Treff der wirklichen Freundinnen nur im Eldorado! Am Sonntag findet ein Fest der „Blütenpracht in Palermo“ statt und wir laden dazu bei zivilen Preisen ergebenst ein. Kommt ins Eldorado in die Gretchenstraße 42. Lotti u. Bubi. Die beliebte und originelle „Tine“ kellnert und sorgt für Stimmung.
Lotte war erwacht. Nicht, weil sie die verniedlichte Form ihres eigenen Namens in der Anzeige las, sondern weil ihr bewusst wurde, um welche Art von Treffen es sich da handelte. Als Backfisch hätte sie diese Einladung für harmlos gehalten, für ein heiteres Treffen zur Vergnügung von gelangweilten Hausfrauen, wie Almut eine war. Aber seit diesem grünen Buch, das ihr Aenne vor zwei Jahren untergeschoben hatte, war alles anders. Diese Welt war hinter einem fadenscheinigen Vorhang durchschaubar geworden. Sogar das schöne Wort Freundin hatte seine Arglosigkeit verloren. Was hätte Lotte nur dafür gegeben, in jener Ahnungslosigkeit zu leben, in der ihre Augen diese Anzeige noch vor ein paar Jahren studiert hätten.
So sehr sie Aenne mochte, so sehr ärgerte es sie, dass ihre Freundin die Zeitung wie rein zufällig bei ihr auf dem Küchentisch drapiert hatte. Mit einem Stift hatte sie sogar einen Kringel um die Annonce gezeichnet – ohne Worte während des gemeinsamen Bohnenkaffees, wie in Gedanken. Und jetzt, da sie weg war, erhielten die Kringel Bedeutung. Wasserkringel um einen Stein, den jemand in einen See geworfen hatte. Größer und größer wurden sie, schlugen kleine Wellen und zerstörten das stille Bild. Ihre Freundin tat das absichtlich. Bestimmt.
Seit Lotte ihr in der Roten Mühle zu verstehen gegeben hatte, dass die Fotografin sich in ihren Neigungen täuschte, verloren sie keine Worte mehr über das Thema. Aber Aenne hatte andere Wege gefunden, sich mitzuteilen. Sie sprach fortan in Bildern, in kleinen „Taten“ wie diesen; sie redete mit Blicken, mit vielsagendem Lächeln oder mit extra schnellem Abwenden. Und das Fatale war, Lotte verstand jede einzelne dieser Botschaften. Was Aenne dachte, aber nicht sagte, fand den Weg in ihre Seele umso treffsicherer.
Dieses Buch, dieses vermaledeite Buch! Nachdem sie damals den Deckel aufgeschlagen hatte, war sie hineingefallen wie durch eine Tür. Alice im Wunderland. Nur ohne Wunder. Was sie empfing, war Grauenland, Hexenland, Düsterland. Das Buch hatte sie unfreiwillig sehend gemacht, aber sie wollte nichts sehen. Nur ihr Blut wollte es.
Lotte zerknüllte die Seite mit der Anzeige, stopfte sie in den Ofen und zündete sie an. Mitten im Juli. Verbittert sah sie zu, wie die Flammen zupackten und kleine, braune Stellen wie dunkle Fingerabdrücke auf der Schrift hinterließen. Binnen weniger Sekunden vollendete die Glut ihr zerstörerisches Werk. Der Anblick ließ Lotte jedes Mal die Zeit vergessen. Sobald etwas loderte, brannte und fraß, fühlte sie sich lebendig. Einem Feuer zuzusehen rief immer Vergnügen hervor. Reine, archaische Freude. Und auch wenn sie wusste, dass Erwin sich heute Abend darüber aufregen würde, verbrannte sie schließlich die gesamte Zeitung. Die Freude an der Macht war stärker. Ihr Mann würde schon einen Tag ohne Nachrichten auskommen.
Lotte zuckte zusammen, als sie die Ofenklappe schloss. Es hatte geklopft. Hatte Aenne etwas vergessen? Lotte blickte sich um. Der Stuhl am Küchentisch und der Haken an der Garderobe waren leer. Nein, Aenne vergaß nie etwas.
