Dr. Bernhard Kahlbutz war ein anerkannter Orthopäde und schon vor vielen Jahren von der Provinz Hannover zum Landeskrüppelarzt ernannt worden. Tausende von Invaliden hatten seine behutsamen, wissenden Hände auf ihrer Haut gespürt. Bis in die äußersten Winkel war der Doktor gefahren, um sich auch um die letzten der von der Gesellschaft bemitleideten und belächelten Geschöpfe zu kümmern. Dennoch es gab noch eine andere Leidenschaft in ihm, weitab seiner beruflichen Bestimmung. Er war dem Tanz verfallen, er liebte die moderne Improvisation und er liebte Dorothea Bragge. Vielleicht ahnte er schon von Anfang an, wie einseitig und aussichtslos sein stetiges Werben war. Seit der Krieg seine Frau und seinen kleinen Josef aus dem Leben gerissen hatte, betrachtete er das bronzene Verwundetenabzeichen, das im verwaisten Kaminzimmer an der Wand hing, noch nicht einmal mehr mit Stolz. Nie hätte er gedacht, dass jemals eine andere Frau den Platz in seinem Herzen besetzen könnte. Aber seit dem Auftauchen dieses blonden, herben Fräuleins war ein sonderbares Licht in seine Seele gefallen. Vielleicht, weil sie so unzerstörbar wirkte, vielleicht, weil sie so unnahbar war, weil sie ihm deshalb auch nicht genommen werden konnte und weil der Aussicht, sie zu besitzen, eine ebenso unerschütterliche Frau im Wege stand: Berta Habenicht. Und nun saß er wieder einmal zwischen den beiden, zwischen allen Stühlen. Mitten im Vorführraum der großen Celler Weihnachtsmesse. Aber Hauptsache, in ihrer Nähe, dachte er und warf einen scheuen Blick zu Dorothea.
Freundlich wie immer lächelte sie zurück. Ihm wurde warm. Im Saal verebbten das Murmeln und Flüstern, das Licht verlosch und auf der Bühne begann sich etwas auszubreiten. „Ausbreiten“ war das richtige Wort für diesen menschlichen Fluss an Leibern. Geschmeidig glitten sie zu Boden, um gleich darauf nach oben zu streben wie Gewächse einer schnell wachsenden Spezies. Eine getanzte Knospe, dachte Bernhard Kahlbutz. Wie die Liebe. Springt einfach auf – mitten im Frühling –, ob man will oder nicht.
Das erste Mal hatte er die große Frau mit dem schönen Namen Dorothea an einem Märzmontag getroffen. Das Datum würde er nie vergessen. Es war in der Habenicht-Schule gewesen, und eigentlich wartete er dort auf Berta wegen des neuen Faches, der Säuglingsgymnastik. Aber Dorothea blieb im Büro ständig an ihrer Seite, schrieb hier etwas auf, räumte da etwas um, und Berta schien es nicht zu stören, im Gegenteil, die Blonde gehörte dazu wie die Luft im Büro, ja, sie schien sogar das helle Doppel dieser Frau zu sein. Bertas lichte, goldene andere Seite – aber ebenso stark. An diesem Frühlingstag damals hatte er Mühe gehabt, dem Gespräch mit Berta zu folgen, und es brauchte noch ein paar weitere Visiten und ein paar Begegnungen mehr auf dem Flur, bis er es schließlich wagte, Fräulein Bragge auf einen Kaffee einzuladen. Umgehend hatte sie zugesagt. So wie jedes weitere mal danach. Immer und sofort. Daraus war ihre Freundschaft entstanden.
„Wer ist denn dieser Zirkuslöwe?“, unterbrach Bertas leise und scharfe Stimme Bernhards Gedanken.
„Ein Russe, meine ich“, wisperte Dorothea zurück. Obwohl Bertas Wortwahl abfällig war, entging Bernhard Kahlbutz nicht der anerkennende Unterton.
„Er gefällt mir außerordentlich gut“, wagte er zu äußern.
„Alle Fische legen Eier. Die russischen sogar Kaviar“, spöttelte Dorothea und schmunzelte zweideutig. Bernhard Kahlbutz lächelte zurück.
„Ein Prachtstück, ohne Zweifel, aber bei einer GEDOK-Aufführung völlig deplatziert“, räumte sie ein.
