Sie musste sich ohnehin beeilen, und nun regnete es auch noch! Lotte keuchte und fluchte. Dabei war gerade die heutige Sitzung so wichtig. Sie lief ohne Unterlass, und es war ihr egal, ob sie dabei in Pfützen trat und ihre Strümpfe nass wurden. Heute ging es um etwas. Eine Tanzaufführung im Planetarium stand bevor und sie konnte sich glücklich schätzen, dass die GEDOK ihr erlaubte, mit ihrer Schule dort aufzutreten.
Lange war es her, dass sie bei der GEDOK das erste Mal um Aufnahme gebeten hatte. Noch zu ihrer Labanzeit. Längst konnte sie die Statuten auswendig singen. Von daher wusste sie nur zu gut, dass dieser Verein zwar auch Laien, aber vor allem professionellen Künstlerinnen unter die Arme griff. Nur musste man sich diese Profession erst einmal verdienen, und das war alles andere als leicht. Lotte arbeitete hart daran, denn die Gemeinschaft Deutscher und Österreichischer Künstlerinnenvereine war nicht dazu erschaffen worden, um spießige Häkel-, Tee- und Bügelrunden zu fördern. Der Umstand, dass Berta in einem der Vorstände saß, machte die Sache nicht einfacher.
Verzweifelt schaute sie auf die Bahnhofsuhr. Zu spät. Die Sitzung hatte bereits begonnen. Jetzt konnte sie nur noch rennen, was das Zeug hielt. Binnen weniger Minuten erreichte sie das Gebäude. Völlig verschwitzt und außer Atem hastete sie die letzten Stufen empor und stieß die Tür zum Sitzungsraum auf. Eine muntere Debatte empfing sie. Das Vorbereitungstreffen war in vollem Gange. Es ging gerade um die Farbe der Gymnastikanzüge in der Programmabfolge. Vorwurfsvoll blickten einige auf. „Ein Stromausfall in der Elektrischen“, keuchte sie atemlos. „Ich bin die ganze Zeit gerannt.“ Hastig faltete sie ihren Mantel zusammen.
„Es gibt Garderobenständer. Dort drüben. Sie dürften die Räumlichkeiten doch kennen, Fräulein Daube.“
Natürlich, Berta!
„Daube-Gellert bitte“, korrigierte Lotte mit Nachdruck. „Und – Frau“, fügte sie leise hinzu.
„Ach, ja. Sie haben ja geheiratet“, bemerkte Berta beiläufig und lächelte unergründlich. Eilig hängte Lieselotte den Mantel an den Haken. Ihren Tonfall hat sie nie geändert, dachte Lotte ärgerlich. Aber wenigstens ließ sie Erwin aus dem Spiel. Das Ziel allein war wichtig. Sonst nichts.
„Welche Farbe trägt deine Gymnastikgruppe?“, erkundigte sich Wilhelmina von der Hagemann-Schule.
„Gelb“, erwiderte Lotte. „Wie immer. Weißt du doch.“ Langsam gewann sie wieder Oberwasser. Nur nicht unterkriegen lassen. Schließlich war es nicht ihre erste öffentliche Aufführung. Berta runzelte die Stirn. Das konnte vieles bedeuten, vielleicht störte Gelb das Gesamtbild beim Applaus oder es lähmte das Zuschauerauge, wenn sich die erdige Sandfarbe der Tanzkittel mit dem Lindgrün der Habenicht-Schülerinnen vermischte. Möglicherweise missfiel Berta aber auch nur, dass Lotte ihre Haare wie immer zu einem strengen Dutt aufsteckte oder irgendein anderes Detail in der Programmfolge. „Dürfen wir denn Anneliese noch erwarten?“, fragte Berta, ohne aufzublicken. Gott sei Dank, dachte Lotte. Sie war nicht die Einzige, die sich verspätete.