„Lottchen? Bist du da?“ Eine weinerliche, fast bettelnde Stimme hinter der Tür verriet Else Marie. „Sei da! Bitte.“ Es klang erbarmungswürdig. Eilig ging Lotte zur Tür und öffnete. Da stand sie. Ausnahmsweise ohne sichtbare blaue oder rote Flecken im Gesicht, wie beim letzten Besuch vor drei Wochen. Es war ungewöhnlich für Else Marie, aber seit zweieinhalb Jahren hatte sie den Geliebten nicht gewechselt. Und sie opferte einiges für diese Treue. Noch immer war Else mit Arthur zusammen, der sich von einem freiheitsliebenden Gönner in einen jähzornigen Haudegen verwandelt hatte. Warum schickte sie ihn nicht endlich zum Teufel? Als würde sie Buße tun, seit dem unglücklichen Abend in der Roten Mühle, um zu beweisen, dass sie keinesfalls ein so loses Luder sei. Diesen Beweis zahlte Else mit blauen Flecken.
Für Lotte brauchte es dieses Bekenntnis nicht. Wie oft hatte sie Else schon beschworen, sich von Arthur zu lösen. Und genauso oft hatte Else ihr dann von der anderen Seite Arthurs vorgeschwärmt, die Lotte nie zu Gesicht bekam. Wie warmherzig er sei, wie sehr er sie liebe, wie oft er nach seinen Attacken mit rührenden Geschenken vor ihrer Tür stehe … Das letzte Mal mit einer gelben Rose aus Zelluloid zum Anstecken. Geweint hatte er sogar, zu ihren Füßen gelegen, und dann erklärte Else ihr, dass es gut für sie wäre, wenn jemand sie ab und zu mal zur Räson brächte, denn Arthur erlaubte ihr ja mehr als alle Liebhaber je zuvor, und, und, und … Es war die immer gleiche Leier. Lotte konnte sich nicht erklären, weshalb sie ausgerechnet an diesem Prügelknaben hing. So viel Bessere hatte es vor ihm gegeben. Es musste sich um einen geheimen Zwang handeln. Vermutlich lag ihr Grund ihrer Hörigkeit in ihrem Unterleib.
„Komm rein“, sagte Lotte und schloss die Tür hinter ihr. Else eilte in die Stube und ließ sich auf einen Stuhl fallen.
„Hier riecht es verbrannt“, stellte sie fest.
„Hat er dich wieder verprügelt?“, fragte Lotte, aber Else schüttelte den Kopf.
„Er ist weg.“
„Arthur?“, fragte Lotte, obwohl sie es an Elses Miene sah. Gleich würde sie in Tränen ausbrechen.
„Ausgewandert.“ Ihre Mundwinkel zitterten. „Amerika“, stieß Else hervor. „Er wollte schon im Februar raus. Hindenburg hat ihm gestunken, hat er gesagt. Aber ich hab’s nicht ernstgenommen.“
„Hindenburg?“, echote Lotte.
„Der Typ würde nicht lange fackeln und demnächst die Demokratie abschaffen, hat Arthur gesagt, aber ohne ihn. Da wäre er weg.“
„Sei froh“, erwiderte Lotte unvermittelt.
Mit einem Hundeblick sah Else zu ihr auf. „Kann ich grad nicht.“
„Dann wirst du es eben lernen.“
„Ich hab Angst, Lotte. Jetzt, wo er wirklich gegangen ist, wird es vielleicht wahr, verstehst du?“
„Was meinst du?“
„Dass es noch mehr Unruhen geben wird? Vielleicht sogar Straßenkriege?“
„Ach was. Dein Arthur will weg. Amerika hat ihn doch immer gereizt. Die Wigman ist übrigens auch gerade da. Aber die kommt zurück. Arthur hat vermutlich nur einen Grund gesucht und ihn endlich gefunden: Hindenburgs Geschwafel.“
„Meinst du?“
„Ja, meine ich.“
„Vielleicht wollte er mich auch nur loswerden, Lotte?“
„Hör jetzt auf damit!“
„Ich werde mich an keinen Mann mehr binden!“
„Warum das denn auf einmal?“
„Lass mal wirklich den nächsten Krieg kommen, sind sie plötzlich alle weg und dann muss man auf unbestimmte Zeit leiden.“
„Wo soll denn jetzt ein Krieg herkommen?“, fragte Lotte und lachte. Die verzweifelte Hysterie ihrer Freundin trieb wirklich paranoide Blüten. Und dass nun auch noch die große Weltpolitik für Elses Liebeskummer herhalten musste, war lächerlich, aber Else lamentierte weiter. „Krieg allein ist ja schon schlimm genug. Das weißt du doch besser als ich.“ Jetzt spielte sie auch noch auf ihren Vater an. Ärgerlich ignorierte sie es, aber Else redete sich in Rage. „Besetzung hier, Besetzung da! Und wenn dann noch dein Herz besetzt wird von einem, der nie wieder zurückkommt, dann kommst du gar nicht mehr auf die Füße.“
„Mag sein“, räumte Lotte ein. Vielleicht war es ja gut, wenn Else sich dieser Überzeugung hingab und mal eine Weile nur mit sich selbst auskommen musste. Lottes Zustimmung ließ sie verstummen. Betreten schaute sie sie an.