Hinter ihnen wisperte es ebenfalls. „Was ist das für ein Tanz? Wo bleibt denn die Musik dazu?“
Brüsk wandte sich Berta um: „Sehen Sie denn die Trommeln nicht?“, herrschte sie die Zuschauerin an.
„Trommeln? Sind wir hier im Urwald?“, giftete es mit dünner Stimme zurück. Sie gehörte einer schwarzgekleideten Witwe.
„Wer den Wolf scheut, sollte nicht in den Wald gehen“, mischte sich Dorothea leise ein.
„Impertinent!“, erboste sich die hagere Dame und zupfte an ihrem weißen Halskragen.
„Nicht ich, meine Liebe – Dostojewski.“ Die Witwe duckte sich und murmelte leise etwas, das nach „Russen, Neger und Judenpack“ klang.
Lieselotte entgingen diese missbilligenden Worte. Völlig eingenommen saß sie fünf Stuhlreihen weiter vorne und vernahm das anerkennende Raunen, als Artjom aus der Menge des bunten, vibrierenden Menschenklumpens herausgewirbelt wurde und eine weiche Luftrolle vollführte. Sanft landete er.
„Das war aber nicht abgesprochen“, flüsterte Erwin ihr ins Ohr.
„Ich weiß“, besänftigte sie ihn. „Aber es kommt gut an, findest du nicht auch?“ Und da war es wieder, das überlegene Blitzen in ihren Augen, das Erwin so mochte und ihm zeigte, wie sehr Lotte in eine Sache eintauchen konnte und sich um sonst nichts scherte. Der aufbrausende Applaus gab ihr recht.
Auch Else Maries Augen funkelten vor Begeisterung. Und das taten sie ganz sicher nicht, weil Arthur untätig mit seinem Saxophon am Bühnenrand saß und fast einschlief. An ihren roten Bäckchen erkannte Lieselotte, dass die Motte Mercurie wieder einmal auf ein neues Licht zusteuerte, diesmal ein russisches. Aenne saß neben ihr, umklammerte die Lederhülle ihrer Kamera und wirkte, als müsste sie sich beherrschen, nur ihre Augen und nicht die Linse zu benutzen. Lotte lächelte kurz, als sich ihre Blicke kreuzten. Die Darbietung schien ein Erfolg auf ganzer Linie zu werden. Das pulsierende Glücksgefühl durchstieß ihren alten Ärger und entfaltete seine reinigende Kraft.
Aenne saß, bis in die letzte Faser gespannt, auf ihrem Stuhl, während Else Marie vor Begeisterung hin und her rutschte. Dabei passierte es ihr, dass sie Aennes Tasche vom Stuhl riss. Dumpf, aber unüberhörbar klatschte es inmitten einer stillen Phase auf den Boden. Einige Zuschauer drehten sich um. Der ganze Inhalt lag verstreut unter den Stühlen. Unwillig runzelte Aenne die Stirn und gab Else durch ein rigides Handzeichen zu verstehen, dass sie das Einsammeln auf später verschieben solle. Als Else sich dennoch bückte, packte Aenne sie am Handgelenk und drückte sie auf ihren Stuhl zurück. Wie ein Stillleben lag der Inhalt der Tasche zu ihren Füßen. Schnell vergaßen die Leute die kleine Unterbrechung und ließen sich wieder vom Bühnengeschehen einfangen. Nur Lieselotte konnte ihren Blick nicht von den vielen kleinen Dingen abwenden, die zu Aenne gehörten. Offenherzig lagen sie da und forderten ihre Neugier heraus. Bislang hatte Lotte Aenne nur als Fotografin kennengelernt. Sie war reizvoll und irgendwie keine typische Frau, so wie Else Marie. Aenne sah wunderschön aus, aber sie war keine, die sich schminkte, puderte oder für Mode interessierte, außer wenn es um geschäftliche Aufträge ging. Und dennoch, die Handtasche einer Frau blieb immer etwas Intimes. Und es imponierte Lieselotte, dass es Aenne so gar nichts auszumachen schien, ihr Innenleben unter den Hinterteilen fremder Leute zu wissen.
