieses Mal darauf ankommen lassen, es endlich wagen und sie ansprechen. An der nächsten Ecke hielt Lieselotte abermals inne und schaute, ob jemand sie beobachtete. Auf der engen Straße war niemand zu sehen. Auch hinter den Fenstern blieb es ruhig. Besonnen machte sie kehrt und absolvierte das gleiche Manöver in die andere Richtung. Niemand sollte sie für ein leichtes Mädchen halten. Nicht weit von ihr, in der Nähe des Kröpcke, hatte sie ein paar Achtgroschenjungen gesehen. Zu dumm, dass sie ausgerechnet hier warten musste.
Nach ungefähr acht oder neun dieser absurd-zügigen Marschgänge öffnete sich plötzlich die Tür der Windmühlendiele und jemand betrat den Gehsteig. Ein Schreck durchfuhr ihren Leib, aber als sie erkannte, dass es nicht Berta Habenicht war, durchströmte sie Erleichterung. Die innere Zerrissenheit machte ihr mehr zu schaffen als die Kühle der Nacht. Eine fremde, männliche Gestalt wankte davon. Herr mit Hut. Seinen Mantel trug er trotz seines Rausches ordentlich über den rechten Arm gelegt wie ein Kellner das Leinentuch. Erneut lehnte sich Lotte an den gusseisernen Pfahl der Laterne und blinzelte in den Lichtkreis zu den zuckenden Nachtfaltern hinauf. Die Gemütslage abzuschütteln war unmöglich. Weshalb fehlte ihr nur der Mut?
Das Examen war längst bestanden. Mit Bravour sogar. Noch bei der Zeugnisausgabe war Berta Habenicht auf sie zugetreten, hatte ihr mit ebenbürtigem Blick die Hand gereicht und sie lächelnd „meine neue Kollegin“ genannt. Die Erinnerung an diesen einzigartigen und wunderbaren Moment beschwor Lotte fast täglich herauf. Seit dieser Stunde nannte sie sie insgeheim nur noch Berta. Leider war das schöne Gefühl rasch verflogen und hatte allzu schnell einer leisen Schwermut Platz gemacht. Seit dem Tag, an dem Lieselotte die Schule für immer verlassen hatte, fühlte sie ein gefräßiges Loch in sich. Es wuchs mit jeder Nacht, gefüllt mit nichts anderem als der Sehnsucht nach Berta. Eine fremde Macht lenkte ihre Schritte. Selbst wenn sie ihre alltäglich notwendigen Gänge machte, zwang diese sonderbare Energie sie zu Umwegen, nur, um ihrer Lehrerin so oft wie möglich zu begegnen. Wie viele Wochen waren seitdem mit Grübeleien verstrichen, wie sie es einfädeln könnte, unverfänglich mit Berta in näheren Kontakt zu treten. Als Kollegin auf Augenhöhe, als Sportsfreundin in einem Verein, als Vertraute, als …?
„Fräulein Daube?“ Erschreckt fuhr Lotte zusammen. Vor ihr stand Berta. So dicht. So prompt. Die unerwartete Nähe verschlug ihr den Atem. Kein Wort brachte sie heraus.
„Meine ehemalige Seminaristin! Na, so was. Was machen Sie hier?“
Überrumpelt kämpfte Lotte mit Silben und Worten, während Bertas katzenhafte Augen sie musterten. Alles, was Lotte sich zurechtgelegt hatte, wurde in diesem Moment hinfällig. Ihr dilettantisches Vorhaben, so zu tun, als würde man sich zufällig auf dem Weg nach Hause begegnen, wirkte nur noch lächerlich. Stirnrunzelnd blickte Berta ihr in die Augen.
„Warten Sie auf jemanden?“
Lotte schüttelte den Kopf.
Bertas Mund umspielte ein amüsierter Zug. „Drinnen ist es wärmer. In jeder Hinsicht.“ Wieder lächelte sie. Komplizenhaft.
„Nein“, sagte Lotte. „Ich war nur zufällig hier.“
„Sie haben ganz unabsichtlich an dieser Laterne gewartet?“
Beschämt blickte sie zu Boden.
