19

„… weil nur die Schlankheit siegt, beugt sie den Rumpf …“ Den schnarrenden Singsang begleiteten die munter hüpfenden Akkorde eines Pianos. Willy Rosens Kassenschlager drang in voller Lautstärke aus dem Radioapparat, als Lieselotte die Türschwelle zu Elses Wohnung überschritt. Halbnackt wippte ihre Freundin in Charleston-Manier auf sie zu. Der Regler war auf Anschlag gedreht. Seufzend warf Lotte ihren blauen Überzieher ab. Seit sie wieder in Hannover war, hatte sie beschlossen, sich häufiger um Else zu kümmern. Das Uferlose in ihrer Art beunruhigte sie.

„Ist Arthur nicht da?“ Verstohlen blickte Lotte sich um, obwohl sie wusste: wäre er anwesend, würde Else nicht barfuß auf knarrenden Dielen zu ohrenbetäubender Rundfunkmusik herumspringen. Arthur und Else teilten sich seine winzige Wohnung, obwohl Else ihr Zimmer im Hause ihrer Eltern behielt. Ihr Freund war Musiker und kein Kind von Traurigkeit, aber allzu oft zwangen ihn hämmernde Kopfschmerzen in die Waagrechte, ins Dunkel und in die Stille. In dieser Hinsicht war der Saxophonist eine schlechte Partie für Else. Jedenfalls tagsüber. Sieben Uhr abends jedoch verschwand sein Kopfweh, und dann spielte er für die vergnügungssüchtigen Nachtschwärmer Swingmusik im Tanzpalast.

„… ob am Rhein, ob an der Elbe, überall ist es dasselbe, alle Frauen kann man turnen sehn!“, schnarrte es aus dem Empfänger, und obwohl Lotte ihre Schuhe bereits ausgezogen hatte, tanzte Else noch immer herum. Es ärgerte sie. Offenbar hielt Else es für unnötig, ihr Hausschuhe anzubieten. Ihre affektierte Art ging ihr zunehmend auf die Nerven. Auch das backfischartige Gehopse fand sie nicht mehr altersgemäß.

„Brust heraus, soweit der Vorrat reicht!“, krähte Else inbrünstig mit. Unflätig schob sie ihren Busen vor und schüttelte ihn in obszöner Manier wie die Damen aus den einschlägigen Varietés.

„Hör auf damit“, flehte Lotte. In den letzten vier Jahren hatte Else ordentlich zugelegt. Sechs Pfund pro Winter, schätzte Lotte. Aus dem mageren Ding von damals war zwar noch kein richtiger Rollmops geworden, aber von Schlankheit konnte nicht mehr die Rede sein. Es schien Lieselotte mehr zu stören als Else selbst.

„Hörst du nur noch dieses alberne Zeug, oder turnst du auch hin und wieder noch?“

Else Marie hielt inne, ging zum Radio und schaltete ab. „Was ist nur aus dir geworden? Langweilig bist du. Zum Gähnen. Der reinste Hausfrauenzettel!“

Seufzend ließ Lotte sich auf einen Stuhl sinken und schaute sich um. Liederlich und nachlässig sah es aus, seit Else Marie der Gymnastik den Rücken gekehrt hatte. Vielleicht aber hatte diese Unordnung schon immer in Elses Seele gehaust. Ihre unzähligen Liebhabereien der letzten Jahre sprachen dafür. Zur gleichen Zeit, als Lotte Erwin kennenlernte, bändelte Else mit einem rotbärtigen Johann aus dem Ruderclub an, der ihr aber nur so lange gefiel, bis es ein Hanomacker sein musste, ein kerniger Maschinenschlosser, der ständig nach Fabrik stank und den sie auf einer KPD-Versammlung mit Erwin kennengelernt hatte. Nur ein paar Wochen, dann war es Else zu anstrengend geworden, ihn jeden Freitag am Werktor aus dem Strom der Feierabend-Schlosser herauszufischen, damit er seine Lohntüte nicht versoff – und später sie um Geld anbettelte. Es folgten in rascher Abfolge ein Bäckergeselle, ein entfernter Cousin, der Jura studierte, und ein Polizist. Bis sie im letzten August plötzlich von einem Offiziersschüler – einem schmucken Uniformierten – redete, der im Reitstiefelviertel wohnte. „Er heißt Claus, ist ein Herr Graf und hat mir sogar seinen Ehrensäbel gezeigt“, kicherte sie mit ungläubiger Ehrfurcht, als sie Lotte einmal in Hamburg besuchte. Und als Lotte vehement die Kaffeetasse abstellte, dass sich sogar der Kellner des kleinen Cafés erschrocken zu ihnen umdrehte und sie Else Marie zurechtwies, sich so intimes Geschwätz zu verbitten, hatte Else ausgerufen: „Nein, Lotti, nicht, was du denkst! Der Herr Schenk von Stauffenberg ist der tollste Kavallerist seines Jahrgangs und hat wirklich einen waschechten Säbel für hervorragende Leistungen bekommen.“ Daraufhin errötete Lotte und Else amüsierte sich grinsend über „Lottes wüste Gedankenwelt“.

