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Das neue Anzeiger-Hochhaus war der Stolz ganz Hannovers. Rot und herrschaftlich ragte es am Goseriedebad in den grauen Herbsthimmel – vierundfünfzig Meter Backstein, das erste Hochhaus der Stadt. Und unter seiner Kuppel: das Planetarium. Imposant, halb amerikanisch, halb norddeutsch. Noch nicht lange war es her und Lieselotte erinnerte sich genau an den Anblick, wie es vor der Baustelle von Schaulustigen nur so wimmelte und die Polizei nur mit Mühe den Verkehr in den Griff bekam. Die Redaktion des Anzeigers war aus der Schillerstraße fort- und in das Hochhaus umgezogen. Sehr zum Bedauern Else Maries, die sich noch immer ihre Nächte in der Roten Mühle um die Ohren schlug. Das Tanzlokal war ebenfalls in der Schillerstraße beheimatet und Else hatte die räumliche Nähe des Nachtclubs zur Redaktion immer gern als Beweis angeführt, dass ihr Gewerbe durchaus solide und keineswegs so schmutzig war, wie Lotte immer behauptete.

Seit einer Stunde warteten sie nun schon vor dem Backsteinpalast. Noch bevor ihre Mädchen dort tanzten, gab es im Planetarium eine Darbietung für alle. Das vorfreudige Getuschel unter den Wartenden versetzte Else Marie und auch Lotte in Aufregung. Bislang hatte sie erst ein einziges Mal in ihrem Leben ein Tellurium gesehen. Das war noch am Lyzeum gewesen. Ein lustiges Ding. Eine Art Planetenmaschine, kompliziert konstruiert, die den Umlauf der Erde um die Sonne und den des Mondes um die Erde zeigte. Diverse Kugeln kreisten wie von unsichtbarer Hand bewegt auf Drahtspiralen umeinander. Die unsichtbare Hand entpuppte sich jedoch als versteckte Kurbel. Das moderne Planetarium im Anzeiger-Hochhaus hingegen war ein Lichtbildkino! Mit leuchtenden Augen hatte Else ihr erzählt, dass man dort oben in eine vollkommene Illusion eintauchte. Als würde man unter Hannovers echtem, wolkenlosem Nachthimmel sitzen!

„Wann öffnen sie endlich? Die Leute stehen schon bis auf die Straße!“, drängte Else.

„Ich hoffe gleich“, erwiderte Lotte ungeduldig, „Es muss pünktlich losgehen, sonst …“

„Mach dir keine Gedanken. Das wird es. Sie sorgt schon dafür“, beruhigte sie Else. Hoffentlich. Berta Habenicht hatte Lottes Gruppe in der Reihung jetzt so platziert, dass alle rechtzeitig in Celle sein konnten. Sie atmete tief durch und versuchte das Lampenfieber in den Griff zu bekommen. Gute Gedanken mussten her. Der Besuch der Planetenshow war kostenlos. Ein Bonus. Seit längerer Zeit hatte sie ohnehin den Eindruck, dass je mehr sie im öffentlichen Leben mitmischte, sie auch mehr davon profitierte. Manche Dinge waren plötzlich gratis. Wie dieses Spektakel. Endlich war sie im Begriff, sich einen Namen zu machen, und die Vorteile, die so ein Rang mit sich brachte, waren enorm.

Die Türen öffneten sich und zusammen mit den Gästen wurden Lotte und Else in die Vorhalle gespült. Im Schneckentempo bewegte sich die Schlange vor dem Fahrstuhl in Richtung der Stahltüren. Häppchenweise vertilgte die Kabine die Gäste. Die Türen summten beständig, leise und zufrieden, bevor sie sich abermals öffneten und neue Menschen verschluckten.

Endlich waren sie an der Reihe. Die Reise über zehn Geschosse begann mit einem leichten Vibrieren. „Und ab zum Mond!“, frohlockte Else Marie. Mit metallischem Brummen verschloss sich die Kabine. Lotte und Else waren umringt von zwei Herren in grauen Anzügen und einigen Damen, deren Hüte sich ständig im Weg waren. Rasierseifen-, Rosenwasser- und Cognacgeruch erfüllte den Raum. Genießerisch schloss Else die Augen, sog den Duft ein, während sie nach oben fuhren. Viel zu schnell erreichten sie die Kuppel. Brummend öffneten sich die Türen zum hohen Gewölberaum und ein leuchtendes Weiß strahlte ihnen entgegen. Auf der Kuppeldecke und an den Wänden bewunderten sie die künstliche Silhouette Hannovers.