„Nun, es geht mich nichts an, Fräulein Daube, schließlich sind Sie nicht mehr meine Elevin. Aber im Moment ist es nicht besonders ratsam, hier draußen vor der Diele zu warten, auf wen auch immer.“ Als Berta sich von ihr abwandte, schossen Lotte die Tränen in die Augen. Vertan! Der günstige Moment, eben noch hoffnungsvolle Gegenwart, war im Handumdrehen schon zur Vergangenheit geworden. Wie oft hatte sie sich im Unterricht Bertas Worte zu Herzen genommen, ihre körperlichen und seelischen Hemmungen endgültig beiseitezulassen, sich zu befreien. Warum gelang ihr das nicht mit Worten?
Ihre Hände begannen zu zittern, und ein Schluchzen entrang sich ihrer Kehle. Berta wandte sich um. „Fräulein Daube!“, flüsterte sie erstaunt und schob ihre Hand unter Lottes Kinn. „Warum so verzweifelt?“
Lotte blickte auf. War da ein warmer, einladender Unterton? In ihrer Verzweiflung beschloss sie, alles auf eine Karte zu setzen. „Ich würde gern eine Freundin werden!“, stieß sie hervor. Berta Habenicht stutzte und lachte hell auf. Lieselottes nachgesetztes, leises „von Ihnen“ hörte sie nicht mehr. Herzlich nickend wies sie in Richtung des Lokals.
„Eine Freundin also. Nun gut. Aber wie Sie wissen sollten, ist es nicht ganz ungefährlich, wenn Sie hier draußen bleiben. Weshalb sind Sie denn nicht zu uns hineingekommen?“
„Ich, ich …“ Mit diesem Entgegenkommen hatte Lotte überhaupt nicht gerechnet. Verzweifelt stotterte sie herum, aber alle Erklärungsversuche misslangen. Endlich legte ihr Berta vertraulich eine Hand auf die Schulter. Ein Schauer überlief sie. Es war wie damals in der Schauburg. Unter ihrer warmen Hand kam sie zu sich. Wurde wieder ganz. Im gleichen Moment spürte sie schon einen Kuss an ihrer Wange. Dann einen zweiten, flüchtigen auf ihren Lippen. War das ein Traum? Die Zeit blieb stehen. Aber wenn es ein Traum war, hatte sich die dazugehörige Stimmung verschoben. Das Bild des Kusses eilte vorüber, während ihr Herz stockte und ihr Atem ausblieb. Alles war vorbei. Berta stand eine halbe Armlänge vor ihr – lächelnd. Lotte starrte auf ihre Lippen. Aus Bertas Mund hüpften Worte, sprangen auf das Kopfsteinpflaster und galoppierten davon. Unmöglich, ihnen zu folgen.
„… noch andere Tage, Lieselotte. Wenn Sie es heute nicht schaffen, dann werden Sie es eben ein andermal wagen. Sie müssen sich nicht fürchten vor denen da drinnen.“ Lotte nickte, aber sie verstand nichts. Bertas Küsse hatten sie aller Klarheit beraubt.
„Allerdings“, fügte Berta hinzu, „Vielleicht haben Sie dazu nicht mehr allzu viel Zeit. Es wird mehr und mehr gehetzt, seit Haarmann gestanden hat. Die Umstände sind äußerst ungünstig. Vielleicht wird die Diele bald geschlossen. Seien Sie also beherzt. Es ist nur eine Frage der Haltung, wie Sie wissen.“
„Werden Sie denn am nächsten Donnerstag wieder hier sein?“, fragte sie unsicher.
Berta neigte ihren Kopf und kniff die Augen zusammen.
„Im Moment habe ich leider zu viele Verpflichtungen, um die nächsten Wochen in Lokalen zu verbringen.“ Wieder schob sich ihre Hand unter Lottes Kinn. Diesmal fordernder. „Oder hatten Sie heute in Betracht gezogen, mich hier zu treffen?“
Heiße Röte schoss Lieselotte ins Gesicht. „Nein“, entfuhr es ihr viel zu heftig. Sie musste fort. Jetzt.
Benommen knickste sie, wandte sich ab und rannte davon. An der nächsten Ecke schon hielt sie inne, lehnte sich an die Backsteine eines Mauervorsprungs und atmete stoßweise. Aus der Ferne vernahm sie Bertas kraftvolles Lachen. Lotte widerstand dem Impuls weiterzulaufen. Andere Frauen gesellten sich dazu. Sie vernahm Irma Dorns Stimme. Ihre Neugier wurde stärker und übertönte das Klopfen ihres Herzens. Zaghaft lugte sie hinter der Ecke hervor und lauschte in Richtung der Stimmen. Es war dieselbe Gruppe der Frauen, die sich vorhin um den Tisch versammelt hatte, und sie waren im Begriff, sich zu verabschieden.