Hatte sie so wenig zu verbergen? Neugierig warf Lieselotte wieder und wieder Blicke auf die Dinge unter dem Stuhl: ein paar schwarze Filmdosen, ein angerissener Zettel, auf dem die Worte Tantrallampe – 500 Kerzenstärken standen, ein großes kariertes Taschentuch, wie Männer es benutzten, ein Notizblock, ein Stift, aber keine Puderquaste, kein Handspiegel, dafür jedoch ein handtellergroßes, technisches Gerät, das aussah wie ein Rohr mit einer komplizierten Skala, ein Briefumschlag und ein grünes Buch. Das Buch und der Brief schienen die persönlichste Angelegenheit zu sein, die Aenne in ihrer Handtasche mit sich trug. Der Umschlag war unbeschriftet und das Buch lag so, dass die Schrift auf dem Kopf stand und Lieselotte länger brauchte, bis sie den Titel entziffert hatte: Freundinnen. Eine schöne Überschrift, auch wenn sie sie schmerzlich an die unheilstiftende Begegnung mit Berta vor Jahren in der Nähe der Windmühlendiele erinnerte. In der Pause würde sie Aenne beim Einsammeln helfen. Das schmale, grüne Ding zog sie jetzt schon magnetisch an.
Lautes Applaudieren durchbrach die Stille. Rasch schaute Lotte auf. Der tosende Beifall brandete um ein dreifaches hoch, als die Gelben mit einem strahlenden Artjom nach vorne traten. Einige Zuschauer erhoben sich. Stürmisch drückte Erwin Lotte einen Kuss auf die Wange. Else hüpfte kopflos in Richtung Bühne. Das Missgeschick mit der Tasche schien sie vergessen zu haben. Mit einem hilfsbereiten Lächeln bückte sich Lotte, ergriff das Buch, klemmte es sich unter die Achsel und sammelte die anderen Kleinigkeiten zusammen. Als sie damit fertig war, erhob sie sich und ließ die Sachen in Aennes geöffnete Tasche gleiten.
„Danke!“, sagte Aenne. Am meisten freute sie sich darüber, dass der seltsame Tubus mit der komplizierten Skala heilgeblieben war. „Was ist das eigentlich?“, erkundigte sich Lotte. „Ein zu kurz geratenes Fernrohr?“
„Mein Belichtungsmesser. Gott sei Dank unbeschädigt, Lilo.“
„Wenigstens ist er nicht bis ganz nach vorne gerollt.“
„Allerdings. Aber es wäre wirklich zu albern gewesen, unter die Beine der Leute zu kriechen“, erwiderte Aenne und wickelte das Messgerät in ihr kariertes Taschentuch. Lotte hatte jetzt nur noch das Buch unter dem Arm und hielt den Brief in den Händen.
„Der ist für dich!“, sagte Aenne und deutet auf den Umschlag. „Ich hatte eigentlich nicht vor, ihn dir vor die Füße zu werfen.“
„Für mich?“ Sie errötete.
„Ja. Als Dankeschön, als Premierengeschenk, und überhaupt dafür, dass ich dich kennenlernen durfte. Mach ihn auf. Ich will dein Gesicht sehen.“
Mit zitternden Händen öffnete sie den Umschlag. Die Fotografie vom Sommer! Lotte lachte leise auf. Das sollte sie sein? Es war kaum zu glauben. Ungläubig musterte sie die Frau in Schwarzweiß wie eine Fremde. Ihr Haar wirkte selbst vor dem Samtvorhang dunkel und sie selbst sah so durchsichtig aus. Es musste an dem sonderbaren Licht gelegen haben, damals im Atelier. Ihre Augen blickten erstaunt über den Betrachter hinweg und waren von einer leisen Traurigkeit erfüllt. Die gespreizten Hände bedeckten die Schlüsselbeine, und der verrutschte Kragen ihrer geöffneten Bluse suggerierte einen intimen Moment, der gar nicht stattgefunden hatte.
„Nun? Was sagst du?“
„Kein Objekt, jedenfalls“, rutschte es ihr heraus.
„Nein, ganz bestimmt nicht“, lachte Aenne. „Magst du es?“
„Ich glaube ja“, erwiderte Lotte unsicher. „Ich sehe mich nur nicht so.“
„Aber die Kamera schon und die ist objektiv“, scherzte Aenne. „Mach damit, was du willst. Es war mir jedenfalls ein Vergnügen.“
„Danke, Aenne.“
„Bitte.“ Verlegen schob Lotte das Foto in den Umschlag zurück.