Vier Wochen später schon schrieb sie ihr nach Hamburg, dass das stolze Techtelmechtel mit dem Adligen vorbei sei und der Herr Graf keiner Rede mehr wert. Die einzige Äußerung, zu der sich Else später noch herabließ, war: „Er ist furchtbar ehrgeizig. Genau wie du!“ Abfällig hatte sie abgewunken. „Nur seine Hengste und die Karriere im Kopf. Und so ernst. Überhaupt nichts für mich. Viel zu jung.“ Die Ausrede hatte Lotte ihr jedoch nicht abgenommen. Der von Stauffenberg zählte mal gerade zwei Jahre weniger als sie. Vermutlich war es umgekehrt: Er hatte sich von ihr abgewendet. Die Vehemenz, ihn schlechtzureden, sprach dafür.

Und dann tauchte wieder Arthur bei ihr auf. Diesmal zierte sie sich nicht lange. Kurze Zeit, nachdem sie dem dunkelhaarigen Saxophonisten verfallen war, wirkte Else Marie auf einmal wie verändert. Regelrecht entpuppt. Nur, dass sie zuvor keine Raupe, sondern bereits ein Schmetterling gewesen war. Aber wie war die Steigerungsform eines Schmetterlings? Nachtfalter, vielleicht? Genau, ihre Freundin glich einer überdrehten Motte. Nur noch tagsüber nannte sie sich Else Marie. Wenn es dämmerte, verwandelte sie sich in eine Elena Mercurie. Unter diesem Künstlernamen trat sie auch auf. Die Arbeit in der Roten Mühle verdarb ihren Charakter noch mehr. Else zeigte zwar kein Soloprogramm im Tanzpalast in der Schillerstraße – das war den berühmteren Damen des Gewerbes vorbehalten –, aber sie hatte ein festes Engagement mit fünf anderen Revue-Mädchen. Allabendlich bildeten sie die erotische Staffage der Bühne.

„Soll ich uns ein bisschen einheizen?“, fragte Else augenzwinkernd, bückte sich und griff nach Feuerholz.

„Ja, bitte.“ Alles hat sie verlernt, dachte Lotte resigniert, selbst das einfache Bücken.

„Denk doch wenigstens an die Kniesäge, statt dein Hinterteil in die Luft zu recken wie eine Kuh.“

„Wie sollte ich die heilige Kniesäge denn je vergessen?“, höhnte Else. „Aber Arthur hat sie mir abgewöhnt. Dieser Anblick …“, sie wackelte neckisch mit dem Gesäß, „… ist ihm lieber. Er vergöttert ihn geradezu!“

Lotte wandte sich ab. Vulgär war sie geworden. Und dass ihre Freundin gleich alles verwarf, was gesund war, enttäuschte sie noch mehr, denn die Kniesäge war harte Arbeit gewesen. Alle aus der Schule beherrschten sie im Schlaf: das Verlagern des Gewichtes beim Hinhocken. Das Schaukeln und Abfedern auf Ballen und Fersen. Es schonte die Gelenke und half anmutig auszusehen. Selbst, wenn man nur heizte.