„Valeska, wir sehen uns demnächst zur Premiere, wenn du mal wieder mit aller Macht in die Süßigkeiten hineinplatzt!“ Jemand lachte laut auf. „Und bestell der Georgi die besten Grüße von mir!“ Berta schüttelte einer grazilen Dame die Hand.
„Auf den Brettern, die die Welt bedeuten, muss man mit der Welt gehen!“, erwiderte die Dame mit dem großen schön geschwungenen Mund. „Wir sollten das nicht vergessen.“
„Vergiss lieber nicht, Yvonne zu grüßen!“
„Gert grüßt Georgi, wie befohlen!“ Die zierliche Dame tippte sich in soldatisch-fescher Manier an den Schirm einer nichtvorhandenen Offiziersmütze und verschwand strammen Schrittes in der Dunkelheit. Berta und Irma lachten ihr hinterher. Kurz vor der nächsten Biegung verfiel sie in ein groteskes Gezappel, das so komisch aussah, dass Lotte sich die Hand vor den Mund hielt, um nicht loszuprusten.
„Ist die nun eigentlich mit dem Kreuzberg zusammen?“ hörte Lotte Irma fragen.
„Die Georgi? Vermutlich“, erwiderte eine der anderen.
„Wo haben die sich kennengelernt?“
„Bei der Wigman im Kurs ganz sicherlich“, vermutete Berta.
Schließlich vernahm Lotte noch ein paar Satzfetzen über einen Herrn Laban und dann wurde das Geplauder leiser und vorsichtiger. Wiederholt erklang abermals das Wort „Freundinnen“, begleitet von gedämpft mehrstimmigem Gelächter. Vielleicht machen sie sich über mich lustig und hoffentlich hat Irma Dorn den Kuss nicht bemerkt, dachte Lotte und beschloss, Berta im Schutz der Dunkelheit noch ein wenig zu beobachten.
Langsam begann sich die Gruppe zu zerstreuen. Gerade als Lotte aufgeben wollte, sah sie, wie sich außerhalb des Scheins der Laterne zwei Frauen innig umarmten. Sehr innig, sehr lange und sehr vehement. Einmal mehr übermannte sie der Aufruhr ihres Körpers. Gebannt vom Anblick des in sich versunkenen Schattens starrte sie aus ihrem Versteck auf die Küssenden. Als wollen sie sich gegenseitig austrinken! Die blanke Panik ergriff sie, und als das Paar sich voneinander löste, schälte sich Bertas Gestalt aus dem Schatten. Hand in Hand schlenderte sie mit der anderen Frau die Straße herunter. Gebannt starrte sie den beiden nach. Abermals hielten sie inne und tauschten Zärtlichkeiten aus. Wer war das? Lotte wagte ein paar Schritte in Richtung des nächsten Vorsprunges. Aus dem Halbdunkel erkannte sie nun das andere Gesicht. Es war allzu deutlich. Das konnte nicht sein. Das dünne, blonde Haar, das im Nacken so sorgfältig ausrasiert war, gehörte unverkennbar zur Sekretärin des Schulbüros, dem Fräulein Bragge.
Lottes Fingernägel gruben sich in die Ziegel und alles in ihr sträubte sich zu begreifen, was dort geschah. Sie atmete heftig. Dass diese perfekt aufeinander abgestimmten Frauen im Schulbetrieb eng miteinander verbunden waren, war ein unangefochtener Tatbestand. Sie hatte bislang in keine andere Richtung zu denken gewagt, trotz Elses Anspielungen. Bis jetzt. Der eindeutige Anblick der beiden riss ihr gesamtes Weltbild nieder. Sie musste nachdenken. Natürlich wusste sie, dass Dorothea Bragge am Institut Bertas rechte Hand war. Berta war die äußere Erscheinung und die Bragge sorgte für das Funktionieren des Inneren. Die Bragge war nicht hübsch. Immer hielt sie sich im Hintergrund. Als Unterrichtsassistenz, als Schriftführerin, als Vorsprecherin bei Ämtern. Aber immer wurde sie von Berta zu allen Prüfungen eingeladen, und sogar beim Verarzten von Wunden hatte Lotte schon ihre fürsorglichen Hände gespürt. Jedes Mal, wenn Berta nach Kassel reiste, um dort Choreografien am Theater zu entwickeln, übernahm die Bragge die Führung der Schule.