Nun klemmte nur noch das grüne Buch unter ihren Arm. Sie nahm es in die Hand. Verheißungsvoll wirkte die dunkelgrüne Broschur, und auf dem rosaroten Deckelschild konnte sie lesen: Freundinnen – ein Roman unter Frauen von Maximiliane Ackers. Unverwandt starrte sie das Büchlein an. Maximiliane – war das nicht die Verrückte mit dem Kaspertheater?
„Kennst du es?“, fragte Aenne unverblümt.
Lotte schüttelte den Kopf.
„Ein sehr lohnenswerter Roman, er ist schon im zehnten Tausend erschienen. Das ist wirklich beachtenswert. Ich kann ihn dir gerne ausleihen.“
„Worum geht es denn?“, fragte Lotte und blätterte scheu in den Seiten.
„Um eine romantische Liebe unter Frauen. Ich habe es mir gekauft, weil ich die Verfasserin kenne. Sie tritt oft in Hannover auf. Nicht nur mit Kaspertheater. Sie ist toll, Lilo! Hast du Maxi schon mal erlebt? Beim Weißen Affen war sie der Hingucker schlechthin. Warst du mal da?“
Wieder schüttelte sie den Kopf. Else Marie hatte ihr schon vor längerer Zeit begeistert von dem köstlichen Künstlerhaus-Gaudi und einer Frau in Handwerkertracht erzählt. Einer Burschikosen, die Liebeslieder für Frauen sang und dabei eine Klampfe bearbeitete. Der Weiße Affe – das war das große GEDOK-Fest im letzten Jahr. Es hatte über die Kreise des Verbandes hinaus große Wellen geschlagen. Nur sie war wieder nicht dabei gewesen. Wie so oft ging es ihrer Mutter schlecht.
„Ich weiß nicht.“ Zögernd reichte sie Aenne das Buch zurück. „Mir fehlt einfach die Zeit zum Lesen.“
„Zeit fehlt nicht. Du musst sie dir nehmen. Du wirst es wirklich nicht bereuen. Hier.“ Mit diesen Worten drückte ihr Aenne das Buch in die Hand. „Du wirst sie finden!“
„Finden?“, fragte Lotte irritiert.
„Die Zeit.“
„Jedes Ding hat seine Zeit …“, hörten sie plötzlich jemanden hinter sich.
„Ist von Shakespeare“, sagte die Stimme. Dorothea Bragge – natürlich! In Aennes Gesicht flammte eine freudige Überraschung auf. „Doro!“ rief sie. „Ich hatte dich hier vermutet, aber noch nicht gesehen. Wo sitzt ihr?“ Beinahe rutschte Lotte das Buch aus der Hand. Die beiden kannten sich gut? Fast schien es so, denn sie plauderten unbefangen drauflos. Waren sie Artgenossinnen? Ihre Miene verschloss sich.
„Du verschenkst eine Maximiliane Ackers?“, fragte Dorothea neugierig, ohne Lotte eines Blickes zu würdigen. Wen wundert’s, dachte Lotte und hatte das Bedürfnis, rasch zu verschwinden.
„Ja, sie ist großartig, ein Genuss! Nicht nur auf der Bühne.“
„Eine begnadete Künstlerin! Mit einer so von Herzen kommende Ironie. Und immer elegant dabei. Außerdem schätze ich sie als hervorragende Lyrikerin.“
„Du musst es ja wissen“, sagte Aenne.
„Und ob, und ob, meine Liebe! Die Poesie ist eben unter die Weiber gekommen.“
„Nichts Besseres kann uns geschehen.“
„Übrigens hat Maximiliane vor, in die Kunstgewerbeschule zu gehen.“
„Ach, nein.“
„Ach, doch.“
„Ein Hansdampf in allen Gassen.“
„Maxi-Dampf.“ Wieder lachten die beiden Frauen unisono.