„Roll nicht so mit den Augen, Lotte. Arthur ist eben ein Genießer.“

„Ja. Das ist auch nicht zu übersehen.“ Der langhaarige Musiker aß und trank gern und viel. „Aber du musst das ja nicht noch unterstützen!“

„Mit meinem dicken Hintern?“, fragte Else spitz. „Meinst du das?“

„Else, bitte!“, fuhr Lotte sie an. „Ich habe nicht dick gesagt. Es ist lediglich die Art, wie du dich …“

„Ja?“

„Ich finde es unzüchtig.“ Sie verkniff sich weitere Kritik, aber es ließ sich nicht leugnen: ein schmal gehaltenes, umrissfestes Gesäß besaß sie längst nicht mehr.

„Der erste Welttanz der Geschichte war übrigens das Menuett“, sagte Else schnippisch.

„Ja, und?“

„Sein Inhalt war das Liebesspiel.“

Lotte winkte nur ab.

„Solange meine Mulden hier noch zu sehen sind“, sagte Else und tippte mit ihren lackierten Nägeln auf die Schlüsselbeine, „kannst du nicht behaupten, ich hätte meine Figur verloren. Dafür ist unsere Berta umso mehr aus dem Leim gegangen!“ Ganz allmählich begann sich Else vor dem Spiegel in das blonde Gift Elena Mercurie zu verwandeln. „Unsere große, unfehlbare Gymnastikpäpstin!“, flötete sie. Und damit hatte sie recht. Obwohl Berta ständig in Bewegung schien, war ihr Leib über die Ufer getreten. Die Taille hatte sie noch nicht ganz verloren und ihre Bewegungen blieben nach wie vor geschmeidig, aber das gnadenlose Vorhandensein ihres dicken Bauches ließ alle anderen Schönheitsmomente zerfallen.

„Auch, wenn sie sich nichts anmerken lässt, ich bin mir sicher, es nagt an ihr!“

Lotte nickte abwesend. Noch immer trug Berta das Echo ihrer Schönheit in sich, nur der grazile Schwung ihrer Silhouette war lange verflogen. Lotte erinnerte sich noch gut an die Fotografien in der Zeitschrift, damals, als ihre Lehrerin nackt posierte für die Wissenschaft. Nun war Berta dick, aber das felsenfeste Bewusstsein ihrer Schönheit schien tief mit ihr verwachsen zu sein. Sie hätte ein Flusspferd sein können, aber der Glaube an sich selbst bewirkte, dass sie trotz der Massigkeit elegant dahinglitt, wissend, dass alle Blicke auf sie gerichtet waren. Diese innere Überzeugung war wohl Magie, denn Berta Habenicht wurde als eine wahrhaft königliche Schönheit wahrgenommen.

Manchmal stelle ich mir vor, sie säße auf der Schulbank und hörte sich selbst zu. Erinnerst du dich noch?“

„Nur zu gut“, erwiderte Lotte. „Es ist dem denkenden Menschen schlechthin unverständlich, wie Tausende und Abertausende von Frauen den dicken Bauch können erscheinen und wachsen sehen, ohne Himmel und Erde in Bewegung zu setzen, um sich desselben zu entledigen!“

Die Vehemenz, mit der Berta ihre Worte herausfeuerte, ließ keinen Zweifel. Und nun, wie zum Hohn, begehrte ihr eigener Körper gegen sie auf. Es musste sie kränken. Leise Genugtuung regte sich in Lieselotte, auch wenn Jahre dazwischen lagen.

Anfangs hatte die Erinnerung an die Zurückweisung noch wehgetan. Momente, die ihr heute wie hinter einem Schleier vorkamen. Es ging ihr damals schlecht. Als wäre in ihr eine Falltür gewesen und alles, was darüberlag, sackte ins Nirgendwohin. Anfangs passierte Lotte das ständig. Überall konnte das Gefühl sie anspringen. Zum ersten Mal in ihrem Leben bekam sie ein Empfinden für das Wort „Leiden“, eine fühlbare Ahnung von Kraftlosigkeit. Sie spürte die Grenze, wo der reine Wille nichts mehr auszurichten schien. Also stolperte sie geradeaus, quälte sich jeden Morgen aus den Federn, auch wenn sie lieber liegengeblieben wäre, und alles nur, weil sie dem schlimmsten aller Gefühle entrinnen musste: Bedürftigkeit. Es hatte ihren Vater gefressen, ihre Mutter geholt, es sollte sie nicht kriegen. Sie war eine Überleberin. Sie und das Tanzen. Sie und die Anmut.