Aber das hier? Noch immer hielt sich das Frauenpärchen eng umschlungen. Und wie sie sich umarmten! Ein Gefühl in Lotte begriff plötzlich, dass Berta Habenicht und Dorothea Bragge schon lange ein Liebespaar waren, genau wie Else Marie es ihr seit Jahren weiszumachen versuchte. Sie stand im Dunkel und wusste nicht, wie lange, aber als sie zu Ende gedacht hatte, erschien es ihr wie eine Ewigkeit. Seit wann lebten die beiden schon in diesem verborgenen Ehebund zusammen – wie Mann und Frau – einer innigen Verbindung, die kein Kirchenmann, kein Amt, sondern nur die eigene Heimlichkeit besiegelte?
Lotte begann zu laufen. Nur weg! Fort von Berta Habenicht, fort von Dorothea Bragge, fort von den aufgescheuchten Faltern unter dem Laternenlicht. Sie lief, so schnell sie konnte, achtete weder auf den Weg noch auf ihre Tränen.
Mit fahrigem Schwung trat sie in ein handbreites Loch und schlug hin. Nur mit Gewalt unterdrückte sie einen lauten Schrei, als ihr der messerscharfe Schmerz durch den Knöchel schoss. Beim Versuch, sich aufzurichten, wimmerte sie leise. Rasch vergewisserte sie sich, dass ihr Missgeschick von den Frauen unbemerkt geblieben war. Aber da war niemand mehr. Die beiden hatten sich aus dem Lichtkreis der Laterne in eine Seitenstraße zurückgezogen.
Schluchzend versuchte Lotte sich aufzurichten. Hinter ihr knarrte es, und abermals öffnete sich die Tür zur Windmühlendiele. Eine neue Gruppe trat heraus und zerstreute sich lachend. Lotte stellte ihr rechtes Bein auf, verlagerte das Gewicht nach vorne und stützte sich mit dem Ellenbogen auf das unversehrte Knie. Absurderweise hämmerten die Worte längst vergangener Unterrichtstunden durch ihr Hirn: Der Akt des Aufstehens gestaltet sich nur dann als schön, wenn die Füße in Schrittstellung gehalten, das Gesäß eingezogen ist und der Schenkelmuskel das Streckamt von alleine versieht …
Aufhören! Es war so absurd und lachhaft! Sogar unter Schmerzen musste sie an diese Definitionen denken. Tief amtete sie durch. Wenigstens war der innere Aufruhr abgeflaut. Leise stöhnend sah sie sich noch einmal um. Niemand beachtete sie. Der erste Schock ließ nach, aber dafür kehrte der Schmerz zurück.
Bei dem Versuch, den Fuß zu belasten, durchfuhr ein scharfer Stich ihr Bein. Mit zusammengepressten Lippen bewerkstelligte sie ein paar kreisende Bewegungen. Wenigstens das. Ihr Gelenk ließ sich bewegen. Eine Sehne, hoffte sie, vielleicht nur eine Überdehnung. Vorsichtig stand sie auf. Das Zittern ließ sich nicht beherrschen. Vorwärtshumpelnd stützte sie sich an der Häuserwand ab.
„Darf ich behilflich sein?“
Ein junger Mann eilte auf sie zu und schob ihr ungefragt den Arm unter.
„Ist Ihnen etwas zugestoßen?“ Der Griff des Fremden war fest und geschult, seine Stimme ernsthaft besorgt.
„Ein Loch … auf der Straße, ich war unachtsam.“
„Wenn Sie gestatten? Ich begleite Sie nach Hause“, erbot sich der Fremde. „Mein Name ist Erwin. Erwin Gellert. Können Sie den Fuß denn aufsetzen?“
„Kaum“, erwiderte Lotte kleinlaut. Die besorgte Ausstrahlung des jungen Mannes beruhigte sie. „Aber es ist nichts gebrochen, bestimmt nicht.“
„Zeigen Sie mal.“ Der Mann mit dem Namen Erwin Gellert prüfte durch das dünne Leder ihres Stiefels vorsichtig die Beweglichkeit des Knöchels.