„Ich habe sie zum nächsten Modetee eingeladen, magst du auch kommen?“
„Warum nicht?“
Ein Wort gab das andere und Lotte fühlte sich ebenso überflüssig neben Aenne wie Dr. Kahlbutz neben Dorothea. Ihn jedoch schien es im Gegensatz zu ihr nicht zu stören. Er hatte nur Augen für seine Angebetete. Man kann sich ohne Weiteres eine unsichtbare Hundeleine dazu denken, dachte Lotte, während sie vernahm, wie sich die Bragge über Aennes „unerhörtes Materialgefühl“ ausließ und voller Begeisterung behauptete, kein Silberschmuck käme an ihrer Linse vorbei. Unauffällig hielt Lotte Ausschau nach Berta. Aber weit und breit war keine Spur von ihr. Warum sollte sie sich auch in der Menge suhlen? Niemand beklatschte sie heute. Berta hatte verloren, jetzt zumindest. Ein leiser Stolz stieg in ihr auf und machte die unangenehme Begegnung wieder wett.
Noch immer unterhielten sich Aenne und die Bragge angeregt. Offenbar waren sie Kolleginnen beim Anzeiger oder der Tageszeitung. Rasch steckte sie das dunkelgrüne Büchlein ein und entschuldigte sich: „Aenne, ich muss jetzt zu meinen Schülerinnen!“
„Natürlich, natürlich!“, erwiderte Aenne. „Und viel Freude mit der Lektüre!“
„Ja. Danke für das Bild.“
„Bitte, gerne!“
Lotte machte sich auf den Weg, Else Marie zu finden, die in Richtung Bühne geeilt war. Sie entdeckte sie sofort. Ihre Freundin reckte so den Hals in die Höhe, dass sie nicht zu übersehen war. Angestrengt hielt sie Ausschau, aber nicht nach Arthur, der mit zwei anderen Künstlern für die Pausenmusik zuständig war. Es war allzu offensichtlich: Ihre Freundin suchte jemand anderen. Lotte ließ sich auf einen der Stühle nieder und beobachtete amüsiert, wie Else sich mehrfach umdrehte und wie selbstverständlich sie in den Umkleiden hinter der Bühne verschwand. Eine natürliche Scheu vor Intimität schien sie nicht zu besitzen. Nun, man würde ja sehen, was dabei herauskam. Der Saxophonist tat Lotte jetzt schon leid. Nicht nur Elses wegen. Auch wegen seines Engagements. Sein Auftrag hier war wirklich unerheblich. Im Grunde musste er Arthur und seinen Musikerkollegen, Hans und Waldemar aus der Tanzkapelle, völlig absurd erscheinen. Während der Aufführungen waren ausschließlich Geräuschmusik erlaubt: Handtrommeln oder der Rhythmus stampfender Füße für die Intonierung. Auf illustrierende Instrumentalmusik wurde verzichtet. Die Zeiten waren eben modern. Aber so ganz ablassen wollten die Veranstalter davon auch nicht, und so verschob man Saxophon, Geige und Klavier in die Pause. Lotte beobachtete erleichtert, dass Arthur zu beschäftigt war, um Elses werbendes Treiben zu bemerken. Mittlerweile blieb er in Bezug auf Elses Flatterhaftigkeit nicht mehr ganz so gelassen. Es dauerte einige Augenblicke und schon tauchte sie wieder auf. An ihrem enttäuschten Flunsch war abzulesen, dass ihre Bemühungen wohl vergeblich gewesen waren. Trotzig steuerte sie auf Lieselotte zu, ohne ihrem Arthur einen Blick zu gönnen. Else suhlte sich geradezu in ihrem Misserfolg.
„Er ist weg“, platzte sie heraus, kaum, dass sie vor Lotte stand. „Hat mit Erwin die Biege gemacht. Hauptversammlung oder so. Parteigedöns. So ein Pech aber auch. Lassen uns einfach sitzen, unsere zwei Hübschen. Männer eben.“
„Unsere? Wen meinst du denn?“, fragte Lieselotte.