Und irgendwann spürte sie, dass sie nicht mehr ganz darin verlorenging. Lotte gewöhnte sich an das Einsacken und Wegknicken und ganz allmählich verloren auch die kleinen Schrecken ihre Endgültigkeit.

Es war anstrengend, das erste Jahr, und erst als sie an die Labanschule ging, wurde es endlich leichter.

Hamburg war ihre seelische Rettung gewesen. Und noch etwas anderes hatte sie lernen müssen, nämlich, dass ihr in der Traurigkeit niemand helfen konnte. Die tröstende Hand von Erwin, der nichts ahnte, war eine Last. Niemandem wollte sie sich zuwenden außer sich selbst. Erwin oder Else zeigen zu müssen, dass es ihr doch recht bald besser ging, war Zwang und Lüge zugleich. Nur in der Einsamkeit war sie frei. Der einzige tröstliche Gedanke, den sie hin und wieder zuließ, war eine durchsichtige, schwebende Hand mit zarten Fingern, die sie sanft berührte, als wäre sie ohne Gewicht, so dass sie sich gefahrlos hingeben konnte. Das hatte nichts mehr mit plumpem Menschsein zu tun. Dass diese ätherische Wärme hin und wieder Züge von Berta annahm, musste sie hinnehmen. Sie hatte Bertas Herz nicht gewinnen können und sie lange auf einen Sockel gestellt. Sie hatte sie bewundert, geliebt und beneidet, aber das war nun vorbei.

Laban hatte sie geheilt, und jeder Haarriss im Fundament der Habenicht-Säule ließ Lieselottes Haupt ein Stück mehr in die Höhe ragen. Jeder Zentimeter von Bertas zunehmender Reizlosigkeit linderte die alte Demütigung. Lotte hatte ihre schöne Figur behalten, Berta nicht. Lotte hatte inzwischen gut besuchte Kurse und verdiente knapp drei Mark die Stunde. Sie hatte trotz der Zeit des Börsenkrachs dank Onkels Gönnerschaft weitergelernt und konnte nun nach einer neuen Methode unterrichten. Berta nicht. Lange schon stand sie mit ihr auf gleicher Ebene. In ihr bebte es nicht mehr, wenn sie Berta sah. Ihr Herz blieb stumm auf den Fluren der GEDOK, bei denen sie die Bragge mit Berta zufällig sah. Lotte schwieg eisern, wenn sie sich bei den Veranstaltungen des Turn-Klubbs über den Weg liefen, und verspürte nur eine leise Verachtung, wenn Berta mit hoch gerecktem Kinn – einer zunehmend lächerlichen Pose – auf den Vernissagen an ihr vorbeiflanierte. Nur manchmal, ganz selten, war da ein sehr leiser und dumpfer Schmerz. In ungeschützten Augenblicken, meist, wenn Lotte sehr müde war oder mit Erwin schlief. Aber in Augenblicken wie diesen, wenn Else Marie so herrlich lästerte, fühlte Lotte sich wiederhergestellt. Einzig und allein, dass sie es niemals gewagt hatte, ihre Brosche zurückzufordern, blieb ein Stachel in ihrem Fleisch.

„Sicher führt sie einen Kampf mit sich“, sagte Lotte. „Ganz bestimmt. Sie ist eine harte Frau.“

„Im Gegensatz zu mir, willst du damit sagen?“

„Vielleicht.“ Mit dem Wuchern des Specks auf Elses Hüften war ihr Redefett leider nicht geschwunden. Die Geschwätzigkeit war angeboren und Else Marie würde sie noch mit ins Grab nehmen.