„Scheint so, als hätten Sie recht“, erwiderte er freundlich.
„Sind sie Arzt?“
„Nein, nur der Sohn des Stadtturnrates.“ Dieser Erwin klingt fachmännisch, dachte sie und erwiderte: „Sie kennen sich also mit Sportverletzungen aus?“
Er nickte ernst. „Ich turne selbst.“ Verstohlen wischte sich Lotte die Nase am Blusenärmel ab.
„Wie praktisch, Sie zu treffen“, murmelte sie. „Ich bin Lieselotte Daube. Danke, dass Sie mir geholfen haben.“ Dass sie beinahe Berufskollegen waren, verschwieg sie lieber. Plötzlich hielt er inne, bückte sich, hob etwas auf, begutachtete es kurz und ließ es in die Hosentasche gleiten.
„Mein Manschettenknopf hat das Weite gesucht“, bemerkte er lächelnd.
„Wen gab es denn heute Abend in der Diele zu sehen?“, fragte Lotte und humpelte tapfer neben dem jungen Mann her. Erwin schmunzelte. „Diesen köstlichen Kellner. Haben Sie noch nie von ihm gehört?“ Lotte schüttelte den Kopf.
„Friedel Schwarz“, fuhr Erwin fort. „Herrlich! Der begabteste Damenimitator, den man kennt.“ Lotte schwieg. Sie hatte überhaupt noch keinen Damenimitator gesehen.
„Ich bin von einem Besuch gekommen und es ist spät geworden“, flunkerte sie.
„Schauen Sie sich das an. Die Lampen wurden eingeworfen!“
Kopfschüttelnd wies Erwin auf das zerbrochene Glas einer Laterne unweit des Lokals. „Die Polizei sollte sich lieber um diese Randalierer und Vagabunden kümmern als darum, harmlose Kneipen für Amüsements zu schließen!“ Mit einem Kopfnicken deutete er auf das Lokal.
„Aber die Lampen sind gar nicht schuld an meinem Unfall!“, widersprach Lotte. „Ich bin bei vollstem Licht gestolpert. Das kann man nur tollpatschig nennen.“
In Erwins Augen glitzerte es. „Seien Sie einfach nur froh, dass es nicht hier geschehen ist. Die ganzen Scherben! Es wäre doch schade um Ihre Hände gewesen.“ Er blieb stehen und ergriff ihren freien Arm. Plötzlich hatte er ihre Hände in seinen. Mit beiden Daumen strich er prüfend über ihre Handrücken. Lotte war unwohl. „Ab dort drüben können Sie mich getrost alleine gehen lassen. Von da aus ist es nicht mehr weit bis nach Haus.“
„Kommt nicht infrage“, widersprach Erwin. „Auch wenn das Haarmann-Monster hinter Schloss und Riegel sitzt, heißt das noch längst nicht, dass Hannovers Straßen um diese Zeit sicherer wären!“
Nun begann er ihr auf die Nerven zu gehen. Sein gönnerhafter Ton klang fast, als ob der Herr Gellert selbst dafür verantwortlich wäre, dass der perverse Fritz gefasst worden war. Eine grausige Geschichte. Auch wenn es sich bei den armen Opfern um Jungen handelte, hatte selbst Tante Almut ihr seitdem verboten, bei Einbruch der Dunkelheit das Haus zu verlassen. Es war auch erst einen Monat her. Damals veranlasste die Polizei, den Wasserstand der Leine zu senken, weil spielende Kinder am Ufer fünf Schädel entdeckt hatten. Nach dem Senken des Wasserspiegels waren dann dreihundert menschliche Knochen ans Tageslicht gekommen! Schrecklich. Man munkelte von mindestens zweiundzwanzig Jungen.