„Das schwarze Gold natürlich. Artjom. Lotte, tu doch nicht so moralisch. Mein Gott, was für ein Talent, und so was verschwendet sich an die Gymnastik!“
Das ging zu weit. „Was erlaubst du dir?“, stieß Lieselotte empört hervor. „Ist dir in deinen losen Nächten entgangen, dass ich fast zwei Jahre lang in Hamburg war? Ein Laban bringt Tänzer hervor. Keine Gymnastik! Du hast nicht die geringste Ahnung, also halt lieber den Mund“, wütete sie. Else war zu oberflächlich, um zu begreifen, dass Lotte die reine Gymnastik längst hinter sich gelassen und die Grenze zur Kunst überschritten hatte. Das machte sie seit einem Jahr aus. Vor allem aber unterschied es sie von Berta. Im Gegensatz zu Bertas funktionellem Turnen hatte Laban Seele. Haltung war eben nicht alles, und der Körper auch nicht nur einfach ein Ding, das man für den Alltagsgebrauch zu stärken hatte. Er war heilig und Schöpfer von Bewegungen. Für diese Feinheiten war ihre Freundin zu einfach gestrickt. Else Marie sah stirnrunzelnd, wie es in Lotte arbeitete.
„Ist ja gut, Lottchen. Ich kann einfach nichts damit anfangen, wenn man den Tanz so schrecklich akademisiert.“
„Und ich mag es nicht, wenn man ihn profanisiert“, gab sie zurück.
„Apropos dein Laban“, lenkte Else ab. „Magda von Ahlten hat es mir gesteckt! Erinnerst du dich noch an sie?“
Ja. Tat sie. Schließlich hatte Magda heute hinter den Kulissen Bertas Gruppe unterstützt. Unwillig schüttelte sie den Kopf.
„Unsere ewige Zu-spät-Kommerin, die durch jede Prüfung gerasselt ist. Aber die muss es ja wissen, weil: ihre kleine Schwester hat es ihr gesagt, und die macht nämlich gerade ihr erstes Semester bei der Habenicht, und Irma Dorn hat es auch bestätigt!“
„Was willst du mir eigentlich erzählen?“ Für das blumige Einkreisen irgendeines neuen Tratsches hatte Lotte überhaupt keine Zeit. Und Lust schon gar nicht.
„Es wird dir nicht gefallen, aber stell dir vor: Berta erteilt jetzt stundenweise Laban-Unterricht!“
„Nein.“
„Doch.“
„Du willst mich aufziehen.“
„Wenn ich es dir doch sage!“
„Das darf sie doch gar nicht.“
„Meinst du, es interessiert sie?“
„Sie braucht dafür einen Nachweis.“
„Sie scheint ohne Schein zu sein. Unsere Berta greift doch nach allem, was gerade modern ist.“
„Dann soll sie doch die Ausbildung dafür machen.“
Else Marie lachte so laut auf, dass sogar Aenne und Dorothea sich nach ihr umdrehten. „Berta? Zurück auf eine Schulbank? Nein, das kannst du nicht ernst meinen!“ Und je mehr Else Marie an ihrem Lachanfall zu ersticken drohte, umso mehr verging Lotte die Laune. Das passte nun gar nicht zum heutigen Tag. Erst die Brosche, dann das hier.
„Der Laban-Verband wird sich sicher dafür interessieren“, bemerkte sie trocken und Elses Gelächter verebbte. Sie verzog das Gesicht.
„Du willst sie anschwärzen?“
Mit einer raschen Bewegung prüfte Lotte den Sitz ihres Haarknotens, obwohl es nichts zu überprüfen gab, und erwiderte kühl: „Sie übertritt jede Linie. Sie ist grenzenlos in ihrer Ausbreitung. Dass man ihr endlich einen Riegel vorschiebt, hat nichts mit Anschwärzen zu tun. Jeder Mensch muss sich an die Regeln halten.“
„Du könntest ja vorher mit ihr reden.“
Jetzt lachte Lotte auf. „Du meinst: ihr ein Stichwort liefern und danach ihren Monolog über mich ergehen lassen? Hast du komplett vergessen, wie sie ist?“
„Dann schreib ihr einen Drohbrief, bevor du das dem Verband steckst.“
„Für wen hältst du mich? Ich schreibe doch keine Briefe an Berta. Niemals.“ Lotte spürte, wie ihr eine verräterische Röte den Hals hinaufschoss.
„Wie du meinst“, erwiderte Else kleinlaut und musterte sie.