„Was ist denn jetzt schon wieder?“, erkundigte sich Lotte.
„Ach, Lotte, was red ich da! Ich will dir nicht auch noch deine Liebe mit Erwin schlechtreden.“
„Es kommt kein Krieg. Schluss jetzt.“
Betrübt schwieg Else. Lotte verstand sie nicht. Else war ihr fremd geworden. Selbst bei dem Gedanken, dass Erwin wirklich in einen Krieg ziehen müsste, verspürte sie keine große Furcht. Erstens machte sie sich kein Bild vom Tod, und zweitens stürzte der Gedanke an Erwins Abwesenheit sie nicht in haltlose Verzweiflung.
„Liebst du ihn denn überhaupt?“, fragte Else und schnäuzte sich.
Lotte runzelte die Stirn. „Was soll die dumme Fragerei?“ Else zog den Kopf ein und verstummte, aber insgeheim gab Lotte ihr recht. Sie hatte ihr Herz nie wirklich an Erwin gebunden. An keinen Mann. Der Einzige, den sie jemals mit Inbrunst geliebt hatte, war ihr Vater. Vielleicht schlug ihr Herz ja deshalb so falsch. Vielleicht war es aus dem Takt gebombt worden. Der große Krieg hatte so viel durcheinandergebracht. Plötzlich war Lotte Else sogar dankbar für die Erkenntnis. „Es ist gut so, wie es ist“, sagte sie tröstend und legte eine Hand auf die Schulter ihrer Freundin. „Vielleicht hast du ja sogar recht.“
Mit feuchten Augen starrte Else sie an. „So was hast du noch nie zu mir gesagt!“ Ungläubig schüttelte sie den Kopf. „Dass ausgerechnet du glaubst, dass ich recht habe. Wo kann ich mir das bitte hinschreiben? Ich möchte es in Stein meißeln lassen, mit Datum und Uhrzeit.“ Lotte musste lachen. Elses Gemütswandel von tief-bestürzt zu munter-fidel erheiterte sie jedes Mal. Ihre tränennasse Freude war ansteckend. „Ich werd’s in der Zeitung abdrucken lassen“, fuhr Else munter fort. „Die zehn Mark gönn ich mir! Und dann schneide ich mir die Anzeige aus und rahme sie golden ein!“
Da war es wieder, das Wort Anzeige. Lotte blickte zum Ofen. Die Blütenpracht von Palermo im Eldorado hatte sich dennoch in ihr Gedächtnis gebrannt, samt Datum, Uhrzeit und Adresse. Plötzlich kam ihr etwas Verrücktes in den Sinn.
„Weißt du was, Else?“, sagte sie heiter. „Wir gehen morgen aus. Lass uns die Männer für ein paar Stunden vergessen. Alle. Die toten, die verflossenen, die aktuellen und die zukünftigen.“
Überrascht jauchzte Else auf. „Was ist denn in dich gefahren, Lotti?“
„Die pure Vergnügungssucht“, erwiderte Lieselotte trocken.
„Wohin willst du mich entführen?“
„Zu Lotti und Bubi.“
Ihrer Freundin klappte der Kiefer herunter. „In die Gretchenstraße?“
„Und wenn?“
„Au fein!“, jubilierte sie. „Endlich, endlich wirst du vernünftig!“ Das Ganze war so absurd, dass Lotte herzlich lachen musste und sich den Rest des Tages nicht mehr fragte, welcher Teufel sie eigentlich geritten hatte. Etwas musste endlich passieren.