„Lass uns dorthin“, sagte Lotte und schob Else in Richtung Mitte. Um einen imposanten, schwarzen Apparat reihten sich zahlreiche Stühle. Flüsternd verteilten sich alle und schon waren die begehrten Plätze belegt.

„Da!“

In der dritten Reihe entdeckte Else zwei freie Stühle. Sie schoben sich durch die Sitzenden und langsam kehrte Ruhe ein. Hinter der Bühne in den separaten Vorbereitungsräumen führte Berta das Gesamtregiment. Lieselotte war es recht, denn nur so kam sie in den Genuss der Planetenshow. Behutsam schloss jemand die Türen und sofort wurde es stockdunkel. Hinter den Kulissen fieberten Lottes Mädchen bereits ihrem Auftritt entgegen. Lächelnd lehnte sie sich zurück. Über ihnen entfaltete sich der nächtliche Sternenhimmel in vollster Pracht. Ein Raunen ging durch die Menge und Lotte glaubte tatsächlich, in die Unendlichkeit zu blicken. Deutlich schimmerte die Milchstraße durch das Gefunkel. Dann erschienen wie von unsichtbarer Hand geschrieben die Titel der Tierkreiszeichen am Himmel.

„Siehst du den Pfeil?“, flüsterte Else. Lotte nickte. Ein rotes kleines Dreieck bewegte sich mal hierhin und mal dorthin, während eine sonore Stimme die Naturgesetze erklärte.

„Das ist der Bildweiser“, flüsterte Else.

„Was?“, fragte Lotte.

„Na, das schwarze Ding, mit dem der Mann den Pfeil bewegt. Sein Zauberstab!“ Else grinste. Der Himmel über ihnen begann sich zu drehen und Lotte wurde schwindelig. Sie musste sich an Elses Ellenbogen klammern.

Der helle Wahnsinn, nicht wahr?“

„Ja.“

Minutenlang flog über ihren Köpfen die ganze Sternenpracht hinweg, bis schließlich die Sonne am Horizont aufging. Ihr folgte der Mond. „Wie ein Liebhaber“, zischte Else und Lotte lächelte.

„Dauernd versucht sie ihm zu entkommen, aber er holte sie immer wieder ein. Turnt einfach unter und über ihr herum!“

„Der Arme“, erwiderte Lotte und löste sich von Elses Ellenbogen.

„Denkst du, was ich denke?“, frotzelte Else.

Erwin?“

„Erwin.“ Lotte seufzte leise. „Machen das nicht alle Männer?“

Und ob, das sind Naturgesetze“, kicherte Else.

Nach und nach zogen die Planeten über dem Horizont, Venus, Mars und Merkur. Die eine gemessen, der andere ausschweifend oder in eiliger Bahn. Nur wenige Minuten und dann hatte sich das Himmelsgewölbe einmal um sich selbst gedreht. Ohne Weiteres rollten über zwanzigtausend Jahre einfach dahin. Lotte war gebannt, vergaß ihre Gruppe, den Zeitdruck, ja, sogar Bertas Anwesenheit. Sämtliche Sinne waren erfüllt vom tiefdunklen Blau und dem Tanz aus Licht und Schatten. Der Bildweiser ließ die Zeit rückwärtslaufen, hielt sie an und drehte das Universum nach seinem Belieben um die eigene Achse.

„Er ist wie Gott“, flüsterte Else und deutete auf den Mann am Projektor.

„Nur viel vornehmer“, erwiderte Lotte.

„Wie stellst du dir denn Gott sonst vor?“, stichelte Else.

„Na, jedenfalls nicht so“, erwiderte Lotte, bevor ein gezischeltes Psst! hinter ihrem Rücken ertönte.

Ja doch!“, gab sie zurück. Sie hatte ohnehin nicht vor, darüber zu debattieren, wie sie sich Gott vorstellte. Ein Mann, der nur Kriege und Schlachten generierte, Leben erschuf, um es zu vernichten, und einem Kind den Vater stahl. Es lohnte sich nicht, darüber nachzudenken, ganz im Gegensatz zu dem Wunderwerk über ihren Köpfen. Und das Beste daran – es war menschengemacht.