„Furchtbar, diese Vorfälle“, seufzte Lotte und schüttelte sich. Dann blieb sie stehen. „Gut“, sagte sie entschlossen, „dann bringen Sie mich eben nach Hause. Aber eines würde ich doch gern wissen, warum soll denn die Windmühlendiele plötzlich geschlossen werden?“
„Man redet hier. Man redet dort.“ Nun wirkte Erwin noch oberlehrerhafter. „Die Polizei hat nach dem Haarmanngemetzel jeden Mann auf dem Kieker, der sich mehr für Damenimitatoren als für die Damen selbst interessiert, wenn Sie verstehen?“
„Ach!“, entfuhr es Lotte, „Sie meinen, die Diele ist …?“ Sie wagte nicht, den Satz zu vollenden, sie fand kein Wort dafür.
„… unter anderem ein Treffpunkt für Freunde und Freundinnen“, vollendete ihn Erwin Gellert und zwinkerte. „Aber nicht ausschließlich“, fuhr er fort, Lotte wachsam im Auge behaltend. „Und wenn ich für mich sprechen darf, ich gehe dort einfach nur gern wegen des Cabarets hin.“
Freundinnen!, schoss es Lotte durch den Kopf. Natürlich. Kalt und heiß wurde ihr zugleich. Sie hätte es sich denken können. Freundinnen nannten sich auch Frauen, die Frauen liebten. Else Marie hatte einmal darüber gefrotzelt. Sie wurde still.
„Ist Ihnen kodderig?“ Erwin musterte sie besorgt. Lotte war stehengeblieben und blickte die Straßenflucht hinunter. Langsam schob sich Erwins Gesicht in ihr Blickfeld. „Tut Ihnen noch etwas anderes weh? Haben Sie sich den Kopf angeschlagen?“ Sein Tonfall war wieder besorgt.
Wortlos schüttelte sie den Kopf. Sie musste sich sammeln, konnte nicht alles auf einmal begreifen. Da war nur noch das drängende Bedürfnis, sich hinzulegen und in ein schmerzlinderndes, weiches Dunkel zu fallen. Schlafen. Wieder war da Erwins Hand an ihrem Körper. Dieses Mal zwischen ihren Schulterblättern.
„Nein. Mir ist nur etwas übel“, erwiderte sie und gab ihrer Stimme Festigkeit.
„Dann handelt es sich wohl um einen kleinen Schock“, erwiderte Erwin. Dieser leise Stolz in seiner Stimme. Trotz der Schmerzen beschleunigte sie ihren Schritt. Vielleicht wäre er besser Arzt geworden statt Turner, dachte sie. Letztlich war es ihr einerlei. Sie wollte nur noch eins: in ihre Dachkammer. Widerstandslos ließ sie sich von Erwin unterhaken, während sie ihm durch kurzes Kopfnicken mal die linke und mal die rechte Richtung wies.
„Würden Sie mich wiedersehen wollen?“, fragte Erwin vor der Haustür. Plötzlich klang seine Stimme nicht mehr so sicher. Lotte erbat sich Bedenkzeit. Eine Woche. Er blieb hartnäckig. Vergeblich versuchte sie ihn abzuwimmeln und verwies auf ihre strenge Tante. Schließlich schrieb er ihr seine Adresse auf ein Stück Papier. Das Blatt zittert leicht, als er es ihr hinhielt. Lotte schielte zum Haus ihrer Pateneltern hinauf und vergewisserte sich, dass alle Fenster dunkel waren.
„Gehen Sie jetzt bitte“, flehte sie. Endlich deutete Erwin einen Diener an, machte kehrt und eilte davon. An seinem leichten, fast springenden Gang erkannte Lotte den Turnersohn. Kurz widerstand sie dem Impuls, den Zettel zu zerreißen, und steckte ihn ein. Sie verspürte nicht wirklich das Bedürfnis, auf ein weiteres Treffen mit diesem Erwin, aber eine ferne Stimme mahnte sie, den Fetzen mit der gekrakelten Adresse zu behalten. Vielleicht wäre dieser Herr Gellert noch zu etwas nütze und gegen einen guten Freund hatte sie nichts einzuwenden.
In der Kammer angekommen, faltete sie den Zettel auf Daumennagelgröße zusammen und schob ihn unter die Stifte in ihrem Federetui. In der Wohnung blieb es still. Niemand hatte ihr Kommen bemerkt. Triumphierend lächelte sie. Die Müdigkeit war verflogen. Zu viel war geschehen, zu laut brauste und raste es in ihrem Schädel, und als sich Lotte ihre Bluse aufknöpfte, bemerkte sie mit Schrecken, dass ihre Gagatbrosche fehlte.