„Sie ist übrigens noch immer nicht verheiratet. Und das Fräulein Bragge auch nicht.“

„Ach, Elli“, erwiderte Lotte. Es war inzwischen ein offenes Geheimnis, das viele kannten, die mit Berta näher zu tun hatten, aber Lotte wollte partout nicht darüber reden. Bei dem Versuch, die Seidenstrümpfe anzuknöpfen, fegte Else mit ihrem Ellenbogen eine Zeitung von der Sessellehne. Raschelnd fiel sie auf den Boden. Blutmai stand auf der Titelzeile. Unwillig warf Else einen Blick auf den Dreispalter. „Mit ihren Thesen schüren sie nur Bürgerkriegsängste“, monierte sie, während sie eine Augenbraue nachmalte. „Das ist nicht gut. Sie sollen sich einfach nur vertragen mit den Sozis.“

„Wer?“ Lotte ging in die Knie, hob die Zeitung auf, faltete sie ordentlich zusammen und legte sie zurück auf das Sofa.

„Ich rede von den Kommunisten.“

„Ach so. Vermutlich hast du recht. Besser, sie hätten nicht demonstriert am ersten Mai.“ Es war nur so daher gesagt, damit Else endlich Ruhe gab, doch es misslang, denn während Else das Rouge auftrug, die Lippen nachzog, falsche Wimpern anheftete und den Goldpuder auftupfte, erfuhr Lotte in voller Gänze, was ihre Freundin neuerdings von den Kommunisten hielt. Vor einiger Zeit noch hatte sie eine ganz andere Meinung vertreten. Else warf ihre Überzeugungen ab, wie sie glitzernde Kleidungstücke fallen ließ – Abend für Abend vor einem johlenden Publikum –, und alle halbe Jahre suchte sie sich ebenso eine aufregendere politische Liaison. Vermutlich interessierte sich Arthur nicht für die Ideen eines Sowjetdeutschlands so wie Paul, Ludwig oder sonstwer vor ihm.

Lotte war sich nie ganz sicher gewesen, ob die Sätze, die da aus Else Maries Mund sprudelten, angelesen oder nur nachgeplappert waren. Die Freundin besaß das Talent einer Schauspielerin und brachte die Worte so ergriffen und feurig hervor, dass man sie ihr auf Anhieb glaubte. Von daher war die jetzige Berufswahl zumindest ein ernstzunehmender Schritt in die richtige Richtung. Lotte mochte das ganze politische Geschwätz nicht. Auch Erwin kannte kaum ein anderes Thema. Demoverbot hin oder her. Im Gegensatz zu Else war Erwin jedoch ein ehrlicher Roter, aber wenn Lotte jetzt damit anfing, hatte sie vielleicht den schönsten Streit am Hals. Also schwieg sie und widmete sich ihrem Rocksaum. Else wechselte zum nächsten Tagesordnungspunkt.

„Es wird übrigens gemunkelt, die Lessing hätte was mit der Habenicht am Laufen.“

Ein Stich – haarfein – schoss durch ihr Gemüt. Augenblicklich hatte Lotte sich wieder unter Kontrolle.

„Soso“, sagte sie kühl.

„Kannst du dir das nicht vorstellen oder interessiert es dich wirklich nicht?“

„Letzteres.“

„Ach, Lotte, das glaube ich dir nie. Du hast sie doch angehimmelt damals. Ich habe es genau gesehen.“

„Ich war ein Backfisch. Sie meine Lehrerin.“

„Ich war auch ein Backfisch. Sie war auch meine Lehrerin.“

„Du schwärmtest doch für Mary Wigman, wenn ich dich erinnern darf, und wolltest ihr sogar hinterherreisen.“

„Stimmt“, räumte Else Marie ein. „Ich erinnere mich dunkel. Amerika.“

„Siehst du?“, erwiderte Lotte und lächelte.

Aber Else hatte sich festgebissen.

„Andererseits ist es nicht zu leugnen, dass du ihre Lieblingsschülerin warst. Sie hat dich bevorzugt, wo es nur ging.“

„Dummes Zeug.“

„Wie du meinst. Aber ich habe meine Quellen.“

„Was für Quellen?“

„Es wird geredet. Hier und da.“

Lotte runzelte die Stirn. Was wusste ihre Freundin? Lotte hatte ihre eigenen geheimen Gedanken nie geteilt. Der einzige, verräterische Brief, den es gab, war verbrannt.