Aber Lotte wollte sich nicht beruhigen. „Weshalb drängst du mich eigentlich so, dass ich gebührlich mit der Habenicht umgehen soll? Bist du gegen mich?“
Beschwichtigend hob Else ihre Hände. „Ach was, Lottchen! Himmel, nein. Ich meine nur … gleich so ein Brief an den Verband … ach, was weiß ich!“
„Ja, was bitte?“, hakte sie zornig nach, aber Else Marie winkte nur ab.
„Ach, nichts, Lotti, eure ganzen Vereinszickereien interessieren mich eigentlich gar nicht.“
Und als Lotte eisern schwieg, zog sie sie am Arm zurück.
„Komm, lass uns nicht den schönen Moment verstreiten. Ich lade dich auf einen Sherry ein und du klärst mich ein wenig über deine Laban-Zeit in Hamburg auf.“ Else wusste genau, wie sie Lotte kriegen konnte, und Lieselotte ließ sich darauf ein, auch wenn sie genau wusste, dass Else sich mehr für die sommerlichen Eisboote auf der Alster als für den großen Rudolf interessierte.
Da lag das Buch auf ihrem Schoß. Freundinnen – Ein Roman unter Frauen. Erwin tagte noch immer, obwohl es draußen längst dunkelte, und Lieselotte vermochte es einfach nicht, das grüne, schmale Ding unbesehen in der Nachttischschublade verschwinden zu lassen. Minutenlang hockte sie schon auf der Bettkante. Gedankenverloren blätterte sie ein paar Seiten um, unschlüssig … und dann geschah es. An einem Satz blieb ihr Blick hängen. Aber es war in ihrem Blut …
Schwarz auf weiß stand es da, und Lotte wusste genau, was gemeint war. Fieberhaft blätterte sie zur ersten Seite zurück und langsam sank sie in ihr Kissen. Wie von selbst schoben sich ihre Füße unter die Decke. Lesend vergaß sie alles um sich herum. Sie las von den Sehnsüchten der siebzehnjährigen Eri, die der magischen Anziehung einer älteren Ruth verfallen war, las von dem unstillbaren Verlangen der Schauspielerin, der es mit Eri genauso erging, las von dem Wunsch, endlich beisammenzusein, der zum Scheitern verurteilt war. Die schreckliche Qual der beiden Frauen riss und zerrte an ihrer Seele, denn die zarte Liebe drohte zu scheitern, noch bevor sie begann. Die Furcht der beiden, geächtet zu werden, zersetzte unaufhaltsam ihre Zuneigung. Und als Erwin angetrunken und weit nach Mitternacht zurückkam, sich in voller Montur auf das Bett warf, las Lotte noch immer – bis zum Morgengrauen. Und alles, was sie gelesen hatte, war in ihr. In ihrem Blut. Das unselige Drama, das nicht in Aennes Tasche zurückgewollt hatte, dieses verfluchte Verhängnis von Eri und Ruth. Es war nicht zu bewältigen. Ihre Dämonen kehrten zurück, rüttelten und rissen an ihr. Sie zitterte sogar noch, als sie das Buch in die Schublade legte, das Licht löschte und mit kalten Fingern nach Erwins Hand griff – einer warmen, großen Männerhand, die ihren verzweifelten Druck nicht erwiderte. Sie würde diese Nacht nicht mehr einschlafen, sie konnte nur noch versuchen, die innere Wärme, die ihr abhandengekommen war, durch Erwins Hand zurückzugewinnen. Warum gerade sie? Ein falsches Herz im Körper. Losgerissen von allem, was richtig war. Ein Herz, das einen fremden Willen hatte. Was sollte sie anfangen damit? Unbändig wie ein junger Hund, wenn man die Leine nicht kurz genug hielt. Herztollheit war das. Es klopfte, hämmerte und pochte. Immer wieder versuchte Lotte ruhig und langsam zu atmen. Wenn ich diese Wut auf Berta bändigen kann, dann kann ich es auch mit der Liebe, sprach sie sich im Stillen zu, und auch wenn meine Neigung ein starkes Leiden ist, darf ich mich ihm nicht ergeben. Bislang habe ich doch jede Krankheit besiegt.
Sie atmete tief in den Unterbauch, und der Druck auf ihrer Brust ließ nach. Es würde schwer werden. Die beständige Wärme von Erwins Hand half ihr langsam zurück in eine Welt, die sie kannte. Sie wollte heimkehren dorthin, wo alles ruhig und richtig war.