„Welche Schule war das?“
„Loheland!“ Vehement schaute Berta auf und warf Wilhelmina einen vorwurfsvollen Blick zu. Lotte schmunzelte, als sie sah, wie diese zusammenfuhr. Aber schon vertiefte sich Berta wieder in den Ablauf. Um den Eichentisch waren fast alle Plätze belegt. Schließlich fand Lotte einen freien Hocker gegenüber Berta und setzte sich leise.
„Gehen, gehen, nochmals gehen! Das ist nicht unbedingt revolutionär. Das müssen wir entzerren!“, stöhnte Berta und zitierte: „Schlechte Gangarten, gute Gangarten, Phasen der Gangentwicklung, Raumrichtungsgehen … Die Zuschauer schlafen uns ein, schon beim Lesen dieses Programms.“ Niemand erhob Einspruch. Alle wussten: Berta selbst würde gleich mit einem passenden Gegenvorschlag kommen. „Gut, meine Damen, nehmen wir also die Loheländer kurz vor die Pause, und Hagemann eröffnet stattdessen. Dann passt die Ausdrucksspannung mit der Tamburinbegleitung exakt dazwischen. Noch Fragen?“
„Ja“, meldete sich Lieselotte. „Ich habe am selben Tag noch eine weitere Aufführung und müsste vor der ersten Pause durch sein.“
„Ach. Eine Aufführung? Wo denn?“ Berta wurde weich. Sie ist neugierig, frohlockte Lieselotte.
„Beim Stiftungsfest des Artillerievereins in Celle“, erwiderte sie mit verhaltenem Stolz.
„Beim Artillerieverein? Soso. Was sagt denn Ihr Mann dazu, der Kommunist?“ Als Lieselotte schwieg, ließ Berta nicht locker: „Wer tagt denn da genau?“
„Die niedersächsischen Elektrizitätswerksdirektoren.“
„Ach, dann können Sie denen vielleicht das mit Ihrer Panne in der Elektrischen erzählen. Falls Sie dort jemals ankommen sollten.“ Es war scherzhaft gemeint, aber niemand lachte. Berta warf einen etwas versöhnlicheren Blick in die Runde und fuhr fort: „Ich verstehe natürlich, Fräulein … Frau Daube … ich schau mal, was sich machen lässt.“ Lotte verkniff sich dieses Mal die Korrektur ihres Namens. Sie wollte Berta nicht schon wieder Anlass bieten, sich lustig zu machen. Mit schmalen Lippen notierte Berta etwas auf ihrem Zettel, verschob hier, strich da etwas durch, schüttelte den Kopf und begann erneut zu listen.
„Nein“, murmelte sie unwirsch. „Das passt nicht. Das stimmt alles hinten und vorne nicht!“
„Was denn?“, fragte Lotte leise.
„In der jetzigen Reihung müsste Ihre Gruppe vor meinem Film tanzen. Das geht nicht. Die Elemente beißen sich. Sie würden sich gegenseitig in ihrer Wirkung entheben.“ Ach, dachte Lotte, da liegt also der Hund begraben. Der neue Film. Inzwischen hatte Berta nämlich einen weiteren Streifen produziert. Gesund und elastisch durch Gymnastik – ein Kulturlehrfilm. Jetzt fürchtete sie sicher, dass Lottes Gruppe das tote Schwarzweißgeflimmer an die Wand tanzte. Mit Recht. Die Daube-Gellert-Schule hatte sich inzwischen einen guten Ruf erarbeitet, der darin bestand, dass ihre Vorführungen freier und vitaler waren. Man merkte es an der Art des Applauses. Bei ihr wurde immer ein klein wenig frenetischer, unkontrollierter geklatscht.