„Nun spuck es aus. Du platzt ja bald!“, entgegnete Lotte ungeduldig.

„Es wird erzählt, dass die Habenicht des Öfteren Schülerinnen bevorzugt behandelt. Aus welchen Gründen auch immer.“ Elses Mund verzog sich zu einem schelmischen Grinsen. „Wer weiß, vielleicht führt sie ihre freiheitliche Gesinnung auch noch anderswo ein als nur in die goldlockigen Köpfchen ihrer Elevinnen?“

„Du bist ekelhaft, Else. Ich weiß nicht, was mich noch bei dir hält!“ Empört stand Lotte auf. „Dieser Beruf verdirbt dich.“

„Lottchen! Setz dich doch. Warum so prüde? Wir sind gestandene, moderne Frauen, keine Puritanerinnen. Preußen kann ruhig ein paar lose Mundwerkerinnen gebrauchen. Die Weimarer macht’s möglich und meine Nächte sind bunter denn je. Warum verkneifst du dir das beste Stück Leben?“

„Ich mag keine Gerüchte. So was ist Verleumdung.“

„Erwischt! Du nimmst sie noch immer in Schutz. Deine Berta.“

„Hör auf!“

Wider Willen war sie laut geworden. Aus Elses bestürzter Miene war alles Schelmische verschwunden.

„Lottchen, ist ja gut! Das wollte ich nicht. Nun setz dich doch wieder.“

Lieselottes Augen brannten. Nein, keine Tränen jetzt! Nicht hier. Wieder einmal hatte Else es in ihrer penetrant bohrenden Art geschafft, an Dinge zu rühren, über die sie nie wieder nachdenken wollte.

„Ich mag es einfach nicht. Das Gerede“, sagte sie entschieden und wischte sich über die Augen.

„Ist ja gut.“ Else legte den Arm um sie. „Hast du gerade Ärger? Mit Erwin?“

„Nein“, sagte Lotte und entwand sich der Umarmung.

„Wirklich?“

„Es ist alles wie sonst.“ Sie stand auf und räumte das Kaffeegeschirr ab. „Ich muss los“, sagte sie. „Dann viel Spaß dir heute Abend.“

„Danke!“

„Und mach keinen Unsinn.“

„Ich denke, ich soll Spaß haben?“ Else zwinkerte ihr zu und Lotte rang sich ein leidiges Lächeln ab.

„Die GEDOK-Frauen warten nicht auf mich“, erwiderte sie knapp. „Wenn ich zu spät bin, werden sie mich nie in die Tanzabteilung aufnehmen.“

„Warum willst du unbedingt in die Tanzabteilung? Geh doch zur Gymnastik.“

„Da hockt Berta im Vorstand. Als erste und einzige Vertreterin.“ Lotte grinste leidig. Else lächelte aufmunternd zurück.

„Du hast recht, mach lieber was Eigenes. Neben Berta wirst du es in dem Verein sowieso nicht schaffen.“

„Das habe ich auch nicht vor. Sie ist und bleibt eine Gymnastikerin. Da bin ich rausgewachsen.“

Else Marie kämpfte schon wieder mit ihren Strumpfbändern, und als sie sich die Seidenstrümpfe zum dritten Mal über die Schenkel zog, seufzte sie: „Es wird Zeit, dass ich mal bei dir vorbeikomme, Lotti. Unsere Rhythmen beißen sich. Immer wenn ich aufwache, macht deine Schule schon wieder dicht.“

„So weit ist es ja nun auch nicht bis zur Langen Laube. Die Straße liegt keine zehn Minuten von dir. Außerdem ist Erwin bis zum frühen Abend dort.“

„Ich möchte nicht zu Erwin, ich möchte zu dir!“

„Um dir unsere neuen Räume anzuschauen, reicht es auch, dass Erwin dort ist. Es ist wirklich hübsch geworden. Poliertes Parkett. Fischgrätenmuster. Die Wände lachsfarben. Erwin hat seinen Herrn Papa angepumpt. Widerwillig, aber er hat es getan.“

„Er liebt dich eben. Ist dir das eigentlich klar?“

„Mehr, als du denkst“, sagte Lotte kurz angebunden, eilte zur Tür und lief die Treppen hinab.