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1929

Winfried hatte ein Automobil! Seine sensationelle Anschaffung. Der kleine Hanomag war zwar ein Firmenauto, aber dennoch sein Wagen. Jedenfalls gebärdete er sich so. Stolz brauste er mit Lieselotte in Richtung Aegidientorplatz. Der Fahrtwind zerrte an ihren Haaren, Kinder blieben stehen und winkten. Lotte lachte. Wie ein Halbwüchiger hämmerte Winfried fröhlich auf sein Lenkrad ein. Von den Sitzen duftete es neu nach Fabrik. Mit jeder Faser ihres Leibes genoss Lotte es, neben ihm zu sitzen. Vier Jahre waren inzwischen vergangen. So viel war geschehen. Besonders seit dem Tod ihres Vaters war dies endlich einmal ein befreiter Moment.

Ein seliges Lächeln auf den Lippen, schloss sie die Augen und spürte dem Vibrieren des Motors mit ihren Füßen nach. Das kleine Auto, das Kommissbrot, wie es auch hieß, war noch nicht lange auf dem Markt und wurde auch „der Wagen des kleinen Mannes“ gerufen, aber ihr Onkel gebärdete sich wie ein ganz großer. Fröhlich knatterte er über die Hildesheimer Straße.

„Das Ding braucht keine Hupe!“, brüllte er, obwohl sie neben ihm saß. „Man hört ihn immer rechtzeitig!“ Wieder musste sie lachen, er hatte recht, das Auto ratterte mit seinen 10 PS unüberhörbar durch die Straßen. Immer wieder winkten ihnen Passanten zu. Offensichtlich überall, wo sie auftauchten. Das kleine Blechwunder rief Beifallsbekundungen bei wildfremden Leuten hervor.

„Mein Prachtstück!“, brüllte der Onkel begeistert. „Da werden noch deine Urenkel was von haben, Lotte. Irgendwann gehört er mir! Und wenn dein Erwin sich mal traut, dir einen Heiratsantrag zu machen, dann leih ich ihn euch aus. Da haben nur zwei drin Platz! Da kannst du totsicher sein, dass unsere Almut außen vor bleibt, wenn ihr zwei Täubchen euren Ausflug macht.“ Sein Lachen übertönte das Geknatter und Lotte grinste.

„Deiner Tante bekommt übrigens das Turnen überhaupt nicht! Neuerdings behauptete sie, sie hätte ein Schaukelbecken, und ich wäre daran schuld!“ Lotte bekam einen Lachkrampf und der Onkel fuhr fort: „Sie schwört jetzt auf Salben und Essenzen!“

Mal wieder, dachte sie, es war in der Tat eine kurze Episode geblieben – Almuts Ausflug in die Welt der Turnerinnen. Im Badeschrank hatte sie neulich wieder eine Zehnerkur Entfettungsmittel gegen Korpulenz gefunden, auf der in dicken Lettern: Keine Änderung der Lebensweise! stand. Als sie die Tante damit überraschte, redete Almut sich nur heraus: „Ach, Kindchen, immer diese Turnerei. Jetzt sollten wir auch noch laufen, da hab ich aufgehört, ich renne mir doch nicht die Schwindsucht an den Hals!“ Nun liebäugelte sie wieder mit ihrem Gummigürtel und schwärmte von Wettkochveranstaltungen. Das Leben einer Hausfrau war eben doch ihr Reich. Statt des Dienstagstrainings bei Berta nahm sie lieber am Glanzplättkurs des Heimchenbundes teil.

Ach, es tat so gut, mit dem Onkel durch Hannover zu fahren. Als Lotte vor sich hin lächelte, hakte er nach: „Was ist jetzt mit der Spritztour? Nimmst du das Angebot an?“

Dein Bestechungsgeschenk zur Hochzeit? Und ob!“, rief sie ausgelassen.

Drei Monate später war Lieselotte verheiratet, natürlich nicht wegen des motorisierten Versprechens, sondern weil sie endlich eine weitere Ausbildung in Hamburg beendet hatte.

Dank der finanziellen Großzügigkeit ihres Onkels hatte sie nach ihrem Abschluss zwei Jahre in der Labanschule in Hamburg verbracht. Beim „großen Rudolf“, wie Winfried ihn gern titulierte. Winfrieds Bruder lebte in der Hansestadt, und seine Familie hatte Lieselotte mit offenen Armen empfangen und für die Ausbildungszeit bei sich aufgenommen. Als Gegenleistung half sie in der Hauswirtschaft mit. Den Kredit, den ihr Onkel ihr zur Verfügung gestellt hatte, würde sie natürlich zurückzahlen, aber Winfried ließ ihr Zeit. Es hatte sie stolz gemacht, bei den „Labanesen“ lernen zu dürfen, denn unter den Fittichen von Rudolf von Laban war sogar Mary Wigman Schülerin gewesen.

Ihre Freundin Else Marie hingegen konnte mit dem Namen der einst so vergötterten Tänzerin schon lange nichts mehr anfangen. Lotte seufzte, wenn sie daran dachte. Es war schade, aber Else hatte sich entfernt. Von vielen Dingen. Vielleicht hätte Lotte besser auf sie achtgeben müssen. Aber während ihrer zweiten Ausbildungszeit in Hamburg hatten sich ihre Wege getrennt. Dennoch, die Sache war es wert gewesen. In Hannover hatte sie Selbstbewusstsein und Haltung gelernt, aber bei Laban wurde der neue Tanz erfunden und nicht nur vordiktiert. Berta liebäugelte mit der Improvisation, aber Laban lebte sie. Berta war funktional, Laban beseelt. Berta war eine unbedeutende Vorstufe, Laban Kult. Lotte schloss die Augen und gab sich dem Fahrtwind hin.