„Bitte!“, drängte Lotte und bemühte sich, trotz ihrer Verzweiflung distanziert zu erscheinen. „Ich kann den Vertrag mit der Stiftung nicht mehr rückgängig machen. Meine Schule braucht das Geld. Wir haben doch gerade renoviert.“
„Erwin Gellert und Sie?“
Nun errötete sie doch. Holte Berta jetzt das dunkle As ihrer Vergangenheit aus dem Ärmel, um es auf perfide Art auszuspielen? War da nicht ein ironisches Aufblitzen in den Augen? Und wenn schon, dachte sie und erwiderte trotzig. „Ja, ich mit meinem Mann.“ Es fiel ihr schwer, unbeteiligt zu klingen, aber Berta nickte ohne weiteren Kommentar. Na also. Was wusste sie denn schon von Erwin und ihr? Als wäre die romantische Liebe der Kitt der Welt! Was sie und Erwin zusammenhielt, war eine nahezu perfekte Ergänzung. So, wie das Gewinde eine Mutter mit ihrer Schraube verband, so hatte sich aus ihrer tänzerischen Gabe und seinem Turntalent eine Symbiose entwickelt, deren Resultate sich sehen lassen konnten.
„Und Ihren Auftritt zur Tanzveranstaltung der GEDOK wollten Sie so ganz nebenbei aus dem Ärmel schütteln?“
„Eben nicht. Genau deswegen bitte ich doch um eine Verlegung in den ersten Teil.“ Maßloser Ärger stieg in ihr auf. Gerade Berta, die so viel herumreiste, um ihre eigene Karriere zu protegieren, warf ihr nun vor, sich die Termine zu eng zu setzen?
„Die Arbeit in der GEDOK ist Ihnen sehr wichtig, ja?“, drängte Berta weiter. Lieselotte schluckte. Natürlich wusste Berta von ihrem Antrag zur Aufnahme in die Tanzabteilung. Zielte die Frage darauf ab? Und sagte ihr Berta – als Vorsitzende der Gymnastikabteilung – durch die Blume, dass sie sich entscheiden sollte und dass sie andernfalls schlechte Stimmung gegen sie machen würde? Noch nicht einmal eingeladen hatte man sie auf die Sitzung, in der es um ihre Aufnahme ging. Es verunsicherte sie zutiefst. „Natürlich. Sehr wichtig sogar“, erwiderte sie mit fester Stimme.
„Es ist alles eine Frage der Haltung, Frau Daube-Gellert, jede einzelne Entscheidung, die Sie treffen.“ Ironisch blitze es aus ihren hellbrauen Augen.
„Ich könnte doch mit ihr tauschen“, mischte sich Wilhelmina hilfsbereit ein. „Es wäre sogar günstig. Meine Schülerinnen hätten dann mehr Zeit zum Umkleiden.“
Abermals runzelte Berta die Stirn und vertiefte sich in ihren Zettel. „Gut“, schnaubte sie nach einer Weile. „So müsste es endlich gehen! Dann erreicht Frau Daube-Gellert auch noch ihren Zug, so die Elektrische will.“
„Sie will!“, entgegnete Lieselotte so hell und befreit, dass Berta spontan auflachte. Lieselotte fiel ins Lachen ein. Ein kurzer Augenblick der Übereinstimmung blitzte zwischen ihnen auf, ein minimaler Moment der Anerkennung. Keine von ihnen hätte gewinnen können. Flüchtig lächelten sie einander an. Ein warmer, leiser Schauer, ein Echo der Erinnerung, überlief Lotte. Ob es Berta ebenso erging?
„Sehr gut, dann rutscht also Hagemann flugs nach hinten.“
Schwungvoll ergriff Berta Habenicht einen blanken Zettel und schrieb in schrägen Buchstaben: Szene 13 „Sicherheit“: Ansaugen des Körpergewichtes nach vorne.
„Vielen Dank für Ihre Mühe, Frau Habenicht“, sagte Lotte gelöst.
„Wir mühen uns alle. Es gibt nichts zu danken“, erwiderte Berta freundlich. Wieder sahen sie sich an. In diesem Moment wurde die Tür aufgestoßen und Anneliese betrat keuchend den Raum. „Es tut mir leid, die …“
„Elektrische!“, riefen die Frauen im Chor und lachten.