Als das Licht langsam anging, erhob sich Lotte, huschte gebückt durch die Stuhlreihen und begab sich zu ihren Schülerinnen.

Das geflüsterte bis gleich! und Elses warmen Händedruck nahm sie gar nicht mehr wahr.

„Seit sie ihren Lehrfilm wieder aus der Planetenshow genommen hat, herrscht sie wenigstens nicht mehr jeden an, der ihr vor die Füße läuft!“ Agathe plapperte ungefiltert vor sich hin und war ein einziges Nervenbündel, als Lotte die Tür zur Hinterbühne hinter sich zuzog. Die Planetenshow näherte sich der ersten Pause und die letzten Minuten vor dem Auftritt, besonders mit Agathe, ihrer Vorzeigeschülerin, waren nervenzerreißend. Berta hatte sich bereits in den Vorführraum begeben und nun plapperte Agathe noch ungehemmter. Wie oft hatte Lieselotte ihr schon ins Gewissen geredet, aber ohne Erfolg. Das Lampenfieber verwandelte dieses Mädchen in ein Wortgeschoß. Längst hätte sie sie der Gruppe verwiesen, wenn sie nicht so eine begnadete Tänzerin gewesen wäre. Was Agathe mit ihrer Zunge nicht schaffte, vermochte ihr Körper. Er gehorchte ihr bis ins letzte Zehenglied. Einzig und allein deshalb ertrug Lotte vor den Auftritten ihr aufgeregtes Gehabe.

„Ich habe Frau Habenicht sogar lächeln sehen, als der Bildweiser mit ihr geredet hat. Celle ist kein Problem, hat sie mir versprochen, unser Zeitplan ist unter allerbester Kontrolle, hat sie gesagt …“

Lotte nickte und seufzte: „Der Bildweiser ist der Stab und nicht der Mensch, du Dummchen.“ Für eine halbe Sekunde verstummte Agathe. Dieser Berta-Lehrfilm hatte sie alle kirre gemacht. Nun jedoch hatte der Zufall entschieden. Bertas ganzer Stolz war seit gestern aus der Programmfolge gefallen. Wie eine Sternschnuppe. Die Schwierigkeit, den Lehrfilm an die gewölbte Oberfläche der Kuppel zu projizieren, war unüberwindbar gewesen.

Aufgeregt tippelte Agathe herum und spielte offensichtlich mit einem Ring in ihren Fingern.

„Was machst du denn da? Der Schmuck gehört abgelegt, wie oft muss ich das noch sagen!“, schimpfte Lotte. Das Mädchen schrak zusammen, sprang zur Fensterbank und legte das dunkel glänzende Ding ab. Ertappt schlich sie zurück. Lotte warf einen Kontrollblick zur Fensterbank und erstarrte. Was sie für einen Ring gehalten hatte und was da so friedlich vor sich hinschimmerte, war nichts anderes als ihre Gagatbrosche! Nur mit großer Mühe widerstand sie dem Impuls, hinzurennen und den Gagat an sich zu reißen.

Die Augen aller Schülerinnen waren auf sie gerichtet, und draußen erklang bereits das Zeichen für ihren Auftritt. „Genug geschwätzt, raus mit euch!“, rief sie. Schnell verdrängte Lotte das Bild der Brosche und schlüpfte mit ihrer Gruppe in den Raum. In dem Moment ihres Erscheinens entpuppte sich Agatha vor den Zuschauern zu der erstklassigen Tänzerin, die Lotte kannte. Ganz im Sinne von Mary Wigman sprach sie ausschließlich mit ihrem Körper, und wie an einem unsichtbaren Band zog das Mädchen die Kette der Tänzerinnen hinter sich her. Ihre geschmeidigen Körper gingen auf und unter und wurden zu Wogen eines tosenden Meeres, das ein wütender Poseidon entfesselt hatte. Nach zwanzig Minuten erstarrten die Wellen und die Tänzerinnen formierten sich zum Sternbild des Walfisches. Das Licht erlosch und sie glitten zurück in das Dunkel der Hinterbühne. Als Lotte die Tür zum Vorführraum hinter sich schloss und in Richtung Fensterbank eilte, war ihre Brosche verschwunden.